Mercedes startet Selbstfahrfunktion Level 3 Mercedes EQS: Autonom unterwegs – aber nur wenn die Sonne scheint

Der Mercedes EQS mit Drive Pilot bei einer Fahrt durch Berlin Quelle: Mercedes-Benz

Mercedes-Kunden können ab Mitte Mai eine Sonderausstattung buchen, die eine S-Klasse oder einen EQS autonom fahren lässt. Der Konzern ist weltweit Vorreiter. Aber das System hat seine Tücken. Ein Erfahrungsbericht.

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Ich erinnere mich noch gut an den Nachmittag im September. Ein bisschen aufgeregt stieg ich in das Entwicklungsfahrzeug von Mercedes. Es war ein vollelektrischer EQS. An Bord hatte das Auto den „Drive Pilot“ – ein damals so gut wie fertig entwickeltes System für hochautomatisiertes Fahren des Level 3, das es dem Auto auf der Autobahn erlaubt, eigenständig zu fahren. Zumindest bei hohem Verkehrsaufkommen oder im Stau, wenn der Verkehr nicht schneller als 60 Stundenkilometer dahinrollt. Dann darf das Auto das Fahren übernehmen, das System regelt Geschwindigkeit und Abstand und führt das Fahrzeug innerhalb der Spur.

Hinter dem Steuer saß im September noch ein Softwareingenieur von Mercedes, um notfalls einzugreifen. Er wollte mir zeigen, wie weit Mercedes schon mit dieser ganz neuen Sonderausstattung war. Einer Sonderausstattung, die für die deutsche Autoindustrie eine Revolution bedeutet – und der ich nun aber doch etwas skeptisch gegenüberstehe.

Bis zu 8842 Euro extra kostet der Drive Pilot

Doch der Reihe nach: Natürlich ist es gut, dass mit Mercedes ein deutscher Autobauer weltweit der erste ist, dem es gelungen ist, diese international gültige Zertifizierung für hochautomatisiertes Fahren zu erlangen. Nun fangen die Stuttgarter auf dem deutschen Markt an. Sie haben dafür einiges getan: Sie fuhren 13.191 Kilometer der deutschen Autobahnen ab. Sie verbauen neben Radar, Lidar und Kameras auch Ultraschall- oder Nässesensoren. Sie legen das System doppelt an – falls eins ausfällt, soll es trotzdem noch funktionieren. Ab 17. Mai können Kunden die Sonderfunktion hinzubuchen. Das System kostet 5950 Euro (inklusive Mehrwertsteuer) in der S-Klasse und 8842 Euro im EQS.

Doch das autonome Fahrsystem arbeitet noch vergleichsweise rudimentär. Damit man es überhaupt nutzen kann, muss man A: auf einer Autobahn fahren und B: im stockenden Verkehr. Sehr häufig findet man eine solche Situation aufgrund von Baustellen – doch dann kann das Auto das Fahren leider nicht übernehmen. Im Fahrtest aus dem September 2021 zeigte sich, dass die Fahrbahnmarkierungen für das System mitunter zu unübersichtlich waren – das gilt auch für die jetzt am Markt verfügbare Variante. Überfordert wäre das System dann, wenn ein Bauarbeiter am Fahrbahnrand auftauchen würde. Da würde das System laut Mercedes abschalten: Fahrer, bitte übernehmen! Und auch bei Unfällen wird es mitunter schwierig. Kommt zum Beispiel ein Rettungswagen, übergibt das System wieder an den Fahrer.

Sensoren nass oder verdreckt? Fahrer, bitte übernehmen!

Und nicht nur Menschen hassen schlechtes Wetter – sondern offenbar auch der Drive Pilot. Spritzt zu viel Regenwasser am Auto hoch und verdrecken die Sensoren, muss der Fahrer wieder selbst ran. Wer also den Drive Pilot nutzen möchte, braucht immer ein gut geputztes Auto und ordentliche Wetterverhältnisse.

Der Winter ist per se eine Herausforderung. Denn bei Temperaturen unter vier Grad Celsius schaltet sich das System ab – schließlich könnte ja die Fahrbahn vereisen oder Bremswege nicht mehr berechenbar sein. Und auch dann, wenn die Lichtverhältnisse nicht stimmen oder der Tunnel zu lang ist, wird es nichts mit dem Lesen während der Fahrt. Fahrer, übernehmen! Piep, piep, blink, blink.

