Tatsächlich erlaubt Brüsseler Recht den Herstellern, die Abgasreinigung abzuschalten, „um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen“, heißt es in einer EU-Verordnung. Diesen Paragrafen verstehen denn auch fast alle Hersteller als Persilschein für laxes Verhalten.
Doch Fiat geht wohl über die Grenze hinaus. Nun soll Brüssel vermitteln. Das BMVI bittet die polnische EU-Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska, „geeignete Konsultationen mit der italienischen Behörde durchzuführen, um eine Lösung herbeizuführen“. Die Rolle der Kommission könnte dann sogar noch wichtiger werden. „Wenn die EU-Kommission feststellt, dass ein Land EU-Recht bricht, dann muss sie einschreiten“, sagt der grüne Europaabgeordnete Bas Eickhout, Mitglied im VW-Untersuchungsausschuss. Sollte sich der Verdacht gegen Fiat bestätigen, könnte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien einleiten, an dessen Ende eine Strafzahlung stehen könnte.
Für die Umweltverbände ist das Schreiben aus Berlin ein Segen: Erstmals beanstandet eine staatliche Stelle das Verhalten eines Autoherstellers jenseits des Volkswagen-Konzerns als mutmaßlich systematische Manipulation. „Fiat gehört zu den dreckigsten Autobauern weltweit“, sagt Jürgen Resch, Chef der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Das von der DUH getestete Modell 500X habe die Grenzwerte um das mehr als 20-Fache überschritten. „Das ist vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge an den Menschen, die diese giftigen Abgase einatmen müssen“, so Resch. Damit handle das Unternehmen noch schlimmer als Volkswagen. „VW hat bei seinen Betrugsdieseln im Durchschnitt deutlich niedrigere Überschreitungen“, so Resch. „Fiat schaltet die Abgasreinigung besonders dreist, quasi per Zeitschaltuhr, ab.“
Wie die Adblue-Technik funktioniert
Verbrennt Diesel in Motoren, entstehen Rußpartikel und Stickoxide. Die Partikel dringen in die Lunge ein und können Krebs verursachen, Stickoxide reizen die Schleimhäute der Atemwege und Augen und erhöhen das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Sie fördern zudem die Ozonbildung. Damit möglichst wenig der Schadstoffe in die Umwelt gelangt, werden in modernen Fahrzeugen die Abgase in zwei oder drei Stufen gereinigt – zumindest in der Theorie.
Ist die Verbrennungstemperatur im Motor hoch, entstehen wenig Partikel, aber viel Stickoxide. Bei niedrigen Temperaturen ist es umgekehrt.
Der erste Katalysator filtert rund 95 Prozent der Rußpartikel heraus.
Sensoren messen die Stickoxidkonzentration im Abgas. Die Kontrolleinheit spritzt entsprechend Adblue (Harnstofflösung) in den zweiten Katalysator.
Das Adblue reagiert im zweiten Katalysator – das Verfahren heißt selektive katalytische Reduktion (SCR) – zu harmlosem Wasser und Stickstoff. Mehr als 95 Prozent der Stickoxide werden so entfernt.
Nicht alle modernen Dieselfahrzeuge verfügen über die effektive, aber teure Adblue-Technik. Eine Alternative ist der NOx-Speicherkatalysator. Darin werden auf Edelmetallen wie Platin und Barium die Stickoxide gespeichert. In regelmäßigen Abständen wird der Speicherkatalysator freigebrannt, dabei werden die Stickoxide zu unvollständig verbrannten Kohlenwasserstoffen – und/oder Kohlenstoffmonoxid – weiter reduziert. Zum Teil werden auch SCR- und NOx-Speicherkatalysatoren kombiniert – wie etwa im BMW X5.
Die Ergebnisse des KBA geben ihm recht. Die Fiat-Motoren nutzen offenbar zwei Wege, die Abgasreinigung zugunsten einer stärkeren Leistung abzudrehen. Neben der „Abschaltung der Abgasrückführung (AGR) nach 22 Minuten“ kritisiert die Behörde auch einen speziellen Stickoxid-Katalysator (NSK), der nach sechs Reinigungszyklen abgestellt wird. Experten vergleichen den NSK mit einem Schwamm, der sich mit Stickoxiden vollsaugt und deshalb alle paar Minuten ausgewrungen werden müsse, um neue Schadstoffe aufsaugen zu können. Wenn dieses Auswringen ausbleibt, können keine Schadstoffe mehr herausgefiltert werden.
