
Ja, es gibt sie, die Saure-Gurken-Zeit. Jene Zeit, in der so wenig in der Welt passiert, dass Journalisten jede noch so unbedeutende Forderung aufgreifen und zu einer großen Geschichte ausbauen – um leere Zeitungseiten und Internetauftritte zu füllen. So können sich Politiker mit großen Worten und abstrusen Ideen leicht einen Namen machen.
In diese Zeit würde auch folgende Schlagzeile passen: „Innenminister diskutieren einkommensabhängige Bußgelder im Straßenverkehr“. Nur stammt die Meldung leider nicht aus dem Sommer, sondern aus diesem November. Bei einer Konferenz an diesem Dienstag wollen die Innenminister der Länder tatsächlich darüber sprechen.
„Es macht einen Unterschied, ob jemand 200 Euro zahlt, wenn er 2000 Euro verdient oder wenn er 6000 Euro verdient,“, begründet NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) den Vorschlag. Sein niedersächsischer Ressortkollege Boris Pistorius, ebenfalls SPD, hält „je nach Einkommen 1000 Euro schon für angemessen“.





„Gleiche Bußgelder für jeden sind sozial höchst ungerecht“, hatte Pistorius jüngst noch im Bundesrat gesagt. Aus sozialen Gesichtspunkten mag Pistorius sogar Recht haben, doch in anderen Bereichen ist der Vorstoß mehr als fragwürdig.
Ja, die Straßenverkehrsordnung ist formal eine Rechtsverordnung und eben kein Gesetz. Aber dennoch baut die Bundesrepublik auf einem juristischen Fundament auf, festgehalten in Paragraph 3 des Grundgesetzes: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Ein für alle faires Verhältnis lässt sich nicht finden
Diese Gleichheit bedeutet, dass die Strafe – sei es nur ein zu zahlendes Bußgeld – immer im Verhältnis zum Verstoß stehen muss. Doch welches Verhältnis ist fair? Werden Bußgelder für bestimmte Einkommens-Stufen gebildet oder einfach ein konstanter Prozentsatz des Einkommens festgelegt?
Was Raser wissen müssen
Deutschlandweit gibt es 4231 Blitzer. Weltweit liegt Deutschland damit auf Platz fünf der Blitzer-Staaten: Platz vier belegen die USA mit 5647 Starenkästen, Großbritannien folgt mit 5754 Blitzern auf Platz drei. Der zweite Platz geht an Italien mit 6884 Blitzern und der erste Platz an Brasilien mit stolzen 14.395 Starenkästen.
Die meisten Radarfallen gibt es in Berlin: In der Hauptstadt stehen 22 festinstallierte Blitzer. Hinzu kommen 100 mobile Geschwindigkeitskontrollen. Zweitplatzierter ist Düsseldorf mit 37 stationären und mobilen Radarfallen. Danach kommt Hamburg mit 34 Blitzern, Stuttgart mit 32, Freiburg mit 24 sowie Bremen und Aalen mit je 20 Blitzern.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat 150 Städte befragt, wie hoch ihre Einnahmen aus Geschwindigkeitskontrollen im Jahr 2012 gewesen sind. Nicht im Ranking enthalten sind Großstädte wie Berlin, Hamburg und München, da die Städte trotz gesetzlicher Auskunftspflicht nicht auf die Anfrage des DAV reagiert haben. "Von den angeschriebenen Städten haben wir bisher nur 34 Fragebögen, zum Teil mit unvollständigen Angaben, zurückbekommen. Sechs dieser Städte haben außerdem die übermittelten Daten nicht zur Veröffentlichung freigegeben", sagte Jens Dötsch vom DAV.
Der dritte Platz ging an die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt Düsseldorf: 5,3 Millionen Euro nahm die Stadt im Jahr 2012 durch Radarkontrollen ein. Die Stadt Dortmund kassierte - heruntergerechnet auf alle zugelassenen Pkw - 27,75 Euro pro Auto. Insgesamt flossen sieben Millionen Euro in die Haushaltskasse. Und ausgerechnet die Autostadt Stuttgart verdient 2012 am meisten an ihren Rasern: 7,9 Millionen Euro nahm die Hauptstadt Baden-Württembergs allein durch Radarkontrollen ein. Pro zugelassenem Pkw sind das 28,07 Euro.
Spezielle Smartphone-Apps und die meisten Navigationssysteme warnen den Fahrer vor Radarkontrollen. Das möge lehrreich sein, ist beides aber auch „ganz klar illegal“, so der Hamburger Anwalt Uwe Toben, Experte für Verkehrsstrafrecht. Denn die Straßenverkehrsordnung verbietet den Einsatz von technischen Geräten, die „dafür bestimmt sind, Verkehrsüberwachungsmaßnahmen anzuzeigen oder zu stören“. Warum das so ist und ob ein Handy überhaupt in diese Kategorie fällt weiß keiner so genau. Der Paragraf stammt aus einer Zeit, in der es weder Smartphones noch Navigationsgeräte gab. Anwalt Toben kann sich auch an keinen Fall erinnern, in dem jemand wegen seiner Handy-App Probleme bekommen hat. „Wo kein Kläger, da auch kein Richter“, sagt Toben.
Entsprechend wirbt auch der Navigationshersteller Tomtom auf seiner Website für seinen knapp 30 Euro teuren Service, der „mit ausreichend Vorlaufzeit“ vor Radarkameras warnt. Der Dienst mache den Straßenverkehr sicherer, behauptet das Unternehmen.
Und auch der Gesetzgeber hat nicht gegen jede Form von Blitzer-Warnung etwas: Die Radiosender etwa dürfen vor Radarfallen warnen. Wo genau hier die rechtliche Grenze zwischen technischen Geräten wie Handys oder Navigationssystemen gezogen wird, weiß niemand so genau.
