Volkswagen-Chef Diess sei gekommen, um zu bleiben, habe ich Anfang Juli geschrieben: Trotz der Probleme, die es bei Volkswagen gibt, sitze er ziemlich sicher im Sattel, weil es rund zwei Jahre, bevor er sowieso geht, keinen Sinn ergebe, ihn abzulösen und dadurch das Unternehmen auszubremsen. Zumal Diess den oft behäbigen Konzern ganz schön aufgemischt und strategisch klug ausgerichtet hat. Auch wollte der Clan der Porsches und Piëchs, der mehr als die Hälfte des Konzerns besitzt, Diess nicht loswerden. Und: Einer seiner Kronprinzen, Porsche-Chef Oliver Blume, wird bei dem im Herbst geplanten Porsche-Börsengang gebraucht, kann Diess also derzeit eigentlich nicht beerben.
Das ist alles richtig, auch heute – und doch ist Diess weg und Blume sein Nachfolger. Wie kann das sein? Tatsächlich ist Diess‘ Ablösung eine Belastung für den VW-Konzern. Es werde wohl ein Jahr dauern, sagte ein Insider gegenüber der WirtschaftsWoche, bis Blume in Wolfsburg alles nach seinen Wünschen umgebaut hat. Trotzdem wollen die Großaktionäre ohne Diess weitermachen, weil aus ihrer Sicht seine Defizite in der Führung der Mitarbeiter und in der Umsetzung seiner Strategien schlicht zu groß wurden. „Die Richtung vorgeben reicht nicht“, sagt der Insider, „man muss auch abliefern.“
Diess hat an vielen Stellen geliefert. Bei der Elektromobilität ist Volkswagen mit an der Weltspitze. Der Konzern steht nach Corona- und Chip-Krise mehr als solide da. Aber bei der Digitalisierung des Autos häuften sich zuletzt die Probleme. Bei einem Kapitalmarkttag anlässlich des Porsche-Börsengangs wurde in dieser Woche bekannt, dass der elektrische Porsche Macan wohl erst 2024 zu den Kunden rollen wird. Angepeilt war als Verkaufsstart ursprünglich mal die Automesse IAA im vergangenen Jahr.
Diese Herausforderungen warten auf den neuen VW-Chef
Die industrielle Logik hinter dem Börsengang einer Minderheitsbeteiligung an der profitabelsten großen Marke des VW-Konzerns ist solide. Der IPO könnte der größte aller Zeiten in Europa werden. Er muss ein Erfolg werden, um die niedrige Börsenbewertung von VW endlich zu steigern.
Doch neben Bedenken hinsichtlich der Führungsstruktur wächst die Befürchtung, dass Konjunkturrisiken, steigende Energiekosten und geopolitische Spannungen die Bewertung von Porsche belasten werden. Im Jahr 2019 verlief das Börsendebüt von VWs Lkw-Sparte Traton SE eher enttäuschend.
VWs Ambitionen, eine eigene Softwaresparte auf die Beine zu stellen, ähneln einer quälenden Odyssee aus Strategiewenden, Führungswechseln und Produktverzögerungen.
Tesla ist den Wolfsburgern weit voraus bei regelmäßigen „Over-the-Air“-Updates, die zusätzliche Funktionen bieten und die Leistung der Fahrzeuge verbessern. Und auch traditionelle Autobauer wie Toyota tun sich weniger schwer damit als VW. Die Nutzung der Möglichkeiten von Software, einschließlich der Erschließung neuer Einnahmequellen, ist eine der Herausforderungen für die Branche insgesamt.
VW hat zwar endlich aufgehört, in Amerika Geld zu verlieren, aber das Unternehmen ist noch weit davon entfernt, zu Toyota, General Motors Co. oder Ford Motor Co. aufzuschließen. Um mit diesen und mit Newcomern wie Rivian Automotive Inc. besser konkurrieren zu können, lässt VW die Geländewagenmarke Scout wieder aufleben, die einen elektrischen Pickup und ein robustes SUV anbieten wird.
Im Luxussegment versucht Audi seit langem, es auf globaler Ebene mit der Mercedes-Benz AG und der BMW AG aufzunehmen, hat aber keine Produktionsbasis in den USA.
VW hat auf seinem größten Markt Anteile verloren, weil es den Chipmangel schlecht in den Griff bekommen hat und es an den digitalen Funktionen mangelt, welche die technikaffinen chinesischen Kunden zunehmend erwarten.
Die neue Fabrik von Tesla in Shanghai ist nicht der einzige Stachel im Fleisch von VW. Auch Produkte lokaler Hersteller sind auf dem Vormarsch. VW kann es sich nicht leisten, dass die Gewinne aus den chinesischen Geschäften, die es zur Finanzierung seiner Elektro-Ambitionen braucht, schwinden.
