Das Schreiben liest sich eher scharf als diplomatisch, darüber täuscht auch der bürokratische Ton nicht hinweg. Unter dem Betreff „Unregelmäßigkeiten in der Abgasnachbehandlung an Fahrzeugen des Herstellers Fiat Chrysler Automobiles (FCA)“ hat das Bundesverkehrsministerium (BMVI) im Auftrag von Alexander Dobrindt am 1. September je einen Brief an die EU-Kommission nach Brüssel und das italienische Verkehrsministerium nach Rom geschickt. Der Tenor: Fiat schummelt bei seinen Dieselmotoren.
Untersuchungen an mehreren Fahrzeugen „zeigen deutlich“, dass die Emissionen von Stickoxid (NOx) zu hoch seien. Es folgt eine Beschreibung aller technischen Tricks und dann eine Schlussfolgerung des Ministeriums, die es in sich hat: „Damit ist aus unserer Sicht der Nachweis des Einsatzes einer unzulässigen Abschalteinrichtung erbracht.“
Im Klartext: Fiat ist aus Sicht der Bundesregierung ein zweiter Fall Volkswagen. Die Erkenntnisse aus Berlin, angefertigt vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Flensburg, sind ein neuer Höhepunkt in der Aufarbeitung des Abgasskandals um den Wolfsburger Konzern. Nahezu alle Autokonzerne haben zwar Gesetzeslücken ausgereizt, um Dieselmotoren zulasten der Umwelt aufzupeppen. Außer VW konnte aber bislang keinem anderen Hersteller bewusste Manipulation nachgewiesen werden. Nach dem Schreiben aus Berlin steht nun auch Fiat am Pranger. Und mehr noch: Weil wegen der Fusion von Fiat und Chrysler zu FCA auch ein amerikanisches Modell getestet wurde und auf Dobrindts Schummel-Liste auftaucht, erreicht der Skandal nicht nur Italien, sondern auch die USA.
Wie Fiat-Chrysler in Deutschland aufgestellt ist
2010: 78.190 Neuzulassungen
2011: 80.125 Neuzulassungen
2012: 72.755 Neuzulassungen
2013: 67.753 Neuzulassungen
2014: 68.103 Neuzulassungen
Quelle: Kraftfartbundesamt KBA
2010: 2.296 Neuzulassungen
2011: 3.992 Neuzulassungen
2012: 6.614 Neuzulassungen
2013: 6.899 Neuzulassungen
2014: 10.268 Neuzulassungen
2010: 8.621 Neuzulassungen
2011: 10.480 Neuzulassungen
2012: 7.502 Neuzulassungen
2013: 3.625 Neuzulassungen
2014: 3.391 Neuzulassungen
2010: 1.463 Neuzulassungen
2011: 2.334 Neuzulassungen
2012: 2.979 Neuzulassungen
2013: 2.979 Neuzulassungen
2014: 1.262 Neuzulassungen
Die Schreiben, die der WirtschaftsWoche vorliegen, bergen somit politischen Sprengstoff. Fiat ließ Dobrindt im Mai dieses Jahres abblitzen, als sein Haus einen ersten Verdacht schöpfte und zum Rapport bat. Konzernvertreter sagten kurzfristig ab, weil nicht Berlin, sondern Rom zuständig sei. Aus Fiat-Kreisen ist zu hören, dass dies auf Druck der italienischen Regierung geschah. Nun kann Dobrindt mögliche Beweise präsentieren. Seine Revanche sozusagen.
Deutscher Skandal – jetzt eine Weltaffäre?
Stechen Dobrindts Vorwürfe, wäre ein wichtiger Etappensieg erreicht in einem Machtkampf, der nicht nur die Hersteller beschäftigt, sondern das transatlantische Wirtschaftsduell anheizt. Europa und die USA ringen um die Deutungshoheit beim Freihandelsabkommen TTIP. Die EU-Kommission macht ernst gegen Apples Steuergebaren. Und nun reißt Dobrindt einen dritten Graben auf, der ihm industriepolitisch nützt. Plötzlich stünde Volkswagen nicht mehr allein am Pranger für sein Fehlverhalten beim Einsatz der Dieseltechnik. Aus dem deutschen Skandal würde eine Weltaffäre. Und der hiesigen Politik, oft gerügt für ihre Nähe zur Autolobby, gelänge ein Befreiungsschlag.
Nach den Ergebnissen aus dem Verkehrsministerium in Berlin schummelt Fiat angeblich mit System. Verdachtsmomente hatte es schon gegeben, als der Whistleblower eines Autozulieferers im Frühjahr 2016 auspackte und den Verdacht auf Fiat lenkte. Das KBA überprüfte daraufhin den Fiat 500X. Der Geländewagen schaltete die Abgasreinigung plump, aber effektiv ab – nach 1300 Sekunden, also knapp 22 Minuten. Ein Prüfzyklus im Labor dauert in der Regel 20 Minuten. Dobrindt äußerte bereits damals „Zweifel, ob bei Fiat die Typgenehmigungsvorschriften eingehalten wurden“.
