Leoni Eine Pannenserie, die nicht abreißen will

Ex-Entwickler verklagen den Zulieferer Leoni auf Schadensersatz - und nehmen die halbe Autoindustrie mit ins Visier. Die Hintergründe sind mysteriös.

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Ein Klage gegen den Zulieferer Leoni mischt die gesamte Branche auf. Quelle: dpa

Knuth Götz ist gekommen, um anzuklagen: Seinen früheren Arbeitgeber, seinen früheren Chef, seine frühere Branche. Auf der Hauptversammlung des Nürnberger Kabel- und Bordnetzherstellers Leoni tritt der Ingenieur ans Podium und faltet einen Zettel auseinander. Gut 20 Fragen hat er formuliert, fast eine Stunde lang liest er eine nach der anderen vor. Die Vorwürfe sind schwer – und kompliziert. Doch Götz lässt sich nicht beirren. Seine Stimme zittert gelegentlich, fängt sich wieder, fängt wieder an zu zittern. Aber Götz ist sich seiner Sache sicher, als er sagt: „Erklären Sie uns bitte, wie es sein kann, dass Sie über 40 Patente erst teuer erarbeiten, dann fallen lassen oder Dritten übereignen, während gleichzeitig Kunden da sind, die diese Produkte wollen?“ So wurde nämlich, findet Götz, mit einigen seiner Entwicklungen umgegangen, als er noch hochrangiger Entwickler bei Leoni war. Er fühlt sich um den Wert eines Großteils seiner Arbeit gebracht, die Leoni einfach über Nacht habe fallen lassen. „Welche Gegenleistung hat Leoni dafür erhalten?“, fragt Götz. Die meisten Anleger stöhnen ob der vielen Fragen, sie wollen schnell wieder nach Hause. Doch womöglich werden Götz’ Fragen den Konzern noch länger beschäftigen, seine Anleger teuer zu stehen kommen.

Wissenswertes zu Leoni

Nun schlagen sich das Unternehmen und sein Vorstandschef Dieter Bellé schon seit einigen Jahren mit einer beeindruckenden Pannenserie herum. Da waren Kapazitätsprobleme, die 2015 erst Neueinstellungen erforderten und im vergangenen Jahr wieder Tausende Entlassungen. Da war ein Reinfall auf Trickbetrüger im Internet im vergangenen Jahr, der 40 Millionen Euro kostete. Doch dank des Booms der wichtigsten Kunden – der Kabelzulieferer arbeitet vor allem für die Autoindustrie – überstand das Unternehmen alle Rückschläge unbeschadet. Hauptversammlungsrebell Götz aber verschafft Bellé und seinen Kollegen womöglich ein Problem in ganz neuer Dimension.

Zusammen mit Götz erheben ehemalige Angestellte des Konzerns schwere Vorwürfe gegen Leoni: Das Unternehmen habe Patente, die diese entwickelten, bewusst nicht genutzt und später wichtigen Kunden aus der Autoindustrie einfach so überlassen. Die Kläger verlangen nun, für diese Patente entschädigt zu werden. 30 Millionen Euro fordern sie von Leoni, dazu möglicherweise weiteren Schadensersatz von nahezu allen großen deutschen Autokonzernen, die von der angeblichen Patentüberlassung profitiert haben sollen. Um ihre Ansprüche durchzusetzen, wollen sie sich sogar mit der in der Autoindustrie verhassten Zuliefererfamilie Hastor zusammentun. Einigen sich die Beteiligten nicht, droht ein schillerndes Verfahren, das allerlei Einblicke in das dubiose Verhältnis zwischen Autokonzernen und Zulieferern gewähren dürfte.

Die weltweit größten Autozulieferer

Millionen für nichts?

