
Wir fassen zusammen: GM muss in 60 einzelnen Aktionen 29 Millionen Autos wegen teils lebensgefährlicher Defekte zurückrufen. Manche Mängel sind dem Konzern schon über zehn Jahre bekannt. Doch statt Kunden und Behörden zu informieren, wurde in Detroit gelogen und vertuscht. So kam es, dass mindestens 13, vielleicht aber auch bis zu 300 Kunden in defekten Autos ihr Leben ließen. GM-Chefin Mary Barra wird wegen des Skandals mehrfach von Vertretern des US-Parlaments in die Zange genommen und blamiert sich dabei, weil sie Daten nicht kennt oder nicht preisgeben will. Oder auch, weil sie weiter zu einem Top-Juristen des Konzerns hält, dem ein Teil der Versäumnisse anzulasten ist.
Warum es immer mehr Rückrufe gibt
Die technische Komplexität ist in den letzten 10 bis 15 Jahren enorm gestiegen. Das macht die Autos fehleranfälliger. Ausgerechnet die Sicherheitssysteme wie ABS, ESP, Airbags und Fahrassistenzsysteme tragen zu mehr Komplexität bei. Außerdem motortechnische Optimierungen wie Start/Stopp-Systeme, Aufladung etc. und Komfortmerkmale wie etwa Navigations-, Telefon und Internetdienste im Fahrzeuge.
Die Produktentwicklungszyklen wurden in den vergangenen zehn Jahren deutlich verkürzt. Wer es schafft, mit neuen Modellen bzw. -varianten schnell am Markt zu sein, hat im globalen Wettbewerb Vorteile. Der hohe Zeitdruck in der Produktentwicklung wirkt sich negativ auf die Qualitätssicherung aus.
Der Wertschöpfungsanteil der Zulieferer liegt mittlerweile bei rund 75 Prozent Gleichzeitig steigen mit dieser Verlagerung die Anforderungen an unternehmensübergreifendes Qualitätsmanagement - und das auch noch global. Nicht nur die Produkte, sondern auch durch Prozesse der globalen Lieferanten müssen gesichert werden. Andererseits steigt die Komplexität eines Qualitätsmanagement auch dadurch, dass die Automobilhersteller nicht nur die zugelieferten Teile, sondern meist auch die Qualität der international verteilten Produktionsanlagen ihrer Zulieferer einschätzen und durch Prozesse absichern müssen.
Die Automobilhersteller stehen aufgrund der hohen Wettbewerbsintensität unter enormen Kostendruck. Gleichzeitig geben die Hersteller den Kostendruck an die Automobilzulieferer weiter, die dazu angehalten sind, ihre eigene Kosten bzw. die ihrer Teile- bzw. Rohstofflieferanten zu drücken. Hier besteht die Gefahr, dass der Kostendruck auf zu Ungunsten der Teile- bzw. Produktqualität geht.
Als Toyota ab 2009 rund 4,5 Millionen Fahrzeugen zurückrief, kehrten die Amerikaner dem Hersteller in Scharen den Rücken. Der US-Marktanteil – vor der Wirtschaftskrise von 2009 und den Rückrufen noch bei 16 Prozent – stürzte auf rund 12 Prozent. Aus einer aufstrebenden Nummer zwei des US-Marktes wurde eine schwache Nummer drei, nicht mehr weit entfernt von Platz vier. Da half auch das schonungslose Mea culpa des Toyota-Chefs nicht viel. Nötig war sein Schuldeingeständnis rückblickend eigentlich nicht, denn die meisten Unfälle gingen nicht auf Mängel, sondern auf Fahrfehler zurück. Nach Expertensicht ist und bleibt Toyota einer der Hersteller mit den höchsten Qualitätsansprüchen.
Und bei GM? Ist alles anders. Hier ist der Zusammenhang zwischen den Toten und den Qualitätsmängeln weitgehend unstrittig. Doch obwohl 55 Prozent der Amerikaner, die den Skandal verfolgt haben, der Ansicht sind, dass GM die Probleme armselig gemangt hat, wird ihre Kaufentscheidung davon kaum beeinflusst. Knapp 90 Prozent der Amerikaner sagen, die Mängel und der skandalöse Umgang von GM damit beeinflusse ihre Kaufentscheidung „überhaupt nicht“ oder „eher nicht“. Nur jeder zwanzigste Autokäufer hält es für „eher wahrscheinlich“, dass ihn die Mängel vom Kauf eines GM-Produkts abhalten werden.
Vertrauen ist nicht zu erschüttern
Entsprechend entspannt sind die Anleger. Als deutlich zu hoch bewertet galt die GM-Aktie, als sie nach der Insolvenz des Konzerns Ende 2010 mit rund 34 Dollar an die Börse zurückkehrte. Nach einem langen Sinkflug auf unter 20 Dollar stieg sie jedoch seit Sommer 2012 unaufhörlich und steht nun bei rund 36 Dollar. Die Rückrufe sorgten wohl für eine Abwertung von zwei, drei Dollar, konnten aber das Vertrauen der Anleger in die Aktie nicht wirklich erschüttern.
Wie macht das GM-Chefin Marry Barra? Was macht sie besser als Toyota-Boss Akio Toyoda? Barras ebenso simpler wie wertvoller Trumpf sind die Wagen in den GM-Autohäusern. Sie sind – anders als etwa die Modelle des Angreifers VW – perfekt auf die amerikanischen Kunden zugeschnitten. Zudem sind sie preislich attraktiv und qualitativ scheinbar führend: In dem für den US-Markt maßgeblichen Qualitätsranking von J.D. Power, das in 22 Fahrzeugkategorien die technisch zuverlässigsten Modelle nach drei Jahren auf der Straße (also Baujahr 2011) auszeichnet, ist GM der strahlende Gesamtsieger. In acht Kategorien gewinnt GM, vor Toyota und Honda. Das ist kaum noch steigerungsfähig.
Kunden und Investoren werden von der gleichen Sichtweise geleitet: Die Rückrufe beträfen ein ansonsten abgeschlossenes Kapitel aus der Vergangenheit – die Zeit vor der Insolvenz. Heute sei alles anders, glauben sie. „New GM“ baue qualitativ einwandfreie Autos und müsse Rückrufe nicht mehr fürchten, als alle anderen großen Hersteller. Nachdem der Konzern einige hundert Millionen Dollar an zusätzlichen Kosten (Reparaturen, Schadenersatzzahlungen, Beratung, Rechtsanwälte) verkraftet habe, sei das Kapitel endgültig abgehakt.
Sie werden wohl recht behalten – vorausgesetzt die Rückruf-Welle endet bald. Wenn nicht, kann das Wunder von Barra schnell Geschichte sein.