Das Dilemma Fachkräftemangel lähmt unsere Wirtschaft. Der rapide Wandel vom Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt, den wir gerade erfahren, belegt dieses paralysierende Szenario. Dabei prophezeiten viele Digitalisierungsprognosen, dass Bits und Bytes ganze Tätigkeitsfelder im Datensturm hinwegfegen und für eine Flut an Arbeitssuchenden sorgen würden. Doch statt Flut herrscht vielerorts Ebbe auf dem Arbeitsmarkt. Wie hatte es Physiknobelpreisträger Niels Bohr doch einst so treffend ausgedrückt: Prognosen sind immer schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Trotzdem müssen wir unseren Fokus mittels klarer Kennzahlen schärfen, um dem Fachkräftemangel auf Augenhöhe zu begegnen. Richten wir dabei den Blick auf das Truck Business, wird akuter Handlungsbedarf deutlich. Die Branche, die bestimmend für unsere Versorgung ist, kämpft mit einem Fachkräftemangel, der dem Personalvakuum der Gastronomie in der Post-Corona-Lockdown-Ära in nichts nachsteht.
Aktuell fehlen laut dem Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung deutschlandweit nahezu 100.000 Fahrerinnen und Fahrer. Angesichts von 565.000 Truckern, die sozialversicherungspflichtig in der Bundesrepublik beschäftigt sind, sind das über 15 Prozent. In einem Just-in-time-Gewerbe ein immenser Wert. Dieser führt dazu, dass Aufträge nicht mehr angenommen werden, Güter verspätet oder gar nicht erst ankommen.
Doch die Personallücke klafft weiter. Jährlich wandern 20.000 Fahrer in die Rente ab, ohne Nachbesetzung. Angesichts dieser Entwicklungen werden die Rufe nach automatisierten Transportlösungen immer lauter, nach Lkw, die selbstständig steuern. Doch ist das die Lösung? Technologisch kann sie es teilweise sein. Pilotprojekte wie der Hamburg TruckPilot beweisen das. Mit diesem Gemeinschaftsprojekt haben MAN und die Hamburger Hafen und Logistik AG einen Meilenstein im automatisierten Containertransport gesetzt. Trucks, die dank digitaler Technologien wie von Geisterhand durch den Hafen steuern, Container abliefern und von Robotern beladen werden – ganz ohne Fahrer. Ich habe es selbst als Beifahrer erprobt und garantiere: So sicher hätte ich das 18 Meter lange und 40 Tonnen schwere Vehikel niemals eingeparkt. Für mich der Beleg: Autonomes Fahren wird zum Gamechanger.
Gunnar Kilian
Gunnar Kilian ist Mitglied des Vorstands der Volkswagen AG, Personal und Truck & Bus.
Doch nicht von jetzt auf gleich und auch nicht überall. Frühestens ab etwa 2030 werden autonom fahrende Lkw auf den Straßen zu sehen sein. Auch wenn unsere Tochter Traton mit Scania, MAN, Navistar und Volkswagen Truck & Bus, wie andere Marken auch, die technologische Basis gelegt haben, braucht es Zeit. Zeit, die wir nicht haben.
Wenn ab etwa 2030 autonom fahrende Trucks unterwegs sind, sind dann weitere 140.000 Fahrer laut Prognose ein letztes Mal, ohne Nachfolge, aus der Kabine gestiegen. Hinzu kommt, dass trotz des skizzierten digitalen Fortschritts über diesen Zeithorizont hinaus auch zukünftig Lkw-Fahrer gebraucht werden.
Auf Autobahnen und Verladezentren, wie Häfen, können automatisierte Transportfahrzeuge ihre Stärken voll entfalten. Doch autonome 40-Tonner in Kleinstädten und Dörfern sind nicht vorstellbar. Viel zu hoch sind die absolut gerechtfertigten Sicherheitsauflagen. Heißt: Eine simple, fast schon an Populismus grenzende Lösung des Fachkräftemangels, nach einem dystopischen „Maschine ersetzt Mensch“-Ansatz, kann es nicht geben. Vielmehr braucht es einen Gleichklang aus der Förderung des technologischen Fortschritts und der Personalbedürfnisse.
Dazu benötigen wir auf der einen Seite finanzielle Anreize. Diese setzen die Logistikunternehmen mittlerweile. Und müssen das auch weiterhin. Laut Statistischem Bundesamt verdienen Trucker im Schnitt 2623 Euro brutto. Also fast 650 Euro weniger als Beschäftigte mit vergleichbarer Ausbildung und Erfahrung. Da darf es keinen wundern, dass der „King of the Road“ freiwillig abdankt.
Auf der anderen Seite braucht es einen passgenauen infrastrukturellen Aus- und Aufbau. Um Tätigkeiten auf der Langstrecke perspektivisch nicht nur von Menschen übernehmen zu können, sondern vor allem auch nachhaltig zu sein, müssen die Zugmaschinen autonom und elektrisch unterwegs sein. Das fordern Gesellschaft und Kunden ein. Bei einem Anteil von 72,5 Prozent an Lkw-Transportleistung im Güterverkehr allein in Deutschland ist das aus Sicht des Klimaschutzes elementar. Mit Regularien setzt sich auch der Gesetzgeber dafür ein. Und die Industrie muss liefern. Zu Recht. Ebenso muss jetzt aber auch der Staat liefern, um vom Leerlauf zu befreien und einen Gang höher zu schalten.
Wir brauchen ein flächendeckendes Ladenetz, brauchen mehr autonome Testfelder auf Autobahnen und einen Ausbau der Rastplätze. Diese quellen über und sind ein brutaler Stressfaktor für die Trucker. „Unhaltbare Zustände“ versicherte mir ein Fahrer erst kürzlich. Zudem brauchen wir diesen Platz als Hub, um den automatisierten Fernverkehr von der Autobahn anschließend auf den manuell gesteuerten Transport in die Stadt verladen zu können.
Wenn wir das alles gemeinschaftlich angehen, können wir das Dilemma Fachkräftemangel auf diesem Sektor lösen. Tun wir es nicht, trifft uns nach der Chipkrise der nächste Versorgungsengpass mit voller Härte. Spätestens Corona und letztlich der Angriffskrieg Putins haben deutlich gemacht, wie verletzlich unsere Wirtschaft ist. Daher müssen wir Vorkehrungen treffen. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
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