Vadim Sorokin hat allen Grund zur Freude. In den vergangenen drei Jahren ist der russische Automarkt eingebrochen, sein Unternehmen, die GAZ-Gruppe, hat aber massiv Marktanteile gewonnen. Jeder zweite leichte Lkw in Russland kommt von GAZ. Bei den kleinen Bussen, wie sie in Russland weit verbreitet sind, stammen sogar neun von zehn vom größten Nutzfahrzeughersteller des Landes. In Wolfsburg, Stuttgart oder München träumt man nur von solchen Marktanteilen.
„Heute ist der russische Markt in einigen Segmenten sogar zu klein für uns“, sagt Sorokin. In seinen Worten schwingt jede Menge stolz mit, als er einer kleinen Gruppe deutscher Journalisten seine Fahrzeuge vor der Unternehmenszentrale in Nischnij Nowgorod, etwa 500 Kilometer östlich von Moskau gelegen, präsentiert. Der Stolz scheint berechtigt, denn zuletzt gab es auf dem russischen Automarkt mehr Verlierer als Gewinner.
Die stärksten Marken auf Russlands Automarkt
Mit 456.309 verkauften Fahrzeugen ist Lada die stärkste Marke auf dem russischen Markt mit einem Anteil von über 20 Prozent. Die Marke des Herstellers AvtoVaz verliert allerdings seit Jahren an Bedeutung. Im Vergleich zu 2012 wurden 2013 gut 15 Prozent weniger Ladas verkauft.
Renault-Nissan hält über direkte und indirekte Beteiligungen fast 50 Prozent an Russlands größtem Autobauer AvtoVaz (Lada). Renault verkaufte im vergangenen Jahr 210.099 Modelle in Russland (+11%) und ist damit mit einem Marktanteil von gut 8 Prozent die zweitstärkste Marke. Durch seine enge Verflechtung mit dem Lada-Hersteller hat Renault einen sehr hohen Anteil von lokalen Zulieferern. Die so genannte Sourcing-Quote liegt bei 80 Prozent.
Die Koreaner haben derzeit rund 7 Prozent Marktanteil mit 198.018 verkauften Modellen. Sechs Prozent mehr als im Vorjahr.
Die Schwester-Marke von Kia kann sich ebenfalls gut behaupten. Sie verkaufte 1881.153 Autos in Russland – vier Prozent mehr als 2012.
Auch die Amerikaner machen in Russland gute Geschäfte - noch. Die Schwester-Marke von Opel verkaufte 2013 genau 174.649 Autos. 15 Prozent weniger als 2012. Mutterkonzern General-Motors hat entschieden, dass Chevrolet in Europa nur noch bis 2016 verkauft wird, dann soll Opel die Märkte übernehmen.
Noch 2012 wurden in dem Riesen-Land 2,72 Millionen Neuwagen verkauft. Russland war auf dem besten Weg, Deutschland beim Autoabsatz zu überholen – Märkte mit hohen Wachstumsraten sind in Europa rar. Doch dann brach der Markt ein – die Krim-Krise und die folgenden Sanktionen verschärften die Situation. Für das laufende Jahr rechnet das Analysehaus IHS Automotive mit gerade einmal 1,51 Millionen verkauften Neuwagen. Erst 2023 wird der russische Automarkt laut der Prognose wieder das Vor-Krisen-Niveau erreichen.
Deutsche Autobauer haben Milliarden investiert
„Die russische Wirtschaft ist in keinem guten Zustand, wegen der ausbleibenden Investitionen und der desaströsen Rubel-Entwicklung bleibt es ein schwieriges Umfeld“, sagt IHS-Analyst Tim Urquhart. „Der Markt hat aber nach wie vor ein riesiges Potenzial.“
Das wollen auch BMW, Daimler, VW und Co nutzen. Ausländische Autobauer haben seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts rund fünf Milliarden US-Dollar in den Aufbau lokaler Fertigungsstrukturen investiert. Die russische Regierung förderte die Entwicklung, indem sie die Importzölle für Autos nach oben schraubte und diejenigen für Teile senkte. So lohnt sich nur noch der Import von margenträchtigen Luxuskarossen, Modelle für den Massenmarkt sollen nach dem Kalkül der Regierung vor Ort gefertigt werden.
