
Knuth Götz ist gekommen, um anzuklagen: Seinen früheren Arbeitgeber, seinen früheren Chef, seine frühere Branche. Auf der Hauptversammlung des Nürnberger Kabel- und Bordnetzherstellers Leoni tritt der Ingenieur ans Podium und faltet einen Zettel auseinander. Gut 20 Fragen hat er formuliert, fast eine Stunde lang liest er eine nach der anderen vor. Die Vorwürfe sind schwer – und kompliziert. Doch Götz lässt sich nicht beirren. Seine Stimme zittert gelegentlich, fängt sich wieder, fängt wieder an zu zittern. Aber Götz ist sich seiner Sache sicher, als er sagt: „Erklären Sie uns bitte, wie es sein kann, dass Sie über 40 Patente erst teuer erarbeiten, dann fallen lassen oder Dritten übereignen, während gleichzeitig Kunden da sind, die diese Produkte wollen?“ So wurde nämlich, findet Götz, mit einigen seiner Entwicklungen umgegangen, als er noch hochrangiger Entwickler bei Leoni war. Er fühlt sich um den Wert eines Großteils seiner Arbeit gebracht, die Leoni einfach über Nacht habe fallen lassen. „Welche Gegenleistung hat Leoni dafür erhalten?“, fragt Götz. Die meisten Anleger stöhnen ob der vielen Fragen, sie wollen schnell wieder nach Hause. Doch womöglich werden Götz’ Fragen den Konzern noch länger beschäftigen, seine Anleger teuer zu stehen kommen.
Wissenswertes zu Leoni
Gründung: Leoni wurde 1917 gegründet, war ab 2002 im deutschen MDax notiert und stieg 2018 in den SDax ab
Konzernumsatz: 5,1 Milliarden Euro in 2018
Beschäftigtenzahl: rund 92.000 Mitarbeiter in 32 Ländern
Produkte: Drähte, optische Fasern, Kabel und Kabelsysteme; hauptsächlich für die Automobilindustrie von der einadrigen Fahrzeugleitung bis zum kompletten Bordnetz-System mit integrierter Elektronik. Darüber hinaus umfasst das Leistungsspektrum Drähte und Litzen, Glasfaserkabel, standardisierte Leitungen sowie Spezialkabel und komplett konfektionierte Systeme für Anwendungen in unterschiedlichen industriellen Märkten
Quelle: Leoni, Stand 2018
...begann der Franzose Anthoni Fournier mit einer Handvoll Mitarbeitern in Nürnberg die Herstellung feinster Gold- und Silberdrähte. Seine Söhne führten die Produktion fort und erweiterten sie.
...ging aus diesen Anfängen die Leonische Werke Roth-Nürnberg AG hervor.
...firmiert das Unternehmen dann in die AG um.
Nun schlagen sich das Unternehmen und sein Vorstandschef Dieter Bellé schon seit einigen Jahren mit einer beeindruckenden Pannenserie herum. Da waren Kapazitätsprobleme, die 2015 erst Neueinstellungen erforderten und im vergangenen Jahr wieder Tausende Entlassungen. Da war ein Reinfall auf Trickbetrüger im Internet im vergangenen Jahr, der 40 Millionen Euro kostete. Doch dank des Booms der wichtigsten Kunden – der Kabelzulieferer arbeitet vor allem für die Autoindustrie – überstand das Unternehmen alle Rückschläge unbeschadet. Hauptversammlungsrebell Götz aber verschafft Bellé und seinen Kollegen womöglich ein Problem in ganz neuer Dimension.
Zusammen mit Götz erheben ehemalige Angestellte des Konzerns schwere Vorwürfe gegen Leoni: Das Unternehmen habe Patente, die diese entwickelten, bewusst nicht genutzt und später wichtigen Kunden aus der Autoindustrie einfach so überlassen. Die Kläger verlangen nun, für diese Patente entschädigt zu werden. 30 Millionen Euro fordern sie von Leoni, dazu möglicherweise weiteren Schadensersatz von nahezu allen großen deutschen Autokonzernen, die von der angeblichen Patentüberlassung profitiert haben sollen. Um ihre Ansprüche durchzusetzen, wollen sie sich sogar mit der in der Autoindustrie verhassten Zuliefererfamilie Hastor zusammentun. Einigen sich die Beteiligten nicht, droht ein schillerndes Verfahren, das allerlei Einblicke in das dubiose Verhältnis zwischen Autokonzernen und Zulieferern gewähren dürfte.