Götz war von 1999 bis 2005 in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Leoni beschäftigt. In dieser Zeit entwickelte der Ingenieur mit Kollegen eine Technologie, die nach seiner Aussage „die Produktion von Schaltungsträgern revolutioniert“. Zuletzt als stellvertretender Leiter. Er wirft dem Unternehmen vor: „Leoni hat uns geschadet, indem unsere Erfindung einfach verschenkt wurde – und sich selbst, weil das Unternehmen auf eine wichtige Zukunftstechnologie lieber verzichtet hat, als sie zu vermarkten.“

Die ganze Dimension des Vorwurfs versteht nur, wer sich mit Leonis Geschäftsmodell auseinandersetzt. Leoni ist mit 4,4 Milliarden Euro Umsatz Marktführer für Bordnetze in Europa. Das Unternehmen baut die Kabelsysteme für den Volkswagen-Konzern, Daimler und BMW. In mehr als 30 Ländern werden die Kabelstränge von Zehntausenden Angestellten per Hand gefertigt. In den Werken der Autobauer wiederum verlegen deren Arbeiter die insgesamt drei Kilometer langen Leitungen in die Karosserie, ebenfalls per Hand. Automatisieren lässt sich der Vorgang, der von der Fertigung bis zur Lieferung etwa vier Tage dauert, nur schwer.

Götz behauptet: Sie hätten etwas entwickelt, das dieses Prozedere vereinfacht, eine Technik namens Flamecon. Mit Flamecon ließen sich ebenfalls Kabelbäume herstellen – allerdings nicht per Hand, sondern im 3-D-Druckverfahren mit einem Roboterarm. Von der Bestellung bis zum fertigen Bauteil dauere das weniger als 18 Stunden. Und weil die Roboter direkt in der Produktionsstraße der Autobauer eingesetzt würden, entfiele die Lieferung. Kostenersparnis nach Berechnungen von Götz: bis zu 25 Prozent.

Die halbe deutsche Auto- und Zuliefererindustrie im Visier

Leoni schien lange vom Potenzial der Technik überzeugt. Im Geschäftsbericht von 2008 pries der Vorstand Flamecon als „innovatives Verfahren, das neue Dimensionen“ eröffne. Fünf Millionen Euro hat der Konzern von 2003 bis 2011 in die Entwicklung gesteckt, auch öffentliche Gremien bezuschussten die Entwicklung. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches: Trotz des vielen Lobes verschwand Flamecon ab 2010 aus den Finanzpublikationen von Leoni. Abgesehen von einigen Prototypen, die Leoni für eine niedrige sechsstellige Summe an Bosch verkaufte, wurden „keine Umsätze mit Flamecon generiert“, erklärt das Unternehmen. „Unsere mehrjährigen Bemühungen haben sich leider als nicht fruchtbar erwiesen. Eine Fortführung war aus wirtschaftlichen Gründen nicht angezeigt.“

von Martin Seiwert, Annina Reimann

Ein schwerer Verdacht

Erfinder Götz hält das für Ausflüchte. Er und weitere Ex-Angestellte sind überzeugt, dass Leoni die Technik absichtlich hat fallen lassen. Dabei verpflichtet das Arbeitnehmererfindungsgesetz Leoni eigentlich, die Erfinder bei einer erfolgreichen Vermarktung zu vergüten oder ihnen das Patent anzubieten, bevor es fallen gelassen wird.

Doch Götz will erfahren haben, dass seine Erfindung längst im Einsatz sei. Nur nicht bei Leoni, sondern in der Autoindustrie, bei wichtigen Leoni-Kunden. Und natürlich ohne Patentgebühren. Götz sagt: „Wir haben Leoni seit 2009 mehrfach auf Patentverletzungen durch andere Unternehmen, zum Teil auch Kunden, hingewiesen.“ Passiert sei nichts. Leoni dagegen steht auf dem Standpunkt, dass die Erfinder die Patente zu weit auslegen.

Die größten Auto-Zulieferer der Welt
Faurecia Quelle: Presse
Platz 9: Michelin (Frankreich)Umsatz 2016: 20,907 Milliarden EuroUmsatz 2015: 21,199 Milliarden EuroVeränderung: -1,4 ProzentHauptprodukte: Reifen Michelin ist der zweitgrößte Reifenhersteller Europas. In dem Ranking der Beratungsgesellschaft Berylls zählt nur der Umsatz aus dem Geschäft mit Autoteilen – im Falle von Michelin bleiben also die Umsätze mit Straßenkarten sowie den Hotel- und Restaurantführern außen vor. Quelle: REUTERS
Bridgestone-Firestone Quelle: AP
Platz 7: Aisin (Japan)Umsatz 2016: 27,977 Milliarden Euro Umsatz 2015: 24,133 Milliarden EuroVeränderung: +15,9 ProzentHauptprodukte: Getriebe, Bremssysteme, Karosserie- und Motorenteile Aisin gehört zum Teil zu Toyota, die restlichen Anteile liegen aber auch in den Händen japanischer Unternehmen und Banken. Neben manuellen und Automatikgetrieben stellt Aisin vor allem Bremsen und Navigationssysteme her. Quelle: PR
Platz 6: Hyundai Mobis (Südkorea)Umsatz 2016: 30,227 Milliarden Euro Umsatz 2015: 28,096 Milliarden EuroVeränderung: +7,6 ProzentHauptprodukte: Cockpit-, Frontend- und Chassismodule Mobis gehört zum koreanischen Autobauer Hyundai. Mobis beliefert aber nicht nur die Konzernmarken Hyundai und Kia, sondern arbeitet auch mit anderen Autobauern zusammen. Quelle: PR
ZF Friedrichshafen Quelle: dpa
Magna Quelle: dpa

