Daimler „Eine Kultur der Rechtlosigkeit etabliert“

Dir Firmenkultur im Umgang mit Führungskräften sei bei Daimler zu einem Kulturdesaster verkommen, sagt der Rechtsanwalt Stefan Nägele. Quelle: dpa Picture-Alliance

Anwalt Stefan Nägele vertritt seit vielen Jahren Führungskräfte auch von Daimler. Wer ihn einschaltet, hat Ärger mit dem Unternehmen. Das hat sein Bild geprägt: Bei dem Autobauer habe es einen „schleichenden Kulturwandel“ vor allem im Umgang mit Führungskräften gegeben, der zu einem „Kulturdesaster“ verkommen sei, sagt er. In keinem Unternehmen kenne er „eine solche die Rechtsordnung umgehende Struktur“. Daimler sieht das anders.

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Bei Daimler läuft ein umfangreiches Sparprogramm – und tausende Mitarbeiter sollen von der Gehaltsliste verschwinden. Offiziell sollen sie freiwillig gehen – doch viele fühlen sich aus dem Unternehmen gedrängt. Zur Gruppe der Nicht-Mehr-Erwünschten zählen auch  viele Führungskräfte. Eine umstrittene Rolle spielt das sogenannte JobForum. Eigentlich soll diese interne Plattform Beschäftigte, deren Tätigkeiten entfallen, auf andere Stellen im Konzern vermitteln. Doch Betroffene haben den Eindruck, dass sie so zum Ausstieg „motiviert“ werden sollen – etwa indem ihnen neue, nicht ihrer Qualifikation entsprechende „Projektaufgaben“ übertragen werden. 

Einige von denen, die sich ungerecht behandelt fühlen, suchen den Rat eines mitunter ungemütlichen Stuttgarter Arbeitsrechtlers: Stefan Nägele. Der 65-Jährige hat Dutzende Prozesse gegen Daimler geführt, einige seiner Mandanten musste Daimler nach einer Kündigung weiter beschäftigen. Er stritt mit dem Autobauer um Werkverträge, um die Frage, wann jemand in Rente gehen muss und um die interne Einstufung. Aus seiner Sicht ist das JobForum nur die Spitze eines Eisbergs. Denn bei Daimler habe es einen „schleichenden Kulturwandel“ vor allem im Umgang mit Führungskräften gegeben, der zu einem „Kulturdesaster“ verkommen sei, meint er. 

Nägele, dessen Kanzlei auch Mitarbeiter von Siemens, Porsche, Audi, BMW oder Bosch vertritt, meint: „In keinem dieser Unternehmen gibt es eine solche, die Rechtsordnung umgehende Struktur, wie wir sie im Hause Daimler feststellen.“ Den Vorwurf der Rechtswidrigkeit weist Daimler „entschieden zurück. Er entbehrt jeglicher Grundlage.“ Daimler halte sich „konsequent an rechtliche Vorgaben und die geltenden Gesetze“.

Nägele sieht das anders – und führt im Interview mit der WirtschaftsWoche auch Beispiele an. Was Daimler und der Betriebsrat zu den Vorwürfen sagen, lesen Sie am Ende des Interviews.

Stefan Nägele, Anwalt für Arbeitsrecht, vertritt regelmäßig Führungskräft von Daimler. Quelle: Presse

Herr Nägele, Sie haben eine Kanzlei für Arbeitsrecht in Stuttgart und Sie vertreten Unternehmen, Vorstände, Aufsichtsräte, Geschäftsführer und Führungskräfte. Bezüglich Daimler sprechen Sie von einem „schleichenden Kulturwandel“, der zu einem „Kulturdesaster“ verkommen sei. Was meinen Sie damit? 
Nägele: Daimler hat seine Führungskräfte zu Lemmingen erzogen. Das Unternehmen missbilligt jede Art von Widerspruch. Schnell wird man als nicht mehr zugehörig eingestuft und entsprechend behandelt. Das ist dann schlimmer als in jedem Ehekrach. Vor allem aber ignoriert Daimler im Verhältnis zu seinen Führungskräften unsere Rechtsordnung. 

Welche Beispiele haben Sie dafür? 
Nägele: Der Ursprung liegt lange zurück. Schon im Dezember 2001 gab es bei Daimler eine Verabredung zwischen dem Unternehmen und dem Betriebsrat, wonach Mitarbeiter der Führungsebene 3 oder höher als leitende Angestellte behandelt werden sollten. 

