Autoland ausgebrannt? Die Autoindustrie im Doppel-Umbruch

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Autobranche findet sich in einer anders getakteten Normalität wieder

VW-Betriebsratsvize Daniela Cavallo erklärt: „Wir wollen maximal mobile Arbeit umsetzen. Wo das nicht möglich ist, werden Arbeitszeitmodelle angepasst.“ Gemeint ist etwa Mehrschichtbetrieb mit Gleitzeit auch im Büro. Neue Wege werden beschritten, die sonst kaum denkbar gewesen wären. Kollegen mit Medizinkenntnissen helfen zum Beispiel bei anhaltender Bezahlung in Heimen oder Kliniken mit.

Sicher: Die Pandemie wird die Autobranche kräftig erschüttern. Aber sie könnte auch ein heilsamer Schock sein, um viele Dinge künftig anders zu tun. „Das, was wir in den letzten Wochen hatten, kann nicht das Ziel sein“, meint Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der im VW-Aufsichtsratspräsidium über die Strategie des größten europäischen Industriekonzerns mitentscheidet. „Wir müssen zur Normalität zurückkehren.“ Es werde indes - wie in manch anderem Lebensbereich - eine Normalität „unter anderen Bedingungen“ sein.

Der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Sebastian Dullien, meint auch mit Blick auf die Autoindustrie: „Man muss sich überlegen, wo die Wirtschaft hin soll. Wenn ich jetzt Konjunkturprogramme auflege, nehme ich natürlich vorweg, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren verhalten wird.“ Ein „transformativer Charakter“ sei wünschenswert, um „den sozial-ökologischen Wandel mit anzugehen“. Heißt: den Schrecken von Covid-19 für eine Neuorientierung nutzen.

Corona als Beschleuniger oder Blockierer des Wandels?

Dabei wissen die Fahrzeughersteller - wie auch die Energiewirtschaft - seit langem, dass das jahrzehntealte Modell steten Wachstums mit konventioneller Technik keinen Bestand haben kann. Milliarden stecken sie, obgleich ziemlich spät, in Alternativantriebe wie E-, Hybrid- oder Brennstoffzellen-Motoren und Forschungen zu synthetischem Sprit.

von Martin Seiwert, Stefan Hajek, Benedikt Becker, Silke Wettach

Hinzu kommen Digitalisierung und Vernetzung, wobei die IT-Riesen aus den USA und Asien weiter übermächtig sind. Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer schätzt, dass die aktuellen Überkapazitäten wegen der Corona-Krise den Druck aus dem ohnehin schwierigen Strukturwandel nochmals erhöhen: „Wir gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren bis zu 100.000 Jobs in der deutschen Autoindustrie wegfallen.“

Ob es wirklich so arg kommt, ist nicht ausgemacht. So wirksam Corona als Beschleuniger des nötigen Umbaus sein könnte, so groß sind die Risiken. „Ein industrieweiter Wiederanlauf aus dem Stand ist Neuland für alle“, sagt Continental-Chef Elmar Degenhart. „Er wird gelingen, wenn alle Elemente der Lieferkette zugleich wieder ineinandergreifen und dabei die Sicherheit der Mitarbeiter gewährleistet ist.“

Bei dem nach Bosch weltweit zweitgrößten Autozulieferer steht die Produktion in vielen Werken rund um den Globus ebenfalls. Allein in der Bundesrepublik waren im April 30 000 Beschäftigte in Kurzarbeit, jetzt wird der Betrieb schrittweise hochgefahren. Ähnlich wie bei VW hat sich einiges in den Fabriken verändert: Plexiglaswände, versetzte Schichten, größere Sitzabstände im Pausenraum, Homeoffice wo möglich.

Aber auch hier gibt es neue Ansätze, beispielsweise in der digitalen Weiterbildung. Manche Kurse wurden in ein „virtuelles Klassenzimmer“ verlegt, mehr als 50 Beschäftigte legten online schon Prüfungen ab. „Die Mitarbeiter können sich während der Arbeitszeit bei vollem Lohn weiterqualifizieren“, berichtet Conti-Personalchefin Ariane Reinhart.

Abwracken und Umsteuern

Doch die Erwartungen, es möge demnächst vieles wie früher sein, sind hoch. „Deutschland ist ein Autoland“, so Diess. „Sobald wieder Autos gekauft werden, kommt die Wirtschaft zurück.“ Andererseits: Der laute Ruf nach Staatshilfe bringt die Konzerne bisher nicht dazu, ernsthaft an Managerboni oder Aktionärsdividenden zu rütteln. Und noch haben zumindest die Großen Milliarden in der Kasse, die sie eine Zeitlang ohne Steuergeld über Wasser halten können. Und sind neue Verbrenner geeignet, die Industrie auf den grünen Pfad zu führen? Bei der EU machen Hersteller jedenfalls Druck auf die Vorschriften zu CO2 und Flottenverbrauch, zumal der E-Auto-Absatz noch in Fahrt kommen muss.

Am Ende könnte das Auto gar - allen Krisenszenarien und kritischen Stimmen zum Trotz – ein Revival erleben. Angst vor Ansteckung in Bus und Bahn, der Boom der Lieferdienste: Solche Faktoren dürften den Individualverkehr womöglich zusätzlich beleben, ermittelte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Auch die Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung geben sich skeptisch: „Angesichts der begrenzten Kapazität würde eine „Abwrackprämie“ nicht die Gesamtproduktion sauberer Autos erhöhen, sondern den Fokus auf die Produktion konventioneller oder hybrider Autos verstärken - und damit nicht zu Investitionen in die Transformation beitragen.“

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