Während VW in der Chip-Krise damit kämpfte, Produktionslinien am Laufen zu halten, konnte der US-Elektroautohersteller trotz der Turbulenzen in der Lieferkette ein stetiges Wachstum verzeichnen.
Nachdem CEO Elon Musk sein Werk in Schanghai in kürzester Zeit zum weltweit leistungsfähigsten gemacht hat, hat er weitere Fabriken im texanischen Austin und in Grünheide bei Berlin eröffnet. Die flotte Expansion von Tesla macht VWs Elektroauto-Projekt Trinity, zu dem auch ein 2-Milliarden-Euro-Werk in Deutschland gehört, umso entscheidender.
Gleich nach seiner Ernennung entschuldigte sich Blume für Äußerungen, die er während einer internen Veranstaltung im vergangenen Monat über Finanzminister Christian Lindner gemacht hatte.
Blume hatte damit geprahlt, dass er regelmäßig mit Lindner in Kontakt war, als die Ampelkoalition einen Kompromiss zum Thema synthetische Kraftstoffe aushandelte. Blume entschuldigte sich am Wochenende und sagte, er habe den Austausch vereinfacht dargestellt und nicht versucht, Lindner zu beeinflussen.
Grund für das Desaster: Die VW-Softwaretochter Cariad kriegt die Software nicht fertig. Unrühmlich ist hier auch die Rolle von Audi, denn die VW-Tochter sollte Porsche die Technik zusammen mit Cariad zuliefern. „Zweieinhalb Jahre Verspätung“, heißt es im Umfeld eines Großaktionärs, „da kommen die Eigentümer dann schon ins Grübeln.“
Die Software-Probleme sind nicht neu. Diess hatte vom Aufsichtsrat letzten Sommer nochmal eine Gnadenfrist von einem Jahr bekommen, um sie zu lösen – und er versprach, sich persönlich darum zu kümmern. Anfang Juli verkündete er, es gebe eine Lösung: Mit einer jährlichen Investition von einer halben Milliarde Euro und einer anderen Aufgabenverteilung zwischen VW, Audi und Porsche wollte er die Softwareentwicklung in die Spur bringen. In einer ganzen Serie von Interviews versuchte Diess in den vergangenen Wochen, die Botschaft unters Volk zu bringen, dass jetzt alles rund laufe im Konzern. Doch der Aufsichtsrat war wenig amüsiert, wollte Fakten und Zahlen sehen – nicht Interviews. Und die Zahlen konnten die Kontrolleure nicht überzeugen. Diess bekam kein grünes Licht für seine Cariad-Sanierung – nicht im ersten Anlauf vor zwei Wochen und in der Sitzung diese Woche ebenso wenig. So endete sein Weg in Wolfsburg.
Der Aufsichtsrat wolle es jetzt mit dem „Gegenentwurf zu Diess“ versuchen, beschreibt es ein Konzerninsider. Statt wie Diess sich ständig in „zerstörerische Konflikte mit dem Betriebsrat zu stürzen“, werde Blume viel ruhiger agieren, Betriebsräte und Mitarbeiter besser einbinden. Statt wie Diess die Fehler immer bei anderen zu suchen, werde er eher Verantwortung übernehmen. Mit Blume werde ein neuer, moderner, vermittelnder Stil in Wolfsburg Einzug halten – Diess sei ja doch eher ein Manager vom alten Schlag. Mancher Mitarbeiter habe gesagt, unter Diess gehe es fast so diktatorisch zu wie unter seinem Vorgänger Martin Winterkorn. Das allerdings, ist doch sehr zugespitzt. Diess ist nicht bequem, nie zufrieden, immer im Kampfmodus. Aber was ist eigentlich so schlecht an unbequem?
Allerdings hat Blume gerade mit etwas ganz anderem alle Hände voll zu tun: Er soll den Börsengang der Porsche AG im Herbst glatt über die Bühne bringen. Das Projekt soll viele Milliarden einbringen und den Volkswagen-Konzern enorm aufwerten – da darf nichts schief gehen. Deshalb soll er auch gar keine Ambitionen für die Diess-Nachfolge gehabt haben. Die Tatsache, dass der Aufsichtsrat ihm den Job dennoch aufhalst, zeigt, dass die Großaktionäre wohl selbst von der Entwicklung überrascht wurden.
Sie haben gerade keinen anderen, was nicht despektierlich gemeint ist. Blume wäre eine gute Wahl gewesen – ein, zwei Jahre nach einem erfolgreichen Porsche-Börsengang. Aber so glänzt Volkswagen wieder mit dem, für was der Konzern weltbekannt ist: Tumult, Machtkämpfe und großes Drama.
Lesen Sie auch: Wie tickt der künftige VW-Vorstandschef Oliver Blume?