Im milliardenschweren Schadenersatzprozess von Anlegern gegen Volkswagen und Porsche hat das Gericht das Verhalten des früheren Konzernchefs Martin Winterkorn kritisiert. Richter Christian Jäde sagte, der damalige Vorstandsvorsitzende habe den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und darüber informiert, nachdem er beim sogenannten „Schadenstisch“-Termin im Juli 2015 von den technischen Veränderungen zur Abgasmanipulation in den USA erfahren habe. Bei einem „redlich Handelnden“ wäre davon auszugehen, dass er den Informationen nachgegangen wäre. „Das ist allerdings wohl nicht geschehen“, sagte der Vorsitzende Richter am Dienstag. Jedenfalls sei nicht ersichtlich, warum die Veränderungen an Dieselfahrzeugen nicht offengelegt worden seien.
Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig verhandelt über eine Klage der Fondsgesellschaft Deka Investment wegen erlittener Kursverluste. Hinter der Musterklägerin stehen knapp 1700 vergleichbare Fälle, die Summe der Forderungen beläuft sich auf rund neun Milliarden Euro.
Der Richter sagte, Volkswagen könne sich nur dann auf ein Geheimhaltungsinteresse aus Selbstschutz berufen, wenn der Konzern mit den US-Behörden nach Kräften kooperiert und zu einer raschen Aufklärung beigetragen hätte. Das sei aber offensichtlich nicht der Fall gewesen. Der Wolfsburger Konzern argumentiert damit, dass er die Börse nicht über die Abgasmanipulation informierte, um die Verhandlungen mit den US-Behörden nicht zu gefährden.
Jäde ließ durchblicken, dass er vermutet, dass Winterkorn womöglich noch früher von der Existenz einer Abschalteinrichtung wusste. Der Vortrag der Kläger diesbezüglich sei aus seiner Sicht „nicht aus dem Blauen heraus“ erfolgt. Winterkorn habe 2008 bei einem Motorensymposium einen Vortrag über die Dieselstrategie in den USA gehalten. Da die Deutsche Umwelthilfe vorher über Abschalteinrichtungen berichtet habe, sei davon auszugehen, dass einem Manager mit dem technischen Verständnis Winterkorns dies bekannt gewesen sein musste. VW-Anwalt Thomas Liebscher entgegnete, er tue sich mit den Schlussfolgerungen schwer. Man könne Winterkorn nicht unterstellen, dass er sich auch mit Softwarefunktionen auskenne.
Als eine der schwierigsten Rechtsfragen in dem Kapitalanleger-Musterverfahren bezeichnete der Senat die Frage, auf wessen Kenntnis des Einsatzes der Abschaltautomatik es ankomme. Muss ein Vorstandsmitglied vom Einsatz gewusst haben, oder reicht es bereits aus, dass ein leitender Mitarbeiter der Motorentwicklung von VW hiervon wusste? Nach Meinung der Kläger ist nicht entscheidend, ob Winterkorn oder dem aktuellen Konzernlenker Herbert Diess, der an dem Schadenstisch-Treffen 2015 als VW-Markenchef dabei war, eine Mitwisserschaft nachgewiesen werden kann. Die Haftung des Unternehmens gelte auch für „verfassungsmäßig berufene Vertreter“. Das sind Führungskräfte, die wesentliche Aufgaben erfüllen, also etwa Leiter der Entwicklungsabteilung und Markenvorstände.
Laut Jäde hätte Volkswagen womöglich schon beim Geständnis gegenüber der kalifornischen Umweltbehörde CARB am 19. August 2015 eine Pflichtmitteilung an die Börse herausgeben müssen. Denn bereits zu dem Zeitpunkt hätten die Folgen der Abgasmanipulation absehbar sein können. Ein verständiger Anleger wäre damals jedenfalls von einer hohen Wahrscheinlichkeit ausgegangen, dass der Dieselskandal aufgedeckt würde. Für die rechtliche Beurteilung komme es allerdings auf eine Gesamtschau aller Informationen an.
Volkswagen macht geltend, die Kursrelevanz sei erst durch die Veröffentlichung der US-Umweltbehörde am 18. September erkennbar geworden. Die EPA hatte damals eine Strafe von bis zu 18 Milliarden Dollar angedroht. Die Wiedergutmachung des Abgasskandals kostete Volkswagen allein in den USA bisher umgerechnet mehr als 25 Milliarden Euro.
Die Vorgeschichte des VW-Abgasskandals
Volkswagen fällt die strategische Entscheidung, in den USA eine groß angelegte Dieseloffensive zu starten – trotz der dort viel strengeren Grenzwerte für Schadstoffemissionen.
VW tüftelt am Zwei-Liter-Dieselmotor EA 189, Audi entwickelt die größeren Drei-Liter-Antriebe. Doch die Entwickler realisieren bald, dass die Motoren die strengeren Abgas-Regeln, die in den USA ab 2007 gelten sollen, nicht erfüllen werden. Daraufhin wird eine Abschaltsoftware („defeat device“) entwickelt, die die Emissionen in Testsituationen reduziert, um die US-Umweltbehörden zu täuschen.
Mai: Die US-Staatsanwaltschaft wirft Winterkorn vor, schon ab diesem Zeitpunkt an der Verschwörung zum Betrug beteiligt gewesen zu sein.
17. Mai: Ein VW-Ingenieur beschreibt in einer E-Mail an die VW-Entwickler die von Audi entwickelte Software. Er warnt vor deren Einsatz in US-Dieselmotoren, weil sie nur der Umgehung von Abgas-Tests diene.
