Scharfe Kurven, regennasse Fahrbahn - bei solchen Straßenverhältnissen nimmt jeder Autofahrer eigentlich den Fuß vom Gas. Zu groß ist die Gefahr, dass das Fahrzeug ins Schleudern gerät. Die drei Golf-GTI-Fahrer auf dem Contidrom im Süden der Lüneburger Heide interessiert das nicht. Mit heulenden Motoren und quietschenden Reifen brettern sie über die Piste, bis es ein paar Minuten später einen von ihnen tatsächlich erwischt. Der Wagen bricht aus, dreht sich um die eigene Achse, Erdklumpen und Gras fliegen durch die Luft, erst auf dem Seitenstreifen kommt das Auto zum Stehen.
Eigentlich könnte der hannoversche Autozulieferer Continental, der hier auf seinem Konzernparcours Reifen testet, zufrieden sein mit dem Ausgang der Schleuderfahrt. Denn der gestrandete Golf war mit Billigreifen aus asiatischer Produktion unterwegs. Die können bei Kurvenverhalten, Bremsweg und Fahrkomfort noch nicht mithalten mit den deutlich teureren Hochleistungs-Pneus made in Germany.
Chancen für Newcomer
Die Niedersachsen tun gut daran, sich nicht auf ihren Vorsprung zu verlassen. Denn die Hersteller aus Taiwan, Korea, China, Indien und Indonesien holen dank der starken Stellung in ihren Heimatmärkten schnell auf. "Bei Premiumfahrzeugen dominieren die etablierten Reifenhersteller aus Europa, den USA und Japan noch das Geschäft, aber bei Kleinwagen und Mittelklassefahrzeugen gewinnen die preisaggressiven Mitbewerber aus den aufstrebenden Ländern Asiens schnell Marktanteile hinzu", warnt Matthias Bentenrieder, Autoexperte und Partner der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Schon in wenigen Jahren, davon sind Branchenbeobachter überzeugt, werden sich die Machtverhältnisse deutlich zugunsten der Newcomer verschieben.
Zum Turbo bei dieser Aufholjagd könnte der italienische Reifenhersteller Pirelli werden, der mit dem russischen Ölförderkonzern Rosneft gerade einen neuen Großaktionär bekommen hat. Mit Rosneft im Rücken verschafft sich die bisherige Nummer fünf im weltweiten Reifenmarkt auf einen Schlag die Pole-Position bei der Eroberung des bisher unterentwickelten russischen Automarktes mit seinem riesigen Absatzpotenzial.
Und das ist womöglich nur der Anfang: Folgt einer der aufstrebenden Reifenhersteller aus Asien dem Rosneft-Beispiel, brächte das die Hackordnung der Branche kräftig durcheinander. Mit der starken Marke und dem technischen Knowhow aus Mailand und dem Geld der Russen würde sich ein Billighersteller aus China, Indien oder Indonesien, den Schlüssel zum Weltmarkt verschaffen. Das Szenario ist durchaus realistisch: Der größte Teil der Pirelli-Aktien befindet sich im Streubesitz.
Sonderstellung für Pirelli und Continental
Knapp zwei Milliarden Reifen im Gesamtwert von rund 146 Milliarden Euro wurden 2012 produziert, vom kleinen Smart-Schlappen bis zu meterhohen und tonnenschweren Giganten für Erztieflader. Fast zwei Drittel davon sind für Pkws und Lieferwagen bestimmt, der Rest wird auf die Felgen von Lkws, Bau- und Landmaschinen aufgezogen oder an Flugzeugfahrwerke montiert.
Noch ist die Stellung der etablierten Marktführer unangefochten: Über 40 Prozent des Weltmarktes teilen sich die drei größten Hersteller Bridgestone aus Japan, Michelin aus Frankreich und Goodyear aus den USA. Inklusive Continental und Pirelli auf den beiden nächsten Plätzen beherrschen die fünf größten Player über die Hälfte des Marktes (siehe Grafik).
"Aber der globale Reifenmarkt ist regional stark differenziert, weil die Anforderungen sich unterscheiden, etwa aufgrund unterschiedlicher Fahrzeugtypen oder klimatischer Bedingungen", sagt Thomas Dauner, Leiter der Autosparte und Seniorpartner der Boston Consulting Group (BCG). Darum sind die Stärken der Anbieter unterschiedlich verteilt. Marktführer Bridgestone etwa verfügt über schlagkräftige Marken, sei aber ein "typisch japanischer Konzern mit allen Stärken und Schwächen eines japanischen Unternehmens", sagt ein Insider. Was er meint: Mit seiner eher konservativen Unternehmenskultur und den strengen Hierarchien sei Bridgestone im Vergleich zu seinen Mitbewerbern eher schwerfällig und langsam.
Die Top Ten der größten Reifenhersteller
Platz 10
2012 noch nicht unter den Top Ten (Platz 11) war der singapurische Hersteller Giti. Im Jahr 2013 machte das Unternehmen einen Umsatz von 2,9 Milliarden Euro.
