Eine staubige, holprige Straße führt in den Industriepark an der Camino San Lorenzo in Puebla in Mexiko. Zwischen flachen Fabrikgebäuden stehen kleine rosa und hellblau gestrichene Imbissbuden, die Tortillas und Coca-Cola anbieten.
Das Werksgelände des deutschen Autoteileherstellers Brose, Hausnummer 1214, ist von einem hohen Zaun umgeben. „Technik für Automobile“ steht auf Deutsch am Eingang. Ein Pförtner in schwarzer Uniform kassiert vom Besucher erst mal den Pass. „Sicherheit muss sein“, sagt Werksleiter Harald Roeck und rät, das Auto auf dem Werkshof zu parken. Kürzlich habe ein Besucher sein Fahrzeug draußen auf der Straße geparkt. Als er zurückkam, seien die Reifen weg gewesen, erzählt der 53-Jährige. „So ist das hier halt.“
Die größten Autohersteller in Mexiko 2012
Anzahl der produzierten Autos: 683.520 (+ 12,6)
(in Klammern: Veränderung zu 2011 in Prozent)
Anzahl der produzierten Autos: 604.508 (+18,5)
Anzahl der produzierten Autos: 570.942 (+4,9)
.Anzahl der produzierten Autos: 455.334 (–2,3)
Anzahl der produzierten Autos: 451.648 (+33,4)
Anzahl der produzierten Autos: 63.256 (+39,4)
Anzahl der produzierten Autos: 55.661 (+12,2)
Bienvenido a Mexico, willkommen in Mexiko, dem neuen Dorado der Autokonzerne. In keinem Land investiert die Branche derzeit so viel in neue Fabriken oder erweitert ihre Werke so massiv wie in dem zentralamerikanischen Land.
In den vergangenen zwei Jahren haben Autobauer Investitionen von insgesamt fast acht Milliarden Dollar in Mexiko angekündigt, sagt Sean McAlinden vom Center for Automotive Research in Ann Arbor im US-Staat Michigan. Während die drei US-Konzerne General Motors (GM), Ford und Chrysler Fabriken in ihrer Heimat schlössen, bauten sie bei ihrem südlichen Nachbarn aus. Allein GM hat seit 2007 rund drei Milliarden Dollar in Mexiko investiert und besitzt nun drei Werke, Ford und Chrysler bringen es auf jeweils zwei.
Vorsprung durch Zollfreiheit
Aber auch die Europäer und Asiaten drücken kräftig aufs Gas: Volkswagen hat Anfang des Jahres mit großem Tamtam seine zweite Fabrik gestartet, ein Motorenwerk in Silao, einer Kleinstadt rund 350 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt – Investitionssumme: eine halbe Milliarde Dollar. Die VW-Tochter Audi eröffnet 2016 ein Werk, Mazda und Honda jeweils 2014. „Mexiko“, schwärmt Staatspräsident Enrique Peña Nieto, „ist das Paradies für die Autobauer.“
Tatsächlich entwickelt sich das Land zum wichtigsten Autoproduktionsstandort in Nordamerika. Den Anteil dort werde Mexiko in den kommenden Jahren von derzeit durchschnittlich 12 Prozent auf 20 Prozent steigern, schätzen Experten. Die Autoindustrie spielt für den Export des Landes inzwischen eine wichtigere Rolle als die Erdölproduktion. Rund 21 Prozent aller Ausfuhren sind Fahrzeuge und Fahrzeugteile, die Ölindustrie kommt auf einen Exportanteil von nur 16 Prozent.
Niedrige Löhne, gute Ausbildung, ausgebaute Infrastruktur und ein ausgedehntes Zulieferer-Netzwerk sind der eine Grund, weshalb die Autoindustrie des Landes immer mehr Wertschöpfung anzieht. Der andere Vorteil liegt im konsequenten Freihandel, auf den die Regierung setzt.
Für den Q5 der beste Produktionsstandort
Mit über 42 Staaten unterhält Mexiko mittlerweile Freihandelsabkommen. So können nahezu alle wichtigen Automärkte weltweit zollfrei beliefert werden – vor allem der für die Branche so wichtige florierende US-Markt. Schwankungen wichtiger Währungen wie Euro und Yen gegenüber dem Dollar spielen keine Rolle, weil hauptsächlich im Dollar-Raum für die USA und Kanada produziert wird. Für Exporte aus den USA nach Europa und umgekehrt müssen die Hersteller dagegen zehn Prozent Einfuhrzoll zahlen. „Genau deshalb ist Mexiko der ideale Standort für uns“, sagt Audi-Chef Rupert Stadler. „Wir haben hier die besten wirtschaftlichen Voraussetzungen.“
Vor allem für Audi zahlt sich der Gang nach Mexiko aus. „Wer ein Weltauto wie den Audi Q5 baut, für den ist Mexiko tatsächlich der beste Produktionsstandort“, sagt Experte McAlinden. Zurzeit muss Audi das Auto aus dem bayrischen Ingolstadt teuer in die Vereinigten Staaten exportieren. Von 2016 an kommt der Audi Q5 für den US-Markt und Kanada aus Puebla, rund 130 Kilometer südöstlich der Landeshaupt Mexiko-Stadt.