Wer bis zu 20 Sachen zu schnell unterwegs ist, muss nur mit einem Bußgeld von bis zu 30 Euro rechnen. Ab 21 Stundenkilometern zu viel steigt die Höhe des Verwarngeldes schon auf 70 Euro und es gibt einen Punkt in Flensburg. Den kompletten Bußgeldkatalog finden Sie übrigens hier.
Wer außerorts 41 oder mehr Stundenkilometer über dem Limit fährt, muss ein Auto für mindestens einen Monat stehen lassen. Innerhalb einer Gemeinde gibt es schon ab einer Geschwindigkeitsübertretung von 31 km/h ein einmonatiges Fahrverbot.
In vielen deutschen Bundesländern gibt es bereits Blitzer ohne Blitz. Im Juni 2014 führte - nach Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Bremen und Thüringen - auch Bayern das System TraffiStar 330 ein. Die Anlage liefert bei Tag und Nacht scharfe Bilder, ohne den Fahrer durch einen Blitz zu blenden. Bei der sogenannten Robot Black Flash Technologie kommt ein Infrarot-Blitz zum Einsatz, der für das menschliche Auge fast unsichtbar ist. Außerdem berechnet der TraffiStar 330 die Geschwindigkeit der Fahrzeuge anhand des Wegs, den das Auto in einer bestimmten Zeit zurückgelegt hat. Kritiker sagen jedoch, dass bei dieser Technologie der "Erziehungseffekt" wegfällt, weil der Raser erst beim Öffnen des Bußgeldbescheids von seiner Geschwindigkeitsübertretung erfährt.
Das Streckenradar funktioniert ähnlich wie der Blitzer ohne Blitz: Die Geschwindigkeit eines Autofahrers wird über einen längeren Abschnitt kontrolliert. Dafür fotografiert eine Kamera jedes Fahrzeug am Beginn des Abschnitts von hinten. Am Streckenende wird das Auto erneut erfasst. Wenn ein Fahrzeug die Strecke in einer Zeit zurücklegt, die nur durch die Übertretung des Tempolimits erreicht werden kann, wird das Fahrzeug von vorne geblitzt. In Niedersachsen startet im Frühjahr 2015 ein etwa 18 Monate langer Feldversuch mit der Technologie. Dort werden die Fahrer deutlich auf diese Form der Kontrolle hingewiesen. Erfahrungen mit der Technologie gibt es bereits im europäischen Ausland.
So haben notorische Raser in Italien das Streckenradar schon überlistet: Sie durchrasen den ersten Teil der Strecke mit hoher Geschwindigkeit. Danach trinkt der Fahrer an einer Raststätte einen Espresso und fährt nach der kurzen Pause weiter. So bleibt er insgesamt unter der Geschwindigkeitsbegrenzung.
Mittlerweile gelten Fotos, die Blitzgeräte aufgenommen haben, nicht mehr als Beweismittel, weil sie gegen das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ verstoßen. Wer also einen bösen Brief samt Foto bekommt, kann - trotz gestochen scharfem Foto - behaupten, nicht zu wissen, wer das Auto zum fraglichen Zeitpunkt gefahren hat.
Das Problem: Es ist nicht fair zu lösen. Dem Einkommensschwachen tut jeder einzelne Euro weh. Die Mittelschicht kann mehr verkraften – doch welche Summe wirklich schmerzhaft ist, hängt nicht nur vom Einkommen, sondern auch von den individuellen Ausgaben und Verpflichtungen ab. Soll man das auch noch einbeziehen? Und bei dem Superreichen setzt sicher kein Lerneffekt ein, selbst wenn er mal eben das Jahresgehalt eines Arbeiters überweisen muss.
Beispiel gefällig? Finnland hat als eines der wenigen Länder einkommensabhängige Bußgelder. Das führt unter anderem dazu, dass ein Millionenerbe für eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 30 km/h 170.000 Euro zahlen musste. Oder ein Industrieller, der für 27 km/h zu viel 95.000 Euro zahlen musste. Oder Formel-1-Star Kimi Räikkönen, der die Papiere für seinen Bootsanhänger nicht dabei hatte – 30.000 Euro.
Wird bei einem der Herren dadurch ein Umdenken einsetzen? Vermutlich nicht.
Natürlich könnte man auch Härtefälle am unteren Ende der Einkommensskala aufführen, um die Argumentation von Pistorius zu stützen. Doch auch hier lösen hypothetische Gedankenspiele nicht ganz praktische Probleme, die den Nutzen der neuen Bußgeld-Festsetzung mehr als auffressen.
Vor jedem Bußgeldbescheid müsste das Amt erst recherchieren, wie hoch Einkommen und daraus resultierend das Bußgeld am Ende sind. Ein potenzielles Bürokratiemonster mit zweifelhaftem Effekt.
Einige Experten sind sogar der Meinung, dass generell höhere Strafen notorische Verkehrssünder nicht von ihrer Raserei abhalten werden. „Denn sie kennen in der Regel die stationären Blitzer, und mobile Kontrollen sind selten“, sagt etwa der Vorsitzende des Auto Club Europa, Stefan Heimlich. Sinnvoll sei es hingegen, häufiger zu kontrollieren.
Mehr Kontrollen wären in der Tat sinnvoll, doch sie kosten Geld. Geld, das weder Jäger noch Pistorius ausgeben wollen. Sie wollen nur Geld einnehmen.
Deshalb sollten sie die StVO nicht zum Spielball politischen Kalküls machen, sondern ihren Vorstoß einfach ehrlich benennen: eine Reichensteuer. Mehr ist es nicht.