E-Limousine EQS in Bildern
Daimlers E-Limousine EQS feiert Premiere Quelle: Daimler
Bisher konnten Mercedes-Fans zwischen drei E-Autos wählen: Nach dem Mittelklasse-SUV EQC und dem Großraum-Van EQV kam im Januar der EQA hinzu. Alle drei basieren auf bekannten Verbrenner-Modellen. Quelle: Daimler
Im Gegensatz dazu setzt Daimler den EQS als erstes Modell auf der neuen E-Plattform Electric Vehicle Architecture (EVA) auf. Quelle: Daimler
Neben der Limousine sind vier weitere E-Modelle auf der gleichen Plattform geplant. Quelle: Daimler
Statt kantigem Look, wie man ihn vor allem von älteren Daimler-Modellen kennt, setzt der Konzern beim EQS mit dem sogenannten „One-Bow“-Design, wie Chef Ola Källenius es nennt, auf fließende Formen. Quelle: Daimler
Die elegant geschwungenen Linien finden sich auch im luxuriösen Cockpit wieder, das in voller Breite von einem 1,41 Meter breiten Hyperscreen beherrscht wird. Quelle: Daimler
Bei seinem Elektro-Flaggschiff EQS führt Mercedes erstmals einen HEPA-Luftfilter ein. Er soll feine Partikel, Stickoxide und Krankheitserreger aus der Atemluft filtern. Eine Aktivkohleschicht neutralisiert zudem üble Gerüche. Das neue Luft-Reinigungssystem ist Bestandteil der Sonderausstattung „Energizing Air Control Plus“, Preise für das Fahrzeug oder die Option sind noch nicht bekannt. Quelle: Daimler

Auch Augen zu machen oder den Sitz verstellen geht nicht: Eine Kamera überwacht permanent die Augen des Fahrers. Schließt der die Augen, schaltet das System ab und bittet den Fahrer, das Steuer wieder zu übernehmen. Gleiches passiert, wenn der Sitz nach hinten geschoben wird – denn dann wären ja die Füße zu weit entfernt vom Bremspedal. Es sich also im Stau mal gemütlich zu machen, daraus wird leider nichts.

Unnatürliches Fahrverhalten irritiert andere Verkehrsteilnehmer

Etwas realitätsfern verhält sich das autonom fahrende Auto dann im Normalbetrieb. Mercedes hat es so programmiert, dass es sich immer exakt an die Verkehrsregeln hält. Wie auch sonst? Mercedes macht eben das, was der Gesetzgeber verlangt. Doch im echten Leben hält eben kaum ein Autofahrer immer genau auf den Punkt die Geschwindigkeitsbegrenzung ein. Bei der Testfahrt mutierte das Entwicklungsfahrzeug daher zu einer Art rollendem Verkehrshindernis. Ständig hing uns jemand im Kofferraum, weil der autonome EQS unnatürlich langsam fuhr.

Einmal blinkte gar ein Lkw auf, der auf die Fahrspur des EQS wechseln wollte. Doch das Auto gab die Spur nicht sofort frei. Erst beschleunigte es. Dann bremste es wieder und verharrte auf der Nebenspur exakt am Heck des Lkw. So konnte der Lkw nicht einscheren – ein menschlicher Fahrer hätte sich vermutlich zurückfallen lassen und hätte dem Lkw Platz gemacht – oder er wäre links rübergefahren und hätte die Spur gänzlich freigegeben. So aber verhielt sich der Drive Pilot zwar stets korrekt und das Fahren war sicher – aber absolut unnatürlich und damit wenig kalkulierbar für menschliche Fahrer. 

Level 3, das bedeutet eben noch, dass der Fahrer jederzeit bereit sein muss, die Kontrolle über das Fahrzeug zu übernehmen, wenn er durch das Fahrzeug dazu aufgefordert wird.

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Und so lässt sich festhalten: Für tausende Euro bekommen Premiumfahrer eine Schönwetterfunktion, die in der Zukunft wohl noch deutlich verbessert werden muss. Und doch ist es richtig, überhaupt einmal anzufangen. Glückwunsch also, Mercedes! 

Lesen Sie auch: Mit der autonomen S-Klasse unterwegs in Los Angeles. Mercedes-Benz Drive Pilot, das erste behördlich zugelassene autonome Fahrsystem für Privatfahrzeuge, soll beweisen, dass auch die Deutschen Ahnung von Software haben. Was taugt es in der Praxis?

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