Puebla, eine im Jahr 1531 von den Spaniern gegründete Kolonialstadt, namensgleich mit dem mexikanischen Bundesstaat, bildet zusammen mit dem Bundesstaat Guanajuato in der zentralmexikanischen Hochebene das Zentrum der internationalen Autoindustrie im einstigen Lande der Azteken. Das Gebiet gilt als relativ sicher vor Mafiabanden und Drogenkriminalität. Das liege vor allem daran, dass es in der Region die besten Schulen und Universitäten gebe, berichten Einheimische. Und auf die schickten auch die Drogenbosse ihre Kinder; deshalb sei es hier sicherer als etwa im Norden Mexikos direkt an der Grenze zu den USA oder etwa an der Westküste.
Zweitgrößte VW-Produktion
Und deshalb haben sich auch führende Autobauer aus der ganzen Welt, von VW über GM und Ford bis Nissan, in der Hochland-Region in einem Umkreis von rund 500 Kilometern rund um die Hauptstadt niedergelassen. Dazu kommen die Zulieferer. Allein um Puebla gibt es mehr als 140 von ihnen – fast nur aus dem Ausland.
Es ist zehn Uhr an einem sonnigen, 25 Grad warmen Morgen Mitte Januar, sieben Stunden früher als am Firmensitz im fränkischen Coburg. Bei Brose in Puebla geht elektronisch ein Auftrag für die Auslieferung eines Türsystems ein, eine komplett montierte Tür mit Fensterhebern, Seitentürschloss, Lautsprecherkorb, Innengriff, Verkabelung. Das Teil ist für den Jetta A6 von VW, es muss um 13 Uhr am Montageband auf der anderen Seite der sechsspurigen Schnellstraße sein. „Wenn wir hier eine Verzögerung haben, stehen bei VW Mexiko die Bänder still“, sagt Roeck.
Das Volkswagen-Werk in Puebla ist hinter dem Stammsitz in Wolfsburg die zweitgrößte Produktionsstätte des Konzerns weltweit. Etwa 14 000 Mitarbeiter beschäftigt VW hier, nur rund 200 davon sind Deutsche. Die haben die Führungspositionen inne. VW, größter Arbeitgeber in Puebla, produziert wie alle ausländischen Autobauer in Mexiko hauptsächlich für den Export – 44 Prozent der Fahrzeuge gehen in die USA und nach Kanada. Immerhin 39 Prozent werden nach Europa exportiert.
Weniger automatisiert
Welche strategische Bedeutung das Land am Popocatepetl für die Autobauer mittlerweile hat, zeigen die Japaner. Nissan produzierte in seinen zwei Werken in Aguascalientes und Morelos im vergangenen Jahr knapp 700 000 Autos, fast 13 Prozent mehr im Vergleich zum Vorjahr. Die Japaner stachen Ford aus und bauen bis 2023 als Einzige die gelben Taxis in New York. Der prestigeträchtige Auftrag umfasst 26 000 Autos zu je 29 000 Dollar. Bis 2018 sollen alle alten Taxen ausgetauscht sein und nur noch Nissan-Yellow-Cabs made in Mexico durch die Straßenschluchten von Manhattan fahren.
Knapp 30 Dollar am Tag verdienen die mexikanischen Autoarbeiter im Durchschnitt, ob bei Nissan oder Brose. Das ist ein Bruchteil des Betrages in den USA; in der Autohochburg Detroit etwa liegt der Stundenlohn bei 50 Dollar. Die niedrigen Personalkosten allein seien aber nicht der Grund gewesen, nach Mexiko zu kommen, sagt Brose-Manager Roeck. Entscheidend sei die Nähe zum Volkswagen-Werk.
VW fordert die Anlieferung von Türsystemen genau in der Reihenfolge und der Menge, wie sie zum Einbau in den Jetta am Band gerade benötigt werden. Deshalb eröffnete Brose 1993 ein Werk in Puebla und beschäftigt dort mittlerweile rund 420 Mitarbeiter – durchweg Mexikaner bis auf den Werksleiter.
Weil die Arbeitskraft so billig ist, hat Brose die Produktion in Puebla weniger automatisiert als in seinen vergleichbaren europäischen Fabriken. Das bringt dem Unternehmen weitere Vorteile. „Wir sind flexibler und können unser Produktionsvolumen nach oben und unten besser anpassen“, sagt Werksleiter Roeck. Wenn von 2016 an auch Audi in Puebla produziere, hofft Brose auf mehr Aufträge.
Trotz niedrigerer Automatisierung sei die Qualität in Puebla so wie in Europa, versichert Roeck. „Klar, wir müssen die Leute hier anlernen, wie überall auf der Welt, aber der Nachwuchs ist da, und die Leute sind lernwillig.“ Brose hat, wie die meisten Autobauer in Mexiko, ein eigenes Ausbildungsprogramm. Eine Lehre zum Kfz-Schlosser dauert bei Brose in Mexiko drei Jahre – üblich ist im Land nur ein halbes Jahr. Unter allen 36 Brose-Werken liege die Fabrik in Puebla bei der Qualität auf Platz zwei, sagt Roeck.
