„Die größten Herausforderungen in der Geschichte“ Wie hart trifft die Krise die Autobranche wirklich?

Nur einer von vielen betroffenen Konzernen: der Autobauer VW. Quelle: dpa

In deutschen Unternehmen grassiert seit dem Shutdown Unsicherheit, wie es weitergeht. Auch die Autobranche ist im Coronaschlaf. Nun hoffen Hersteller, Händler und Zulieferer auf einen schnellen Exit. Ist das realistisch?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

„Das sind extrem hohe Zahlen und kein Vergleich zu dem, was wir in der Finanzkrise gesehen haben“, sagt Matthias Tauber, Deutschland-Chef der Boston Consulting Group (BCG). Er hat in den vergangenen Wochen mit vielen Geschäftsführern aus diversen Branchen gesprochen und Anfang März eine internationale Umfrage gestartet, um die Stimmung in großen und kleinen Unternehmen einzufangen.

Tatsächlich sind die Ergebnisse alarmierend: 90 Prozent der Unternehmen erwarten eine Rezession. Fast zwei Drittel bereiten sich bereits darauf vor, die Übrigen wollen bald nachziehen. Laut Tauber stehen dabei das Cash-Management und Investitionen im Fokus der Firmen.

Denn mehr als die Hälfte der Befragten erwarten, dass die wirtschaftlichen Folgen des Virus länger als sechs Monate andauern werden. „Das hat sich erst letzte Woche herauskristallisiert, lange Zeit dachte das nur ein Drittel“, sagt Tauber. Sollte der Lockdown länger als drei Monate dauern, gab jedes dritte Unternehmen an, diese Zeit nicht ohne Liquiditätsprobleme überstehen zu können. Jedes zweite will finanzielle Hilfen beantragen. „Diese Krise ist anders als die Krisen zuvor, weil sie sich in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit entwickelt und sie die Beteiligten sehr stark verunsichert“, fasst Tauber zusammen. „Wir sehen aber auch, dass der Diskurs sich auf die Frage dreht, wie und wann der Exit in den Unternehmen angegangen werden kann“.

Der Autobranche steht eine Durststrecke bevor

Aktuell versuchen Experten und Konzerne, die drohenden Schäden zu quantifizieren. Die Automobilbranche, Deutschlands umsatzstärkster Industriesektor, an dem etliche Zulieferer und Arbeitsplätze hängen, hat die Krise mit voller Wucht getroffen. Laut dem Center of Automotive Management (CAM), einem Institut für empirische Automobil- und Mobilitätsforschung in Bergisch-Gladbach, sind die Neuzulassungen in China im Februar um 80 Prozent und in der ersten Märzhälfte um 50 Prozent gesunken. Während dort seitdem Zeichen einer leichten Belebung sichtbar würden, erwartet CAM-Direktor Stefan Bratzel den Höhepunkt des Nachfragerückgangs in Europa im März und April. Für März rechnen die Experten des Instituts mit Absatzrückgängen um rund 65 Prozent, in der USA seien es 39 Prozent gewesen. Der stärkste Markteinbruch stehe den USA wegen der erst vor Kurzem eingeleiteten Ausgangsbeschränkungen im April bevor.

„Insgesamt stellt die Coronakrise die Automobilwirtschaft in Deutschland vor die in ihrer Geschichte bislang größten Herausforderungen“, sagt Bratzel mit Blick auf seine neue Studie, laut der dem globalen Automarkt für 2020 ein Einbruch um 17 Prozent bevorsteht. Weltweit würden somit etwa 15 Millionen Autos weniger verkauft als 2019. Der europäische Markt sei mit einem Rückgang von 21 Prozent voraussichtlich stärker betroffen als die beiden anderen wichtigen Automobilmärkte: Für die USA erwartet Bratzel einen Rückgang von 17 Prozent, in China von zehn Prozent.

Die CAM-Experten beziehen sich dabei auf ein Basis-Szenario, in dem die Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf sechs bis acht Wochen begrenzt bleiben und die Automobilnachfrage durch staatliche Anreizprogramme und Fördermaßnahmen angeregt wird. Sollten diese Annahmen nicht zutreffen, sei jedoch mit einem deutlich höheren Nachfragerückgang zu rechnen.

Die Boston Consulting Group sieht zwei mögliche Szenarien für die Zukunft der Automobilindustrie. Das optimistischere kommt mit einem erwarteten weltweiten Rückgang um 16 Prozent für 2020 und um vier Prozent für 2021 zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Studie des CAM. „Dieses Szenario geht von einer längeren V-förmigen Krise in allen Weltregionen aus“, erklärt Nikolaus Lang, Leiter der BCG-Praxisgruppe Global Advantage. In China zeige sich beispielsweise an Kohleverbrauch, Immobilientransaktionen und Staus, dass Teile des täglichen Lebens sich durchaus innerhalb eines Monats wieder auf Vorkrisenniveau entwickeln könnten und somit eine V-förmige Entwicklung möglich sei.

Allerdings sei China sehr konsequent und strukturiert gegen die Pandemie vorgegangen, befindet Lang. Die chinesische Produktion ist zudem sehr inlandsfokussiert, während andernorts gerade in der Automobilindustrie bis zu 20 Länder in die Produktionsketten involviert seien. Neben dem Produktions- und Nachfragestopp würden daher unterbrochene Lieferketten die Krise in Europa und den USA in die Länge ziehen.