Zu der Ebene 3 zählen Senior Manager und Abteilungsleiter… 
Nägele: Genau. Doch schon laut Betriebsverfassungsgesetz ist nur derjenige leitender Angestellte, der zum Beispiel dazu berechtigt ist, selbständig Mitarbeiter einzustellen oder zu entlassen, oder dem Prokura erteilt ist. Das trifft auf Mitarbeiter der Ebene 3 ganz überwiegend nicht zu. Vorteil der Vereinbarung für Daimler: Für leitende Angestellte gelten die Vereinbarungen zwischen dem Unternehmen und dem Betriebsrat nicht, zum Beispiel die Standort- und Beschäftigungssicherungsgarantie bis Ende 2029. Auch die Höchstarbeitszeiten, wie sie im Arbeitszeitgesetz festgeschrieben sind, sind nicht zu beachten. Auch auf der Vergütungsseite sind die leitenden Angestellten einer willkürlichen Entgeltpolitik des Unternehmens ausgeliefert. 

Was bedeutet die Vereinbarung mit dem Betriebsrat? 
Nägele: Diese Mitarbeiter dürfen nicht an der Wahl des Betriebsrates teilnehmen und werden auch nicht vom Betriebsrat vertreten, obwohl der für sie zuständig wäre. Dass der Betriebsrat diese Politik mitträgt, ist der eigentliche Skandal. Die Betriebsräte wissen um das Problem und lassen die Führungskräfte im Regen stehen. Damit wird es Daimler leicht gemacht, diesen Mitarbeitern Sand in die Augen zu streuen und glauben zu machen, dass man sie einfach kündigen könne. Dabei ist die Vereinbarung mit dem Betriebsrat rechtlich nicht haltbar, auch nicht die standardmäßigen Mitteilungen an die Führungskräfte, sie seien leitende Angestellte.

Wie können Sie das belegen? 
Nägele: In Prozessen, die ich gegen Daimler führte – und das war eine signifikante Anzahl – haben die Gerichte regelmäßig geurteilt, dass Mitarbeiter der Ebene 3 keine leitenden Angestellten sind. Und die meisten E2er, also diejenigen zwei Ebenen unterhalb des Vorstandes, auch nicht. Trotz der zahlreichen Gerichtsentscheidungen behandelt Daimler Mitarbeiter der Ebene 3 bis heute als leitende Angestellte. Und bis heute trägt Daimler das vor Gericht auch immer wieder so vor, und beruft sich darauf, dass E3er leitende Angestellte seien. Das Unternehmen Daimler akzeptiert die eindeutige Rechtslage nicht. 

Haben Sie noch ein weiteres Beispiel? 
Nägele: Ja. Bei Daimler wurde vor zig Jahren einmal eingeführt, dass alle Führungskräfte mit 60 Jahren aus dem Unternehmen ausscheiden müssen. Das wurde dann auch so vertraglich fixiert. Doch mit 60 Jahren können die Wenigsten schon eine ungekürzte Altersrente in Anspruch nehmen. Also urteilte das Bundesarbeitsgericht im Januar 2017, dass die Regel rechtswidrig sei, da sie altersdiskriminierend ist. Dann entwickelte Daimler das System weiter – Mitarbeiter sollen jetzt mit 63 Jahren ausscheiden. Doch diese neue Regelung ist aus identischen Gründen unwirksam. Sie wäre nur dann gültig, wenn der Abschied zu dem Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Mitarbeiter seine ungekürzte Rente beziehen kann, also aktuell im Alter von 67. In Kenntnis der Rechtsprechung hat Daimler also erneut ein rechtswidriges System geschaffen und beharrt auf dieser Regelung. Die Mitarbeiter müssen laufend ihr Recht, bis 67 arbeiten zu dürfen, einklagen. Daimler rechnet auch seine Frühverrentungsmodelle mit dem Rentenalter 63.

Sie vertreten doch auch Mitarbeiter von Siemens, Porsche, Audi, BMW oder Bosch – wie sieht es dort aus? 
Nägele: In keinem Unternehmen, aus dem wir Mitarbeiter vertreten, stellen wir als Kanzlei vergleichbare Verhältnisse fest. In keinem dieser Unternehmen gibt es eine solche, die Rechtsordnung umgehende Struktur, wie wir sie im Hause Daimler feststellen. 

Wann ist aus Ihrer Sicht die Stimmung bei Daimler gekippt? 
Nägele: Bis zum Jahr 2006 waren die Streitigkeiten mit dem Unternehmen unauffällig. So, wie sie in jedem Unternehmen vorkommen. Doch dann hat es sich schlagartig verändert. Damals wurde das Neue Management Modell eingeführt. 1000 Führungskräfte sollten das Unternehmen verlassen.

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