Der in Untersuchungshaft sitzende frühere Audi-Techniker Giovanni P. soll den Audi-Vorstand schwer belastet haben. In einem 28-seitigen Papier hat P. nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“, NDR und WDR eine Chronik des Abgasskandals aus seiner Sicht erstellt haben. In 44 Vorgängen, belegt mit Mails, Sitzungsprotokollen und Vorträgen, soll der Ingenieur beschreiben, wann der Audi-Vorstand über die illegalen Aktivitäten informiert wurde. Seine Anwälte sollen dem Bericht zufolge den Schriftsatz mit dem Titel „Dokumente über Kenntnisse der Vorgesetzten von Herrn P.“ an die Staatsanwaltschaft München II übergeben haben.
Wohl brisantester Inhalt der Chronik: Der gesamte Audi-Vorstand soll in mehreren Arbeitskreisen über die Adblue-Problematik informiert worden sein. Konkret genannt werden Termine am 1. April 2010 und am 11. Juni 2012. Bei der Gesprächsrunde im Juni 2012 sei dem Vorstand erklärt worden, dass für ein korrektes Funktionieren der Abgasnachbehandlung ein regelmäßiges Nachtanken von Adblue notwendig wäre. Passiert sei aber nichts. Erst am 25. Juli 2014 habe der Vorstand genehmigt, dass Autobesitzer künftig selbst die Harnstofflösung nachfüllen dürfen – und das auch nur bei neuen Modellen.
Doch selbst die Gespräche 2010 sollen nicht die ersten zu dem Thema gewesen sein. Bereits im Oktober 2006 soll demnach ein leitender Motorenentwickler mehrere Führungskräfte – auch den damaligen Audi- und späteren VW-Chef Martin Winterkorn – über das Grundproblem bei der Abgasnachbehandlung mit Adblue informiert haben. Nach dem Vortrag solle Winterkorn klar gewesen sein, dass die geplanten Adblue-Tanks viel zu klein seien, damit die Abgase effektiv von Stickoxiden gereinigt werden können.
Wie die Adblue-Technik funktioniert
Verbrennt Diesel in Motoren, entstehen Rußpartikel und Stickoxide. Die Partikel dringen in die Lunge ein und können Krebs verursachen, Stickoxide reizen die Schleimhäute der Atemwege und Augen und erhöhen das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Sie fördern zudem die Ozonbildung. Damit möglichst wenig der Schadstoffe in die Umwelt gelangt, werden in modernen Fahrzeugen die Abgase in zwei oder drei Stufen gereinigt – zumindest in der Theorie.
Ist die Verbrennungstemperatur im Motor hoch, entstehen wenig Partikel, aber viel Stickoxide. Bei niedrigen Temperaturen ist es umgekehrt.
Der erste Katalysator filtert rund 95 Prozent der Rußpartikel heraus.
Sensoren messen die Stickoxidkonzentration im Abgas. Die Kontrolleinheit spritzt entsprechend Adblue (Harnstofflösung) in den zweiten Katalysator.
Das Adblue reagiert im zweiten Katalysator – das Verfahren heißt selektive katalytische Reduktion (SCR) – zu harmlosem Wasser und Stickstoff. Mehr als 95 Prozent der Stickoxide werden so entfernt.
Nicht alle modernen Dieselfahrzeuge verfügen über die effektive, aber teure Adblue-Technik. Eine Alternative ist der NOx-Speicherkatalysator. Darin werden auf Edelmetallen wie Platin und Barium die Stickoxide gespeichert. In regelmäßigen Abständen wird der Speicherkatalysator freigebrannt, dabei werden die Stickoxide zu unvollständig verbrannten Kohlenwasserstoffen – und/oder Kohlenstoffmonoxid – weiter reduziert. Zum Teil werden auch SCR- und NOx-Speicherkatalysatoren kombiniert – wie etwa im BMW X5.
Der in Untersuchungshaft sitzende P. selbst will am 16. Oktober 2007 mehrere Audi-Führungskräfte vor einem Problem mit dem VW Touareg in den USA gewarnt haben. Der Touareg nutzt den bei Audi entwickelten 3,0-Liter-V6-Dieselmotor.
Auch der inzwischen entlassene Audi-Entwicklungsvorstand Stefan Knirsch wird in dem Papier namentlich genannt. Ihm sei am 11. Oktober 2013 eine schriftliche „Risikoeinschätzung“ über die Gesetzesverstöße in den USA geschickt worden – Knirsch saß damals noch nicht im Audi-Vorstand, war aber ein leitender Mitarbeiter in der Motorenentwicklung. Er soll es unterlassen haben, die Behörden über die Einschätzung der Audi-Techniker und -Juristen zu informieren. Die „SZ“ schreibt, dass in dem Papier weitere Spitzenmanager bei Audi und VW schwer belastet werden – nennt ihre Namen aber einstweilen nicht, um eventuelle Ermittlungen nicht zu gefährden.
Sollten die Informationen stimmen, erhöhen die Enthüllungen P.'s den Druck auf den Audi-Vorstand um Rupert Stadler weiter. Die Staatsanwaltschaft teilte auf Anfrage mit, die Vernehmungen von P. seien noch nicht abgeschlossen. Volkswagen erklärte der Zeitung: „Mit Verweis auf laufende Ermittlungen kommentieren wir die von Ihnen genannten Informationen nicht."