Deshalb hält die BCG neben dem Szenario einer längeren V-Krise in allen Weltregionen auch ein pessimistischeres für wahrscheinlich: Darin gleicht der Krisenverlauf nur in China einem V, während Europa und den USA ein längeres U bevorsteht. In diesem Szenario rechnet die BCG damit, dass die Nachfrage 2020 um 23 Prozent und 2021 um 6 Prozent einbrechen könnte. „Die Frage, ob es eine tiefe V-Krise oder eine längere U-Krise wird, kann man nicht mit Sicherheit beantworten“, sagt Lang. „Aber das ist die Bandbreite, in der wir uns bewegen.“

So könnte der Exit aussehen

Um die Zukunft der Autoindustrie zu sichern, ist es laut CAM-Chef Bratzel wichtig, die systemrelevanten Akteure zu schützen. Dazu zählten neben den Herstellern auch Zulieferer und Händler. Den Absatzmarkt zu sichern, hält Bratzel für noch relevanter: „Die Stimulierung der Automobilnachfrage wird in den kommenden Wochen das Kernproblem sein.“

Auch er beobachtet durch die verschärften ökonomischen Rahmenbedingungen eine große Unsicherheit, die zu Zurückhaltung bei teuren Anschaffungen wie Autos führe. Um die Wertschöpfungskette zu stabilisieren, seien starke Kaufanreize notwendig.

Ein effektiver Anreiz dürfte wohl die Rückkehr zur Normalität sein. Wann und wie ein Exit möglich ist, hat Alexander Türpitz analysiert, der europäische Leiter der Praxisgruppe „Public Sector“ bei BCG. Sein Modell, das unter anderem auf vorherigen Erfahrungen mit dem Ausbruch der Krankheiten MERS und Ebola basiert, legt nahe, dass die derzeitigen Maßnahmen noch einige Wochen fortbestehen sollten.

„Um die Maßnahmen zu lockern müssen bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt werden“, warnt Türpitz. Dazu zählten ein vorsichtiges Verhalten der Bevölkerung, die statistische Erhebung wichtiger Parameter wie der Immunisierungsquote, eine Tracing-App sowie der langfristige Schutz von Risikogruppen. Außerdem müssten die Test- und Intensivbehandlungskapazitäten ausgebaut werden. Seien diese Voraussetzungen erfüllt, könne der Exit angegangen werden. „Die Schließung geschah unter Zeitdruck und Bundesweit synchron. Die Rückkehr zur Normalität wird hingegen regional differenziert ablaufen“, erklärt Türpitz. Er rechnet in Deutschland mit einer schrittweisen Öffnung, die sich nach Risikogruppen und Region unterscheiden wird.

von Sven Böll, Camilla Flocke, Henryk Hielscher, Rüdiger Kiani-Kreß, Dieter Schnaas, Martin Seiwert, Cordula Tutt

So könnten beispielsweise zunächst Schulen, Kindergärten und das produzierende Gewerbe unter Sicherstellung minimaler Kontakte geöffnet werden. Darauf könnten etwa Handel und Gastronomie folgen – unter Distanzwahrung. Dann könnten Freizeit- und Kultureinrichtungen wieder öffnen.

Allerdings dürften laut Türpitz nach jeder schrittweisen Öffnung die Infektionsraten aufs Neue temporär ansteigen. Dieser Anstieg müsse bewältigt werden, bevor der nächste Schritt erfolgt. Türpitz empfiehlt deshalb eine bestimmte Ansteckungsrate einzuhalten. In Nordrhein-Westfalen liege die handhabbare Obergrenze beispielsweise bei 50 bis 200 Neuinfektionen pro Tag – aktuell stecken sich täglich mehr als 1000 Menschen an (Stand: 07.04.). Die genaue akzeptable Anzahl hänge jedoch davon ab, wie konsequent die vorausgesetzten Maßnahmen umgesetzt werden, sagt Türpitz: „Mit dieser Rate ist sichergestellt, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.“ Eine Herdenimmunität sei damit jedoch nicht erreichbar, das sei nur durch die Entwicklung eines Impfstoffs möglich: „Wir werden sukzessive öffnen, müssen aber diese Bedingungen einhalten, bis der Impfstoff dann da ist“, sagt Türpitz.

Wie genau es mit der Autoindustrie in Deutschland weitergeht, ist wegen der dynamischen Lage und den aktuellen Unwägbarkeiten schwer vorherzugsagen. Seriöse Prognosen, die konkreter sind, als Szenarien, dürften noch einige Zeit auf sich warten lassen. Für CAM-Direktor Stefan Bratzel ist eines aber gewiss: „Eine Rückkehr zum Vorkrisenniveau erwarten wir für die deutschen Autobauer nicht vor 2022.“

Mehr zum Thema
>> Die deutsche Wirtschaft stürzt in eine schwere Krise. Unternehmer und Manager sind besorgt – auch weil die Regierung bislang keine Strategie zur Beendigung des „Shutdowns“ erkennen lässt. Sie suchen daher selbst nach Wegen aus dem Coronastillstand.

>> Es wird kein V: Wie heftig trifft Corona die Autoindustrie? Folgt auf den Absturz der Verkaufszahlen ein steiler Anstieg? Wohl kaum, analysiert die Unternehmensberatung AlixPartners. Ein Blick auf die Szenarien.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%