Das KBA räumt seine Zweifel nun offenbar aus. Seit Juni hat es auf Anordnung des Ministers vier weitere Fahrzeuge getestet – zwei Fiat 500X, den Lastenwagen Fiat Doblo und den Geländewagen Renegade von Jeep, einer US-Marke des FCA-Konzerns. Die Ergebnisse bestätigten ein „qualitativ ähnliches Verhalten“ bei allen Modellen und Stickoxid-Werte, die „stark auf das 9- bis 15-Fache des Grenzwerts“ steigen.
Welche Schadstoffe im Abgas stecken
Stickoxide (allgemein NOx) gelangen aus Verbrennungsprozessen zunächst meist in Form von Stickstoffmonoxid (NO) in die Atmosphäre. Dort reagieren sie mit dem Luftsauerstoff auch zum giftigeren Stickstoffdioxid (NO2). Die Verbindungen kommen in der Natur selbst nur in Kleinstmengen vor, sie stammen vor allem aus Autos und Kraftwerken. Die Stoffe können Schleimhäute angreifen, zu Atemproblemen oder Augenreizungen führen sowie Herz und Kreislauf beeinträchtigen. Pflanzen werden dreifach geschädigt: NOx sind giftig für Blätter und sie überdüngen und versauern die Böden. Außerdem tragen Stickoxide zur Bildung von Feinstaub und bodennahem Ozon bei.
Kohlendioxid (CO2) ist in nicht zu großen Mengen unschädlich für den Menschen, aber zugleich das bedeutendste Klimagas und zu 76 Prozent für die menschengemachte Erderwärmung verantwortlich. Der Straßenverkehr verursacht laut Umweltbundesamt rund 17 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen in Deutschland – hier spielt CO2 die größte Rolle. Es gibt immer sparsamere Motoren, zugleich aber immer größere Autos und mehr Lkw-Transporte. Außerdem mehren sich Hinweise darauf, dass Autobauer nicht nur bei NOx-, sondern auch bei CO2-Angaben jahrelang getrickst haben könnten.
Bei der Treibstoff-Verbrennung in vielen Schiffsmotoren fällt auch giftiges Schwefeldioxid (SO2) an. In Autos und Lkws entsteht dieser Schadstoff aber nicht, was am Kraftstoff selbst liegt: Schiffsdiesel ist deutlich weniger raffiniert als etwa Pkw-Diesel oder Heizöl und enthält somit noch chemische Verbindungen, die bei der Verbrennung in Schadstoffe umgewandelt werden.
Winzige Feinstaub-Partikel entstehen entweder direkt in Automotoren, Kraftwerken und Industrieanlagen oder indirekt durch Stickoxide und andere Gase. Die Teilchen gelangen in die Lunge und dringen in den Blutkreislauf ein. Sie können Entzündungen der Atemwege hervorrufen, außerdem Thrombosen und Herzstörungen. Der Feinstaub-Ausstoß ist in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre deutlich gesunken. Städte haben Umweltzonen eingerichtet, um ihre Feinstaubwerte zu senken.
Feinstaub entsteht aber nicht nur in den Motoren. Auch der Abrieb von Reifen und Bremsen löst sich in feinsten Partikeln. Genauso entstehen im Schienenverkehr bei jedem Anfahren und Bremsen feiner Metallabrieb an den Schienen. All das landet ebenfalls als Feinstaub in der Luft.
Katalysatoren haben die Aufgabe, gefährliche Gase zu anderen Stoffen abzubauen. In Autos wandelt der Drei-Wege-Kat giftiges Kohlenmonoxid (CO) mit Hilfe von Sauerstoff zu CO2, längere Kohlenwasserstoffe zu CO2 und Wasser sowie NO und CO zu Stickstoff und CO2 um. Der sogenannte Oxidations-Kat bei Dieselwagen ermöglicht jedoch nur die ersten beiden Reaktionen, so dass Dieselabgase noch mehr Stickoxide enthalten als Benzinerabgase. Eingespritzter Harnstoff („AdBlue“) kann das Problem entschärfen: Im Abgasstrom bildet sich so zunächst Ammoniak, der anschließend in Stickstoff und Wasser überführt wird.
In Rom dürfte die Verstimmung groß sein. Es geht um Fiat, das Herzstück der italienischen Autoindustrie. Schon als der erste Verdacht aufkam, tobte die italienische Politik, nahm Fiat in Schutz. Ein Treffen zwischen Dobrindt und seinem Amtskollegen Graziano Delrio im Juni in Luxemburg geriet kühl. Die italienischen Behörden hätten ihrerseits Dieselautos heimischer Fabrikate überprüft. „Ich habe Alexander Dobrindt die Daten und eine Grafik gezeigt“, sagte Delrio damals. Daraus ergebe sich, „dass unsere Tests komplett anders sind und dass Fiat absolut in Ordnung ist“. Dobrindt habe „Notiz genommen“. Basta.
Dobrindt beharrt nun auf seiner Version der bewussten Täuschung. In dem Brief heißt es wörtlich: „Deutschland (...) sieht seine Darstellung, dass bei den FCA-Motoren eine unzulässige Abschalteinrichtung (...) verbaut ist, sowohl im Lichte der Ergebnisse der deutschen, als auch der italienischen Genehmigungsbehörden, als bestätigt an.“ Die Ansicht der Italiener, die Abschalteinrichtung diene dem Motorschutz, „kann Deutschland nicht teilen“.