Die Klägeranwälte haben die halbe deutsche Auto- und Zuliefererindustrie mit im Visier. VW, Daimler, Bosch, Osram, Brose und Hella sind nur die größten Namen, die die Kanzleien Derra, Kehl/Ascherl und Ampersand im Auftrag der Erfinder kontaktiert haben. Sie alle sollen, so der Vorwurf, die Flamecon-Technologie in ihrer Produktion einsetzen. Auf Anfrage dementieren alle Unternehmen, Flamecon einzusetzen.

Den Argwohn der Ingenieure verstärken einige personelle Verflechtungen: So lässt sich Leoni in dem Fall von Kurt Bartenbach von der Kanzlei Cornelius, Bartenbach, Haesemann und Partner (CBH) vertreten. Der liegt zwar als Verteidiger für den Fall einerseits nahe, weil er in dem Themengebiet als Koryphäe gilt. Andererseits vertritt Bartenbach in einem anderen Verfahren auch Volkswagen, also einen der möglichen Nutznießer der scheinbar unkontrollierten Flamecon-Benutzung. Ein Anwalt aber, der Patentinhaber (Leoni) und möglichen „Rechteverletzer“ (VW) vertritt? Auf Anfrage verweist Bartenbach auf seine Verschwiegenheitspflicht.

Die Flamecon-Erfinder haben einen Verdacht, wie es dennoch zu der Personalie gekommen sein könnte. „Wir glauben, dass Leoni die Technik inoffiziell an VW und andere weitergegeben hat oder die Nutzung zumindest duldet“, sagt Götz. Auch diesen Vorwurf weist Leoni von sich.

Einer, der mehr darüber wissen dürfte, ist der ehemalige Leoni-Vorstandschef Klaus Probst. Er hat die Einstellung des Flamecon-Projekts einst veranlasst. Seit der Hauptversammlung in der Frankenhalle firmiert er nun als neuer Aufsichtsratschef von Leoni. Als solcher ist Probst damit beauftragt, etwaige Verstöße des Vorstands in der Causa zu verfolgen; also Verstöße, die in seine eigene Amtszeit als Chef fallen.

Zudem hat Probst noch einen weiteren Aufsichtsratsvorsitz: bei Grammer, einem Pkw-Sitzhersteller aus dem bayrischen Amberg. Dort soll er mit VW einen Schlachtplan erdacht haben, der die bosnische Familie Hastor an der Übernahme Grammers hindert, so lautet der Vorwurf des Hastor-Anwalts Franz Enderle. Probst bestreitet, in Bezug auf Flamecon Kontakt zu Volkswagen gehabt zu haben.

Woher kommen die Hastors?
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus
Hastor Quelle: Jasmin Brutus

Götz hat sich deshalb nun an Probsts Gegner bei Grammer, die Hastors, gewandt. Seine Anwälte verhandeln mit ihnen über eine mögliche Klagebeteiligung. Den Bosniern bliebe so nicht nur die Möglichkeit, gegen die Personalie Probst, sondern auch gegen den Rivalen VW vorzugehen.

Die Erfinder denken darüber hinaus: Sie verhandeln mit Interessenten über eine Vermarktung der Technik. Ein französischer Zulieferer plant nach Angaben der Erfinder sogar, seine mehr als 100 Produktionsstätten mit Flamecon auszurüsten. Auch Deutsche sollen Interesse signalisiert haben.

Für eine Technik, für die Leoni keine wirtschaftliche Perspektive sah, doch ein reges Interesse.

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