Die weltweit größten Autozulieferer
Faurecia (Frankreich)
Umsatz 2016: 18,711 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 18,770 Milliarden Euro
Veränderung: -0,3 Prozent
Hauptprodukte: Sitze und Innenausstattung
Quelle: Berylls Strategy Advisors, Stand: Juni 2017
Michelin (Frankreich)
Umsatz 2016: 20,907 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 21,199 Milliarden Euro
Veränderung: -1,4 Prozent
Hauptprodukte: Reifen
Bridgestone-Firestone (Japan)
Umsatz 2016: 22,485 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 24,094 Milliarden Euro
Veränderung: -6,7 Prozent
Hauptprodukte: Reifen
Aisin (Japan)
Umsatz 2016: 27,977 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 24,133 Milliarden Euro
Veränderung: +15,9 Prozent
Hauptprodukte: Getriebe, Bremssysteme, Karosserie- und Motorenteile
Hyundai Mobis (Südkorea)
Umsatz 2016: 30,227 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 28,096 Milliarden Euro
Veränderung: +7,6 Prozent
Hauptprodukte: Cockpit-, Frontend- und Chassismodule
ZF Friedrichshafen (Deutschland)
Umsatz 2016: 32,353 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 27,113 Milliarden Euro
Veränderung: +19,3 Prozent
Hauptprodukte: Fahrwerks- und Antriebssysteme, Elektronik/Software
Magna (Kanada)
Umsatz 2016: 34,587 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 29,408 Milliarden Euro
Veränderung: +17,6 Prozent
Hauptprodukte: Karosserie & Fahrwerksysteme, Exterieur-Ausstattungen
Denso (Japan)
Umsatz 2016: 36,301 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 34,299 Milliarden Euro
Veränderung: +5,8 Prozent
Hauptprodukte: Klimasysteme, Motorsteuerung, Human-Machine-Interface
Continental (Deutschland)
Umsatz 2016: 40,550 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 39,232 Milliarden Euro
Veränderung: +3,4 Prozent
Hauptprodukte: Brems-, Fahrwerk- und Sicherheitssysteme, Reifen
Bosch (Deutschland)
Umsatz 2016: 43.936 Milliarden Euro
Umsatz 2015: 41,657 Milliarden Euro
Veränderung: +5,5 Prozent
Hauptprodukte: Antriebs-, Sicherheits- und Komfortsysteme
Millionen für nichts?
Götz war von 1999 bis 2005 in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Leoni beschäftigt. In dieser Zeit entwickelte der Ingenieur mit Kollegen eine Technologie, die nach seiner Aussage „die Produktion von Schaltungsträgern revolutioniert“. Zuletzt als stellvertretender Leiter. Er wirft dem Unternehmen vor: „Leoni hat uns geschadet, indem unsere Erfindung einfach verschenkt wurde – und sich selbst, weil das Unternehmen auf eine wichtige Zukunftstechnologie lieber verzichtet hat, als sie zu vermarkten.“
Die ganze Dimension des Vorwurfs versteht nur, wer sich mit Leonis Geschäftsmodell auseinandersetzt. Leoni ist mit 4,4 Milliarden Euro Umsatz Marktführer für Bordnetze in Europa. Das Unternehmen baut die Kabelsysteme für den Volkswagen-Konzern, Daimler und BMW. In mehr als 30 Ländern werden die Kabelstränge von Zehntausenden Angestellten per Hand gefertigt. In den Werken der Autobauer wiederum verlegen deren Arbeiter die insgesamt drei Kilometer langen Leitungen in die Karosserie, ebenfalls per Hand. Automatisieren lässt sich der Vorgang, der von der Fertigung bis zur Lieferung etwa vier Tage dauert, nur schwer.
Götz behauptet: Sie hätten etwas entwickelt, das dieses Prozedere vereinfacht, eine Technik namens Flamecon. Mit Flamecon ließen sich ebenfalls Kabelbäume herstellen – allerdings nicht per Hand, sondern im 3-D-Druckverfahren mit einem Roboterarm. Von der Bestellung bis zum fertigen Bauteil dauere das weniger als 18 Stunden. Und weil die Roboter direkt in der Produktionsstraße der Autobauer eingesetzt würden, entfiele die Lieferung. Kostenersparnis nach Berechnungen von Götz: bis zu 25 Prozent.