Fiat will die Vorwürfe des BMVI auf WirtschaftsWoche-Anfrage nicht näher kommentieren, bekräftigte aber, dass die erwähnten FCA-Fahrzeuge „die anwendbaren Emissionsanforderungen erfüllen“. Zudem habe das italienische Verkehrsministerium „bereits öffentlich erklärt, dass der Fiat 500X die anwendbaren gesetzlichen Grenzwerte einhält“.
Nicht gerade innovativ
Doch dass Fiat nicht gerade zu den innovativsten Autokonzernen gehört, ist seit Langem bekannt. In der Auswertung der besten hundert Innovationen des Center of Automotive Management zwischen 2005 und 2015 taucht Fiat nur ein einziges Mal auf.
Die Abgas-Tests in Deutschland und Europa
Neue Modelle werden in Deutschland und der EU nach dem Modifizierten Neuen Fahrzyklus (MNEFZ) getestet. Die Tests laufen unter Laborbedingungen, das heißt auf einem Prüfstand mit Rollen. Dies soll die Ergebnisse vergleichbar machen. Der Test dauert etwa 20 Minuten und simuliert verschiedene Fahrsituationen wie Kaltstart, Beschleunigung oder Autobahn-Geschwindigkeiten.
Getestet wird von Organisationen wie dem TÜV oder der DEKRA unter Beteiligung des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA). Dieses untersteht wiederum dem Verkehrsministerium.
Die Prüfungen der neuen Modelle werden von ADAC und Umweltverbänden seit längerem als unrealistisch kritisiert. So kann etwa die Batterie beim Test entladen werden und muss nicht - mit entsprechendem Sprit-Verbrauch - wieder auf alten Stand gebracht werden. Der Reifendruck kann erhöht und die Spureinstellungen der Räder verändert werden. Vermutet wird, dass etwa der Spritverbrauch im Alltag so häufig um rund ein Fünftel höher ist als im Test.
Neben den Tests für neue Modelle gibt es laut ADAC zwei weitere Prüfvorgänge, die allerdings weitgehend in der Hand der Unternehmen selbst sind. So werde nach einigen Jahren der Test bei den Modellen wiederholt, um zu sehen, ob die Fahrzeuge noch so montiert werden, dass sie den bisherigen Angaben entsprechen, sagte ADAC-Experte Axel Knöfel. Zudem machten die Unternehmen auch Prüfungen von Gebrauchtwagen, sogenannte In-Use-Compliance. Die Tests liefen wieder unter den genannten Laborbedingungen. Die Ergebnisse würdem dann dem KBA mitgeteilt. Zur Kontrolle hatte dies der ADAC bei Autos bis 2012 auch selbst noch im Auftrag des Umweltbundesamtes gemacht, bis das Projekt eingestellt wurde. In Europa würden lediglich in Schweden von staatlicher Seite noch Gebrauchtwagen geprüft, sagte Knöfel.
Die EU hat auf die Kritik am bisherigen Verfahren reagiert und will ab 2017 ein neues, realistischeres Prüfszenario etablieren. Damit sollen auch wirklicher Verbrauch und Schadstoffausstoß gemessen werden ("Real Driving Emissions" - RDE). Strittig ist, inwiefern dafür die bisherigen Abgas-Höchstwerte angehoben werden, die sich noch auf den Rollen-Prüfstand beziehen.
Dobrindt wittert offenbar die Chance, europäische Autobauer in die Mangel zu nehmen. Er forderte die Kommission im Mai auf, die Regeln zu schärfen und Interpretationen beim Motorschutz einzugrenzen. Ein EU-Gesetz dürfe nicht so formuliert sein, „dass sich Hersteller von unterentwickelten Motoren hinter dem Argument Motorschutzgründe verstecken können“.
Dem Minister kommen die Ergebnisse des KBA noch aus einem anderem Grund gelegen. Kommende Woche nimmt der Bundestags-Untersuchungsausschuss zum VW-Skandal seine Arbeit auf, der die Rolle der Bundesregierung in den Fokus rückt. Dobrindt kann pünktlich Tatkraft unter Beweis stellen. Zeitgleich findet ein weiterer Untersuchungsausschuss in Brüssel statt: Dort wird Antonio Tajani befragt, der als EU-Industriekommissar von 2010 bis 2014 von Schummeleien in der Autoindustrie gewusst haben soll. Tajani hat übrigens einen italienischen Pass.