Quelle: Neue Reifenzeitung, Stand 04. Juni 2014
Platz 9
Maxxis hat es auch im Geschäftsjahr 2013 unter die Top 10 der größten Reifenhersteller geschafft und verteidigt Platz 9. Maxxis erwirtschaftet seinen Umsatz (3,2 Milliarden Euro) ausschließlich mit Reifen.
Platz 8
Der Umsatz von Yokohama Hochleistungsreifen lag 2013 bei 4,3 Milliarden Euro. 79,7 Prozent davon (3,4 Milliarden Euro) kamen aus dem Geschäft mit Reifen.
Platz 7
Sumimoto verliert im Geschäftsjahr 2013 eine Platzierung und landet auf Rang 7. Der Umsatz betrug 2013 5,5 Milliarden Euro. (4,8 Milliarden Euro, 87,2 Prozent) davon entstanden durch das Geschäft mit Reifen.
Platz 6
Hankook konnte für 2013 einen Umsatz von 5 Milliarden Euro vorweisen. 100 Prozent davon wurden mit Reifen gemacht.
Platz 5
Pirelli erwirtschaftete 99,5 Prozent seines Umsatzes von 6,1 Milliarden Euro durch Reifen.
Platz 4
Continental erwirtschaftet noch nicht einmal ein Drittel seines Umsatzes mit dem Verkauf von Reifen. Gerade einmal 28,8 Prozent des Umsatzes von 33,3 Milliarden Euro kommen aus dem Reifengeschäft (10 Milliarden Euro).
Platz 3
Der Umsatz von Goodyear betrug 2013 14,2 Milliarden Euro (100 Prozent Reifenanteil).
Platz 2
Michelin macht auch fast seinen ganzen Umsatz mit Reifen. 14,2 Milliarden Euro von 20,2 Milliarden Euro stammen aus dem Reifengeschäft (98,0 Prozent)
Platz 1
Bridgestone erwirtschaftete 2013 25,3 Milliarden Euro Umsatz. 85,1 Prozent davon kamen aus dem Reifengeschäft. Das sind 22 Milliarden Euro.
Kostenkiller Continental
Als wesentlich agiler gilt der französische Hersteller Michelin - "technologisch und beim Marketing eindeutig der führende europäische Reifenhersteller", sagt ein Branchenkenner. Der amerikanische Goodyear-Konzern vermittelt dagegen aus seiner Sicht ein vergleichsweise "trauriges Bild", vor allem in Europa sei das Unternehmen "ins Straucheln geraten".
Continental und Pirelli nehmen unter den Top 5 eine Sonderstellung ein. "Wir haben schon vor einigen Jahren entschieden, uns auf das Premiumsegment zu konzentrieren, weil dort die Renditen am höchsten sind", sagt Marco Tronchetti Provera, Chef des Mailänder Reifenherstellers. Dank der auch wegen des Engagements in der Formel 1 besonders starken Marke erreichen die Italiener eine Umsatzrendite vor Zinsen und Steuern von gut 13 Prozent. Branchendurchschnitt sind vier Prozent. Auf ähnliche Größenordnungen kommt der deutsche Konkurrent Continental, der in den vergangenen beiden Jahren einer der Top-Performer im deutschen Aktien-Index Dax war.
"Unter dem Druck der hohen Schuldenlast nach der VDO-Übernahme 2007 hat Conti die Kostenführerschaft in der Branche erreicht", lobt ein Bank-Analyst. Hinzu kommt: Die Hannoveraner sind der einzige internationale Reifenlieferant, bei dem die schwarzen Schlappen nur eine von mehreren Säulen des Geschäfts sind. 70 Prozent des Umsatzes entfallen auf elektronische Komponenten. Das entlastet das Unternehmen von Schwankungen im Reifensektor, Verwaltungskosten können auf mehrere Sparten umgelegt werden. "Aus dem Elektronik-Know-how ergeben sich zudem Synergiepotenziale, etwa wenn es um die Radnaben-Antriebe oder andere Komponenten für Elektroautos geht", sagt Autoexperte Bentenrieder.
Hankook auf der Überholspur
Der technische Vorsprung von Conti, Pirelli oder Michelin lässt sich einfach erklären: "Die starke Stellung der Europäer ist in erster Linie eine Folge der strengen gesetzlichen Vorschriften für die Reifenhersteller innerhalb der Union", sagt BCG-Autoexperte Dauner. Ob Vorgaben zur Geräuschentwicklung oder zur Verringerung des Rollwiderstands, ob die Pflicht zu Winterreifen oder zum Einbau von Druckverlustwarnern, wie sie in der EU ab November 2014 Pflicht werden: "Hier werden die Trends gesetzt, hier wird der Wettbewerb gewonnen", sagt Berater Bentenrieder.
