„Otto-Motor" Die Chronik über die größte Lüge der Mobilitätsgeschichte

Die große Verbrenner-Lüge des Otto-Motor Quelle: Getty Images

Der „Otto-Motor“ treibt die meisten modernen Autos an. Doch nicht Nicolaus Otto, sondern ein Uhrmacher erfand den Viertaktmotor. Wer ist der Mann, der als Sohn mittelloser Eltern aufwuchs und in München Karriere machte?

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Christian Reithmann stammte aus Tirol. Seine Eltern waren arm, Reithmann auffallend begabt. Später wird man wissen: Sein mechanisches Geschick und sein Reichtum an technischen Ideen machen ihn zum Hofuhrmacher König Ludwigs II. und Erfinder des Viertaktmotors, der als „Otto-Motor“ in die Geschichte einging. Den Ruhm dafür kassierten jedoch andere.

Mit der Dieselgate-Affäre zerstörten die großen deutschen Autobauer das Vertrauen ihrer Kunden. VW, Daimler, BMW und Co. manipulierten Motoren, um die gesetzlichen Schadstoffwerte einzuhalten. Die Nachricht ging um die Welt. Was nur wenige wissen: Vor knapp 150 Jahren ereignete sich ein mindestens genauso großer Skandal. Denn auch die Erfindung des Verbrennungsmotors beruht auf einer Lüge. Nicht Nicolaus Otto, sondern der Österreicher Christian Reithmann erfand den Motor, der bis heute die meisten Autos und Motorräder antreibt. Das passt zur Geschichte der für Deutschland wichtigsten Autodynastie: VW wurde vom Österreicher Ferdinand Porsche gegründet und ist heute größtenteils im Besitz des Österreichers Porsche Piech.

„Reithmann war ein moderner Mann. Er glaubte, dass Maschinen exakter fertigen als Menschenhände und entwickelte eigene Motoren für seinen Uhrmacherbetrieb,“ erklärt Jutta Siorpaes, promovierte Historikerin und Autorin des Buches „Als die Welt in Bewegung geriet“. 1860 beanspruchte Reithmann das erste Patent auf einen Verbrennungsmotor, 1872 präsentierte er einen Flugkolbenmotor vor Fachpublikum in München. „Als Sohn mittelloser Eltern hat Reithmann eine echte Karriere hingelegt,“ erklärt Siorpaes. Sie ist von Reithmann als Erfinder des Viertaktmotors überzeugt. „Nur wenn man versteht, wo Reithmann herkommt, weiß man, dass es stimmt.“ Belege hat sie viele.

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Zu Beginn unseres Gesprächs führt sie durch ihr Arbeitszimmer, holt Bücher hervor und Kisten mit vergilbtem Papier: Reithmanns Eheurkunde, Belege über den Erwerb von Wohnhaus und Bürgerrecht in München, seine Patente. Präzision ist ihr wichtig. Sie ist die erste Frau, die die Geschichte über die Erfindung des Motors aufarbeitet, hält Vorträge über ihre Recherchen im Deutschen Museum, gibt Interviews. „Reithmann hat mich als vielseitiges Genie fasziniert. Sein Mut, sich als Autodidakt gegen das akademische Establishment zu behaupten, macht ihn zu einer der wichtigsten Personen der Mobilitätsgeschichte,“ sagt die Autorin, die in Tirol nahe der Heimat Reithmanns lebt.

Reithmann traf mit der Erfindung des Motors den Zeitgeist: Der europäische Wettlauf nach einem Motor, der schnell läuft, viel Kraft hat, aber kleiner ist als eine Dampfmaschine beschäftigte viele Tüftler und Techniker im 19. Jahrhundert – darunter Nicolaus Otto und Eugen Langen.

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Nicolaus Otto war gelernter Kaufmann, seine wahre Leidenschaft galt aber der Technik.1864 gründete er mit dem Unternehmer Eugen Langen eine Motorenfabrik. Knapp zehn Jahre später wandelten sie den Betrieb in die börsennotierte Gasmotorenfabrik Deutz um. Dort baute Otto im Januar 1876 einen Flugkolbenmotor, der durch das Reichspatent DRP 532 geschützt war – den heutigen „Otto-Motor“. Dass seine Funktionsweise der des vier Jahre zuvor entwickelten Motor Reithmanns entsprach, stand einer Patentierung nicht im Weg. „Doppelpatente gab es häufig. Sobald sich die Formulierung in der Patentschrift ein wenig ändert, können Patente auf faktisch gleiche Sachverhalte und Gegenstände erlassen werden,“ erklärt Kurt Möser, Geschichtsprofessor am Karlsruher Institut für Technologie.

Viele Firmen hatten ein finanzielles Interesse an der revolutionären Erfindung und versuchten, Ottos Patent zu Fall zu bringen. Schnell fanden sie Reithmann als Vorerfinder. Er sollte unter Eid aussagen, dass er den Viertakter entwickelt habe. Reithmann kam der Bitte nach. „Für die Deutz AG war das eine Katastrophe,“ erklärt Siorpaes. Als Reaktion verklagte Deutz Reithmann wegen Patentrechtsverletzung und verlor den Prozess in erster Instanz. Während Otto als Namenspatron für die Deutz AG finanziell elementar war, sorgte sich Otto um seine Erfinderehre.



Langen nahm das zum Anlass, sich zu wehren. „Langen war Ottos Partner und agierte als sein Manager, hatte Geltungsdrang und konnte gut verhandeln. Otto dagegen war Tüftler, mitunter labil und hätte sich allein vermutlich nicht durchgesetzt,“ erklärt Siorpaes. Um den Motor weiterhin produzieren zu dürfen, kaufte Deutz die Rechte am Viertakterverfahren und bot Reithmann eine Rente auf Lebenszeit. Im Gegenzug sollte Reithmann von seiner Aussage zurücktreten und Otto zum offiziellen Erfinder des Motors erklären. Langen, der die Verhandlungen mit Reithmann als „ekelhaft, unwürdig“ bezeichnete, gewann. „Das war ein Kampf zwischen Ungleichen. Auf der einen Seite stand die finanziell potente Deutz AG mit Otto und Langen, auf der anderen Seite der auch emotional geschwächte Kleinhandwerker Reithmann,“ erklärt Möser.

Heute ist Deutz einer der weltweit führenden Hersteller kompakter Dieselmotoren. Das Kölner Unternehmen macht einen Jahresumsatz von mehr als 1,8 Milliarden Euro, beschäftigt 5000 Mitarbeiter und ist börsennotiert. In den vergangenen zehn Jahren zählte Volvo zu den Hauptaktionären. „Deutz hört es nicht gern, dass ihr Firmengründer den Motor gar nicht als Erster entwickelt hat,“ erklärt Siorpaes.


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Faktisch ändert die „Otto-Lüge“ nur wenig. Erst 1948 deckten Historiker die Abmachung Ottos und Reithmanns auf. „Die Nachwelt hat sich entschieden, den Patentanspruch Ottos anzunehmen,“ erklärt Möser. Symbolisch steht die Lüge für den Kampf zwischen ungleichen Konkurrenten, Prestige und dem Einfluss der öffentlichen Meinung. Möser: „Auch Technik-Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Die Deutschen haben sich für Nicolaus Otto entschieden.“ 

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