November: Ein Manager der Entwicklungsabteilung entscheidet nach einem Treffen mit Mitarbeitern, dass das „defeat device“ in US-Dieselmotoren eingesetzt werden soll. Man solle sich nur nicht erwischen lassen.
5. Oktober: Es gibt immer wieder technische Probleme mit der Entwicklung der Dieselmotoren und Diskussionen in dem Team, das für die Einhaltung von Abgaswerten in den USA verantwortlich ist. Bei einem Treffen entscheidet ein Manager, dennoch mit den manipulierten Motoren weiter zu machen.
VW startet die Werbekampagne „Clean Diesel“ in den USA – der Jetta TDI wird auf der Automesse in Los Angeles zum „Green Car of the Year“ gekürt.
VW-Modelle mit den manipulierten Zwei-Liter-Dieselmotoren kommen in den USA auf den Markt. Größere VW-Modelle sowie Audi- und Porsche-Fahrzeuge werden mit dem manipulierten Drei-Liter-Motor verkauft.
Februar: Die kalifornische Umweltbehörde CARB beauftragt das Forschungsinstitut International Council on Clean Transportation (ICCT) mit der Überprüfung von Abgas-Emissionen bei VW-Diesel-Fahrzeugen.
Frühjahr: Getestet werden ein Jetta Baujahr 2012 und ein Passat Baujahr 2013 auf den Straßen rund um Los Angeles. Das Ergebnis: Im Normalbetrieb sind die Abgasemissionen bis zu 35mal höher als im Labor. Die Daten werden genauer analysiert.
März: VW-Mitarbeiter erfahren von den Ergebnissen der ICCT-Studie. In den folgenden Wochen bittet die CARB Volkswagen um Erläuterung der Abgasemissionen. In der VW-Entwicklungsabteilung wird eine Task Force gegründet, um Antworten auf die Fragen der Umweltbehörde zu formulieren. Es wird entschieden, scheinbar mit den US-Behörden zu kooperieren, die Existenz eines „defeat device“ aber zu leugnen.
23. Mai: VW zufolge wird eine Notiz über die ICCT-Studie der Wochenendpost von Konzernchef Martin Winterkorn beigelegt. Ob er diese gelesen habe, sei nicht dokumentiert. Der US-Staatsanwaltschaft zufolge wird in dieser Mail explizit erwähnt, dass US-Behörden wohl nach einer Abschalteinrichtung, einem „defeat device“, in den VW-Dieselmotoren suchen würden.
1. Oktober: In einem Treffen mit der CARB erklären VW-Vertreter die höheren Abgaswerte mit technischen Gründen und Fahrverhalten, das „defeat device“ wird nicht erwähnt.
27. Juli: VW zufolge beraten sich einzelne Mitarbeiter am Rande einer Routinebesprechung („Schadenstisch“) über die Diesel-Thematik, in Anwesenheit von Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess. Laut US-Staatsanwaltschaft wird das leitende VW-Management inklusive Winterkorn an diesem Tag über das „defeat device“ informiert und auch über den Umstand, dass die US-Behörden darüber noch nicht Bescheid wissen. Medienberichten zufolge, die aus Zeugenaussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft Braunschweig zitieren, soll dabei auch schon über die Höhe eines möglichen Bußgelds gesprochen worden sein. Volkswagen hält dem entgegen, das Ausmaß und mögliche finanzielle Folgen der Abgasmanipulation seien erst viel später klar geworden.
18. August: VW-Manager entscheiden, dass man bei einem für den nächsten Tag geplanten Treffen mit CARB-Vertretern weiter lügt und das „defeat device“ nicht erwähnt.
19. August: Entgegen dieser Vorgabe deutet ein VW-Vertreter in dem Gespräch mit der CARB an, dass eine Software Abgaswerte in Testsituationen herunterregelt.
Ende August: VW zufolge erläutern VW-Techniker hauseigenen Juristen und den US-Anwälten die eigentliche Ursache für die Abweichungen der Abgas-Emissionen. Vorstandsmitglieder seien daraufhin zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich um ein unzulässiges „defeat device“ handele. Das solle der CARB und der US-Umweltbehörde EPA transparent kommuniziert werden.
3. September: In einer Telefonkonferenz mit CARB und EPA gesteht VW die Manipulation der Abgaswerte.
4. September: Winterkorn wird darüber durch eine Notiz unterrichtet. VW zufolge erklären Berater, dass solche Verstöße in den USA bisher auf dem Vergleichswege per Bußgeldzahlung geregelt wurden, die für Unternehmen von der Größe von VW nicht besonders hoch seien. Der Konzern habe mit einem Betrag im unteren dreistelligen Millionen-Bereich gerechnet, der angesichts von Rückstellungen nicht kursrelevant gewesen sei.
18. September: Die EPA macht am Abend das Geständnis öffentlich: VW habe vorsätzlich Abgasvorschriften bei rund 500.000 Diesel-Fahrzeugen umgangen. Die US-Umweltbehörde beziffert eine mögliche Strafe auf bis zu 18 Milliarden Dollar.
20. September: VW räumt die Abgas-Manipulationen nun selbst öffentlich ein und kündigt eine externe Untersuchung an.
21. September: Am ersten Börsenhandelstag nach dem öffentlichen Geständnis stürzt die VW-Aktie um 20 Prozent ab.
23. September: VW-Chef Winterkorn tritt zurück.