Die ausländische Autoindustrie zieht sich heran, was sie braucht, um ihre Qualitätsansprüche zu halten. Die derzeit rund 300 jungen Mitarbeiter im neuen VW-Motorenwerk in Silao etwa – das Durchschnittsalter liegt bei 20 Jahren – haben alle eine Ausbildung im konzerneigenen VW-Institut vor Ort erhalten. VW betreibt die Einrichtung gemeinsam mit der Kommune, die diese auch finanziert. Das 60 Hektar große Grundstück im Industriepark in Silao, gab’s vom Staat geschenkt.
Doch die Ausländer in Mexiko bilden nicht nur junge Werker für die Fertigungslinien aus. Mit finanzieller Hilfe der Regierung formen sie auch den akademischen Nachwuchs für ihre Zwecke. Einen Job zu ergattern ist für junge Mexikaner wie Maria Nohemi fast so gut wie ein Lottogewinn.
VW bedeutet Geld und Chancen
Die 25-Jährige ist frischgebackene Ingenieurin und „ziemlich happy“, dass sie bei VW in Silao eine Stelle gefunden hat. Nohemi hat an der renommierten Technischen Hochschule im benachbarten Léon studiert und den Auswahltest bei VW bestanden. Nach einem halben Jahr Training im VW-Institut montiert und testet die Mexikanerin die neuen Motoren im VW-Werk von Silao. Dieser Job, da ist sich Nohemi ganz sicher, ist der Start zu einer ganz steilen Karriere.
„VW bedeutet gute Bezahlung, internationale Aufstiegschancen, Weiterbildung“, sagt die junge Frau. Vorbei seien die Zeiten, als viele junge Mexikanerinnen nur zu Hause saßen und auf die Kinder aufpassten. „Wir bewegen hier was in Mexiko“, sagt sie und streicht sich energisch ihre langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie weiß, wie gut sie es getroffen hat.
Die offizielle Arbeitslosenquote in Mexiko liegt zwar nur bei knapp fünf Prozent, doch 40 Prozent der Bevölkerung schlagen sich mit einem Job außerhalb eines geregelten Arbeitsverhältnisses durch. Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe gibt es nicht in Mexiko.
Eines der Vorbilder Nohemis ist ihr Landsmann Ruben Lelal. Der 56-Jährige hat es ziemlich weit nach oben geschafft bei VW. Seit 30 Jahren arbeitet er für den Konzern aus Alemania. Lelal spricht fließend Deutsch. Zurzeit sorgt er als Manager für den Anlauf des neuen VW-Motorenwerks in Silao, das einmal 330 000 Aggregate pro Jahr produzieren soll.
Die Motoren sind für den Jetta und Beetle im 500 Kilometer entfernten Puebla sowie für den Passat im US-Werk in Chattanooga bestimmt. „Wir haben hier einen guten Pool an jungen Talenten, die müssen für einen guten Job nicht mehr in die USA auswandern“, sagt Lelal. „Wir schicken die Autos über die Grenze.“
Wer kommt als nächstes nach Mexiko
Blitzeblank glänzt die gut 250 Meter lange Produktionshalle. Alle paar Meter sind schön ordentlich drei Abfalleimer aufgestellt: einer für Restmüll, einer für Papier, einer für Plastik. „Bitte den Müll trennen“ steht auf einem Schild auf Deutsch und Spanisch. „So ein modernes Werk wie dieses gibt’s wohl in ganz Mexiko nicht“, schwärmt VW-Novizin Nohemi. Eine Recyclinganlage bereitet das Brauchwasser des Werkes auf, denn die Gegend rund um die Fabrik ist sehr trocken. Knapp 400 000 Dollar hat VW in ein Aufforstungsprogramm der Kommune gesteckt.
Die Wolfsburger haben in Mexiko einen besonders guten Ruf. Bis vor zehn Jahren bauten sie hier den legendären Käfer, lange nachdem die Produktion überall sonst eingestellt worden war. Der „vochito“, der kleine Käfer, wie die Mexikaner die Volkswagen-Ikone nennen, fährt immer noch überall in Mexiko herum. Er fährt und fährt, zur Not auch mit Tequila im Tank, witzeln die Mexikaner.
BMW auf Erkundungstour
Auf der Automesse im US-amerikanischen Detroit Mitte Januar wettete so mancher Manager: Welcher Autobauer investiert als nächster in Mexiko? Von Hyundai war die Rede und von Daimler und BMW. Die Münchner entsandten ihre Standortexperten bereits nach Mexiko, um sich in Puebla die deutsche Schule, das Colegio-Humboldt, zeigen zu lassen. Die renommierte Privatschule, wo Kinder in Deutsch und Spanisch nach deutschem Schulsystem unterrichtet werden, liegt in einem ruhigen, wohlhabenden Viertel der Stadt mit streng bewachten Wohnanlagen.
Die Gegend gilt als sehr sicher. Auch hier sollen die Kinder von Drogenbossen die Schulbank drücken, heißt es in der Nachbarschaft. Aber das sei nur ein Gerücht.