Allein Volkswagen steckte zwischen 2006 und 2013 nach eigenen Angaben rund 1,3 Milliarden Euro in die lokale Produktion und in neue Modelle für Russland. Inzwischen ist am Standort Kaluga, wo VW bereits eine Autofabrik betreibt, für eine weitere Milliarde noch ein Motorenwerk hinzugekommen.
Ein Teil der VW-Motoren aus Kaluga wird zu GAZ nach Nischnij Nowgorod geliefert. Nicht etwa, um in die Transporter und Kastenwägen eingebaut zu werden. Im 1932 eröffneten Werk fertigen die Russen auch im Auftrag von Volkswagen den VW Jetta, den Skoda Octavia und den Skoda Yeti für den lokalen Markt. In einem anderen Gebäude wird für Daimler der Mercedes-Benz Sprinter Classic gebaut.
Das weitläufige Gelände mit seinen unzähligen, alten Backsteinbauten mag unscheinbar wirken – an einigen Gebäuden sind Scheiben zerbrochen, die mehr als einmal lackierten Geländer um die Grünflächen mit Sowjetstern erinnern an die Zeiten, als das Werk entstand. Doch der Eindruck täuscht – im Inneren der äußerlich maroden Hallen befindet sich ein modernes Autowerk. Bei dem Anblick der Maschinen wähnt man sich in einer deutschen Fabrik. Wo etwa früher ein Presswerk Stahlteile für sowjetische Lkws formte, steht heute eine hochmoderne Lackieranlage made in Germany. Die Eisenmann-Anlage wurde eigens für den Daimler-Auftrag angeschafft.
Russland fehlen die Zulieferer
Nicht nur mit dem Lack ist Eike Winges, Leiter des Mercedes-Teils des Werks in Nischnij Nowgorod, zufrieden. „Wir garantieren für die Mercedes-Qualität unserer Fahrzeuge. Es gibt keinen Qualitätsunterschied zwischen einem Sprinter, der in Deutschland gefertigt wird, und unserem Produkt“, sagt Winges. „Um das sicherzustellen arbeiten wir eng mit GAZ zusammen, denn wegen der lokalen Zulieferer ist es nicht ganz einfach, hier zu produzieren.“
Damit spricht Winges eines der Hauptprobleme der russischen Wirtschaft an. Russland ist ein Land der Rohstoffe, aber nicht der verarbeitenden Industrie. In Sowjetzeiten haben Staatsunternehmen fast alles selbst hergestellt – eine Zulieferer-Industrie mit kleinen, spezialisierten Unternehmen ist aber nie entstanden. Das muss heute nachgeholt werden: Zum Teil bringen die ausländischen Autobauer ihre angestammten Zulieferer mit, zum anderen entdecken zunehmend russische Unternehmen das Komponentengeschäft für sich.
Auch GAZ arbeitet daran, Kunden wie Daimler und VW bei der Lokalisierung zu unterstützen. Auf dem Werksgelände werden Auspuffanlagen, Bolzen und für VW auch Achsen gebaut. Derzeit arbeiten Winges und seine Kollegen daran, künftig auch eine Vorderachse aus russischer Produktion in den Sprinter einzubauen. Während Volkswagen seine Motoren in Kaluga selbst fertigt, baut Daimler auch hier auf die Unterstützung des russischen Partners. In dem Motorenwerk Jaroslawl montiert GAZ neben den eigenen Dieselaggregaten auch den OM646-Motor für Mercedes.
