Nach den neuen Abgas-Vorwürfen fordert Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) Aufklärung von Daimler-Chef Dieter Zetsche. „Wir werden jetzt einen vertieften Austausch über die hochkomplexen technischen Fragen vornehmen mit dem Ziel, anhand unserer konkreten Prüfungen umgehend die genaue Zahl der betroffenen Modelle zu ermitteln“, sagte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) nach einem Gespräch mit Daimler-Chef Dieter Zetsche am Montag im Ministerium in Berlin. „Bei einem weiteren Treffen in 14 Tagen werden die konkreten Ergebnisse auf dem Tisch liegen.“
Die wichtigsten Informationen zu den Vorwürfen gegen Daimler und was das für das Unternehmen bedeutet.
Wie genau lautet der Vorwurf gegen Daimler?
Das Kraftfahrt-Bundesamt ist der Auffassung, dass Daimler die Abgasnachbehandlung bei dem Transporter Mercedes-Benz Vito manipuliert. Bei Untersuchungen habe die Behörde unzulässige Abschalteinrichtungen der Abgasreinigung entdeckt, hatte das Verkehrsministerium vergangene Woche mitgeteilt. Für weltweit gut 4900 Fahrzeuge, darunter gut 1370 in Deutschland, sei ein Rückruf angeordnet worden. Es geht um die Variante mit einem 1,6 Liter großen Vierzylinder-Dieselmotor, den Daimler von Kooperationspartner Renault bezieht.
Was sagt Daimler dazu?
Daimler will sich gegen die Vorwürfe und den angeordneten Rückruf wehren. „Nach Rechtsauslegung des KBA entspricht die spezifische Programmierung von zwei Funktionen in der Motorsteuerung des Fahrzeugs nicht den geltenden Vorschriften“, heißt es in der Mitteilung von Daimler. „Die Funktionen sind Teil eines komplexen Abgasreinigungssystems, das eine robuste Abgasreinigung bei unterschiedlichen Fahrbedingungen und über die Nutzungsdauer eines Fahrzeugs sicherstellen soll. Für das Bestehen des maßgeblichen Test-Zyklus NEFZ sind die in Frage stehenden spezifischen Programmierungen nicht erforderlich.“ Falls nötig wolle das Unternehmen die „strittige Rechtsauslegung“ auch vor Gericht klären lassen.
Was droht dem Autobauer jetzt?
Im aktuellen Fall vermutlich recht wenig – trotz des Widerspruchs will der Konzern weiter mit den Behörden kooperieren. Für den Vito heißt das: Mit einem Software-Update werden die umstrittenen Funktionen entfernt, angesichts der geringen Stückzahlen dürften sich die Kosten für Daimler im Rahmen halten.
In anderen Punkten könnte die Vito-Affäre teurer für Daimler werden, denn die Politik – allen voran Verkehrsminister Scheuer – hat offenbar das Vertrauen in Daimler verloren. Scheuer hatte gesagt, er habe das KBA angewiesen, weiteren Verdachtsfällen bei Mercedes unverzüglich nachzugehen. „Ich erwarte, dass Mercedes seinen Kunden gegenüber Klarheit schafft.“ Die Auswirkungen könnten deutlich größer sein als der Rückruf von 4900 Transportern: Nach einem Bericht der „Bild am Sonntag“ müssen bei Daimler voraussichtlich rund 120.000 Dieselfahrzeuge auf mögliche unzulässige Abschalteinrichtungen untersucht werden. Dabei handele es sich um weltweit rund 40.000 Dieselmotoren im „Vito“ und 80.000 in der „C-Klasse“. Allerdings gibt es hier noch nicht einmal eine amtliche Anhörung. Das wäre die Vorstufe zu einem Rückrufbescheid.
Welche Schadstoffe im Abgas stecken
Stickoxide (allgemein NOx) gelangen aus Verbrennungsprozessen zunächst meist in Form von Stickstoffmonoxid (NO) in die Atmosphäre. Dort reagieren sie mit dem Luftsauerstoff auch zum giftigeren Stickstoffdioxid (NO2). Die Verbindungen kommen in der Natur selbst nur in Kleinstmengen vor, sie stammen vor allem aus Autos und Kraftwerken. Die Stoffe können Schleimhäute angreifen, zu Atemproblemen oder Augenreizungen führen sowie Herz und Kreislauf beeinträchtigen. Pflanzen werden dreifach geschädigt: NOx sind giftig für Blätter und sie überdüngen und versauern die Böden. Außerdem tragen Stickoxide zur Bildung von Feinstaub und bodennahem Ozon bei.
