
Der deutschen Autoindustrie ist etwas Seltenes gelungen: Seit dem Startschuss Ende des 19. Jahrhunderts, als Carl Benz in Mannheim das Automobil erfand, fährt sie ununterbrochen vorne mit, beim Absatz wie bei der Leistungsfähigkeit der Autos. Heute hat die Autoindustrie in keiner anderen Volkswirtschaft der Welt einen so großen Anteil an der heimischen Wertschöpfung wie in Deutschland.

Im vergangenen Jahr erwirtschaftete sie einen Umsatz von gut 400 Milliarden Euro. Damit wurde im produzierenden Gewerbe jeder vierte Euro mit einem automobilen Produkt umgesetzt. Drei Viertel aller Karossen aus Stuttgart, Wolfsburg oder München werden exportiert. Rund 7,7 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Deutschlands gehen direkt oder indirekt auf die Autoproduktion zurück.
Es ist eine Dominanz, die sich auch am Arbeitsmarkt niederschlägt: Über 800.000 Menschen arbeiten in Deutschland bei Autobauern und Zulieferern. Das sind so viele wie seit 25 Jahren nicht mehr.
Fragen & Antworten: Jedes zweite Kartellverfahren wird durch Kronzeugen aufgedeckt
Der Verdacht gegen große deutsche Autobauer, ein Kartell gebildet zu haben, wiegt schwer. Sollte es zutreffen, dass sich - wie der „Spiegel“ am 21. Juli 2017 berichtet - Volkswagen, Audi, Porsche, BMW und Daimler über Jahre untereinander unter anderem über Technik und Kosten absprachen, wäre dies ein neuer, aufsehenerregender Fall. Der Kampf der Wettbewerbshüter für mehr Markttransparenz ist im 60. Jahr des deutschen Kartellrechts aktueller denn je. Zentrales Thema des Bundeskartellamts mit seinem Chef Andreas Mundt ist der Schutz der Verbraucher. Neben der Wettbewerbsaufsicht zählen auch noch die Fusionskontrolle sowie die Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen zu den Aufgaben der Behörde.
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Definiert ist es als Zusammenschluss von Unternehmen, die rechtlich und wirtschaftlich weitgehend selbstständig bleiben, aber etwa durch Preisabsprachen den Wettbewerb ausschalten. Tatsächlich ist es das erklärte Ziel des Bundeskartellamts, den Wettbewerb gegen jede Beschränkung zu schützen. Dabei kann es um rechtswidrige Absprachen über Preise zwischen einzelnen Unternehmen oder in ganzen Branchen gehen. Hintergrund ist die Überzeugung, dass Kartelle den Wettbewerb aushebeln und damit den „Motor der Marktwirtschaft“ zum Schaden von Kunden und Verbrauchern zum Stottern bringen. Dies kann etwa durch künstlich hoch gehaltene Preise oder beschränkte Mengen geschehen.
Kartellstrategien werden in der Regel im Geheimen besprochen, sie sind daher nur schwer aufzudecken und nachzuweisen. Bei seinen Ermittlungen ist das Bundeskartellamt daher weitgehend auf Hinweise von Eingeweihten angewiesen. Auf ihrer Internet-Seite fordert die Behörde offensiv: „Melden Sie sich bei uns, wenn Sie Hinweise auf illegale Absprachen haben!“ Dabei werden auch anonyme Hinweise telefonisch oder schriftlich entgegengenommen. Eine Rückverfolgung derartiger Hinweise ist dabei technisch ausdrücklich ausgeschlossen. Dazu kommen eigene Ermittlungen etwa auf der Grundlage anderer Verfahren, wenn die Verhältnisse in einem Markt verdächtig scheinen.
An einem Kartell Beteiligte haben so die Chance, im günstigsten Fall durch die sogenannte Kronzeugenregelung straffrei zu bleiben. Etwa jedes zweite Verfahren wird so ins Rollen gebracht. Derartige Anträge können jedoch nicht anonym gestellt werden. Es gilt dabei eine abgestufte Bonusregelung: Nur wer sich offenbart, bevor auch nur der leiseste Anfangsverdacht besteht, kann auf die vollen 100 Prozent hoffen. Eine spätere Kooperation wird nur noch mit abgestuften Abschlägen an einem späteren Bußgeld honoriert.
Das Bundeskartellamt verhängt Bußgelder, es vertritt aber nicht die möglichen Schadenersatz-Forderungen von Betroffenen. Kartell-Geschädigte müssen ihre Ansprüche daher in separaten Verfahren notfalls vor Gericht durchsetzen. Dabei steigen die Chancen jedoch deutlich, wenn die Wettbewerbsbehörde zuvor ein offizielles Kartellverfahren eingeleitet und vielleicht schon abgeschlossen hat.
Das Bundeskartellamt ermittelt in den unterschiedlichsten Branchen. In der jüngsten Zeit hatten unter anderem Verfahren gegen Zuckerhersteller und Bierbrauer für Schlagzeilen gesorgt. Aber auch Autozulieferer sind ins Visier der Bonner Kartellwächter geraten.
In mehreren Studien haben Wissenschaftler zudem die indirekten Jobeffekte untersucht. Input-Output-Analysen ergaben für solche mittelbaren Beschäftigungseffekte den Faktor 2,4. „Das bedeutet, dass in Deutschland etwa 1,8 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Autoproduktion abhängig sind“, sagt Heinz-Rudolf Meißner, Vorstand der Forschungsgemeinschaft für Außenwirtschaft, Struktur- und Technologiepolitik in Berlin.
In guten Zeiten ist das alles von Vorteil. In schlechten verkehrt es sich ins Gegenteil. Für Ökonom Meißner, der sich seit Jahren mit der Automobilindustrie beschäftigt, stellt die Branche heute ein „volkswirtschaftliches Klumpenrisiko“ dar. Ähnlich wie große Banken seien VW, Daimler & Co. für die deutsche Wirtschaft „systemrelevant“ geworden. Und nun ist er da: der große Crash.
„Die deutsche Autoindustrie hat im Laufe der Jahrzehnte eine starke Sogwirkung auf andere Branchen entwickelt“, warnt auch Christian Rammer, Ökonom am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Das ökonomische Kernproblem ist dabei nicht allein die wirtschaftliche Macht der Autokolosse Volkswagen, Daimler und BMW, die drei umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands.
Vier Fünftel der Wertschöpfung in der Branche entfallen auf Zuliefererbetriebe. Auf der „zweiten und dritten Vorleistungsstufe“, so Rammer, seien „die Hersteller zu wenig diversifiziert“ und die Abhängigkeit von den lukrativen Auftraggebern aus der PS-Branche zu groß geworden. Damit besteht die Gefahr eines volkswirtschaftlichen Dominoeffekts: Eine Existenzkrise der Autokonzerne könnte eine Kettenreaktion bei etlichen kleinen und mittelständischen Betrieben auslösen.