Daimler und VW haben noch Luft nach oben
Die Auftragsfertigung ist ein weiteres Standbein für GAZ geworden, um die Auslastung der insgesamt 13 Werke mit 44.000 Mitarbeitern zu erhöhen. Das Hauptgeschäft bleiben die Transporter, Lkws und Busse. Hier hat GAZ in den vergangenen fünf Jahren fast 36 Milliarden Rubel – nach aktuellem Kurs etwa 500 Millionen Euro – in neue Technologien und Produktionsanlagen investiert. Über die Beteiligungsgesellschaft Russian Machines gehört GAZ zu Basic Element – einem der größten russischen Mischkonzerne.
Seit 2011 leitet der ehemalige Magna- und General Motors-Manager Manfred Eibeck die Geschäfte von Russian Machines. Von dem plötzlichen Rückzug seines ehemaligen Arbeitgebers aus dem russischen Markt war auch Eibeck in seiner neuen Funktion betroffen: In Nischnij Nowgorod baute GAZ für die GM-Marke Chevrolet den Kleinwagen Aveo.
GAZ will keine Autos bauen
„Sie haben Russland sehr schnell verlassen. Ihr Verhalten gegenüber GAZ war korrekt, aber es war nicht der beste Weg, um Geschäfte zu machen“, sagt Eibeck. „GM war nicht ausreichend lokalisiert, sie mussten alles aus Südkorea importieren. So wurden der Transport und die gesamte Produktion sehr kostspielig.“
Die Gefahr einer zu niedrigen Lokalisierung sieht IHS-Analyst Urquhart bei Volkswagen und Daimler nicht – auch wenn die Deutschen im Verbund mit GAZ nicht an Nissan herankommen, die in Russland fast eine vollständige Produktion aufgebaut haben.
Bei der aktuellen Marktschwäche hilft das Nissan aber nur bedingt. „Von dem Absatzeinbruch sind europäische und asiatische Marken gleichermaßen betroffen, große Unterschiede wegen der politischen Sanktionen gibt es nicht“, sagt Urquhart. „Einzig Hyundai kann sich ein wenig vom Gesamttrend abheben, da sie derzeit einen guten Modellmix in Russland anbieten.“
Sollte der Markt wieder anziehen, haben sowohl Daimler als auch VW noch Luft nach oben. Die Volkswagen-Auftragsfertigung in Nischnij Nowgorod ist auf 100.000 Autos pro Jahr ausgelegt, derzeit werden aber nur rund 40.000 Fahrzeuge gebaut. Auch Mercedes hat noch Kapazitäten. „Wir könnten mehr Autos bauen, bis zu 100 Stück am Tag“, sagt Werksleiter Winges. „Wegen der aktuellen Marktsituation fertigen wir derzeit nur 20 Sprinter pro Tag, aber wir wollen bald auf 40 Fahrzeuge aufrüsten.“
Konkurrenz vom Partner GAZ haben die deutschen Autobauer keine zu fürchten. Obwohl in dem Werk einst die berühmten Funktionärslimousinen Wolga sowie einige Luxuslimousinen für die Parteispitze vom Band liefen, will Vadim Sorokin heute keine Autos mehr bauen. „Im Moment werden 421 unterschiedliche Automodelle in Russland verkauft“, sagt der GAZ-Chef. „Wir haben keine Pläne, Nummer 422 zu werden.“
Trotz der aktuellen Schwierigkeiten glaubt nicht nur Urquhart an Russlands Potenzial für die deutschen Autobauer. „Ich bin optimistisch, dass es sich langfristig als richtig erweist“, sagt ein ehemaliger Manager des VW-Werks in Kaluga, der nicht genannt werden will. „Um den Erfolg zu bewerten kommt es auf den Zeithorizont an, den man betrachtet. Hätte man 1987 gefragt, ob das VW-Engagement in China richtig war, hätte man eine ganz andere Antwort bekommen als heute.“