Kohlendioxid (CO2) ist in nicht zu großen Mengen unschädlich für den Menschen, aber zugleich das bedeutendste Klimagas und zu 76 Prozent für die menschengemachte Erderwärmung verantwortlich. Der Straßenverkehr verursacht laut Umweltbundesamt rund 17 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland – hier spielt CO2 die größte Rolle. Es gibt immer sparsamere Motoren, zugleich aber immer größere Autos und mehr Lkw-Transporte. Außerdem mehren sich Hinweise darauf, dass Autobauer nicht nur bei NOx-, sondern auch bei CO2-Angaben jahrelang getrickst haben könnten.
Bei der Treibstoff-Verbrennung in vielen Schiffsmotoren fällt auch giftiges Schwefeldioxid (SO2) an. In Autos und Lkws entsteht dieser Schadstoff aber nicht, was am Kraftstoff selbst liegt: Schiffsdiesel ist deutlich weniger raffiniert als etwa Pkw-Diesel oder Heizöl und enthält somit noch chemische Verbindungen, die bei der Verbrennung in Schadstoffe umgewandelt werden.
Winzige Feinstaub-Partikel entstehen entweder direkt in Automotoren, Kraftwerken und Industrieanlagen oder indirekt durch Stickoxide und andere Gase. Die Teilchen gelangen in die Lunge und dringen in den Blutkreislauf ein. Sie können Entzündungen der Atemwege hervorrufen, außerdem Thrombosen und Herzstörungen. Der Feinstaub-Ausstoß ist in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre deutlich gesunken. Städte haben Umweltzonen eingerichtet, um ihre Feinstaubwerte zu senken.
Feinstaub entsteht aber nicht nur in den Motoren. Auch der Abrieb von Reifen und Bremsen löst sich in feinsten Partikeln. Genauso entstehen im Schienenverkehr bei jedem Anfahren und Bremsen feiner Metallabrieb an den Schienen. All das landet ebenfalls als Feinstaub in der Luft.
Katalysatoren haben die Aufgabe, gefährliche Gase zu anderen Stoffen abzubauen. In Autos wandelt der Drei-Wege-Kat giftiges Kohlenmonoxid (CO) mit Hilfe von Sauerstoff zu CO2, längere Kohlenwasserstoffe zu CO2 und Wasser sowie NO und CO zu Stickstoff und CO2 um. Der sogenannte Oxidations-Kat bei Dieselwagen ermöglicht jedoch nur die ersten beiden Reaktionen, so dass Dieselabgase noch mehr Stickoxide enthalten als Benzinerabgase. Eingespritzter Harnstoff („AdBlue“) kann das Problem entschärfen: Im Abgasstrom bildet sich so zunächst Ammoniak, der anschließend in Stickstoff und Wasser überführt wird.
Wie hoch sind die finanziellen Risiken?
Das lässt sich im aktuellen Fall noch nicht beziffern. Insgesamt hat Daimler die Rückstellungen für Rechtsrisiken aber schon einmal vorsorglich erhöht. Mit 17,2 Milliarden Euro sind die Rückstellungen 1,4 Milliarden Euro höher als im Jahr 2015, als der Dieselskandal öffentlich wurde. In der Summe sind allerdings auch weitere Rechtsrisiken wie „gestiegene Verpflichtungen aus Absatzgeschäften, Garantierückstellungen sowie auf Rückstellungen im Zusammenhang mit rechtlichen Risiken“ enthalten. So zumindest hat Daimler die Erhöhung im Geschäftsbericht begründet. Ob das angesichts drohender Massenrückrufe, der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Verdachts der betrügerischen Werbung oder der Sammelklagen in 13 US-Bundesstaaten ausreicht, ist unklar.
Was bedeutet der Vorwurf für Daimler-Chef Zetsche und seine Glaubwürdigkeit?
Nichts Gutes. Dieter Zetsche war einer der ersten, der nach Bekanntwerden des Dieselskandals den Selbstzünder öffentlich verteidigte und ähnliche Manipulationen in seinem Unternehmen kategorisch ausschloss. Inzwischen kommunizieren Daimler und auch der Chef deutlich zurückhaltender. So hieß es bereits im Halbjahresbericht 2017, dass in Mercedes-Fahrzeugen „Funktionalitäten enthalten sein könnten“, die von diversen Behörden möglicherweise als „unzulässig identifiziert wurden“. Eine schwammige Formulierung, die den aktuellen Streitfall genau abdeckt: Das KBA sagt, dass Daimler die Abgasnachbehandlung gezielt herunterfährt. Das Unternehmen bestreitet das nicht mehr, vertritt aber den Standpunkt, dass die beiden Funktionen nicht das Ergebnis des Normverbrauchstests beeinflussen würden. Ob das legal ist oder nicht, müssen wohl die Gerichte klären.