Auf internationalem Parkett und im Volumenmarkt wächst der Druck aus Fernost. Bisher weitgehend unbekannte Hersteller wie Hangzhou aus China, Giti aus Indonesien oder MRF aus Indien drängen erfolgreich ins Geschäft. Neun der 20 weltweit führenden Reifenhersteller stammen aus der Volksrepublik China, aus Taiwan, Indien, Indonesien oder Korea. Schon zur Spitzengruppe aufgeschlossen hat ein Wettbewerber aus Südkorea. "Hankook gilt als Blaupause für einen erfolgreichen Aufstieg und die Etablierung einer starken Marke", sagt Berater Bentenrieder über den Konzern aus Seoul.
Die Geschichte des Reifens
Der Amerikaner Charles Goodyear meldete 1844 das Vulkanisieren von Gummi zum Patent an.
Der Schotte Robert William Thompson meldete den vulkanisierten Gummireifen für Fahrräder zum Patente an. Abnehmer für seine Idee fand er allerdings nicht.
John Dunlop, ebenfalls Schotte, ließ sich einen einfachen Fahrradluftreifen patentieren.
Dem Franzosen Edouard Michelin gelang mit der Erfindung des Luftreifes mit Schlauch der wirtschaftliche Durchbruch.
Friedrich Veith begann mit der Einführung von Reifen in Norm-Größe und der Durchsetzung entsprechend geformter Felgen.
Die Firma Continental aus Hannover entwickelte als erstes Unternehmen der Welt Profilreifen für Autos.
Technologisch können die Koreaner problemlos mithalten - Hankook gehört zu den Erstausrüstern für die neue S-Klasse von Mercedes und die BMW-5er-Baureihe, was nicht nur den Umsatz, sondern auch das Renommee und die Marke stärkt. Geholfen hat dabei auch das Engagement der Koreaner im europäischen Motorsport: Hankook ist seit vier Jahren exklusiver Reifenlieferant der Deutschen Tourenwagen-Masters, in der sich Mercedes mit Audi und BMW misst. Das Engagement hat dazu beigetragen, dass Hankook inzwischen in Deutschland auf einen Marktanteil von über zehn Prozent im Premiumsegment kommt. In der Riege der Top Ten ist Hankook mit einem Weltmarktanteil von 5,7 Prozent schon auf Platz sieben vorgerückt.
Kumho Tyres, der zweite koreanische Anbieter mit Ambitionen für den Aufstieg in die internationale Reifen-Oberliga, hat es schon bis auf Position 13 geschafft, bisher allerdings vor allem mit preisgünstigen Reifen für kleine und mittlere Fahrzeuge. Den Asiaten hilft, dass sie von der Absatzkrise der europäischen Autoindustrie kaum betroffen sind: "Vor allem die Hersteller aus China und Korea entwickeln sich überdurchschnittlich dynamisch, weil sie mit einem schnell wachsenden Heimatmarkt über eine starke Basis verfügen", sagt Autoexperte Bentenrieder.
Die etablierten Marktführer tun sich in den aufstrebenden Autonationen Asiens dagegen schwer. Während sie etwa in den USA auf einen Marktanteil von 60 Prozent kommen, erreichen sie in China nicht mal 30 Prozent. In den kommenden Jahren dürften sich die Gewichte weiter verschieben.
Auf jährlich vier Prozent schätzen Experten das weltweite Wachstum im Reifenmarkt. Doch während die Märkte in Europa, Nordamerika und Japan stagnieren, legen die Umsätze in den Schwellenländern Osteuropas und Südamerikas sowie in China und Indien jedes Jahr um gut sieben Prozent zu. "Rund 70 Prozent des globalen Wachstums der Reifenindustrie dürften in den kommenden drei Jahren aus den aufstrebenden Märkten kommen", schätzt Pirelli-Chef Tronchetti Provera.
Einer der Gründe: "Das Durchschnittsalter der Fahrzeuge in Asien liegt deutlich unter dem in Europa und den USA, der große Schub für das Ersatzgeschäft kommt also noch, wenn diese Autos demnächst neue Reifen brauchen", sagt Philipp Grosse Kleimann, Autospezialist und Senior-Partner bei Roland Berger.
Langer Weg zur starken Marke
Was den meisten Newcomern aus Asien aber noch fehlt, ist eine starke Marke. Die gilt unter Branchenexperten als erfolgsentscheidend. "Normalerweise entfallen bei Autozulieferern über zwei Drittel aller Umsätze auf das Erstausrüstergeschäft", sagt Berater Grosse Kleimann, "dieses Geschäft wird direkt mit den Fahrzeugherstellern abgewickelt." Bei den Pneu-Produzenten ist das Verhältnis jedoch genau umgekehrt: Mehr als zwei Drittel ihrer Verkäufe entfallen auf das sogenannte Aftermarket-Geschäft und gehen direkt an den Endverbraucher.
Hier werden zwar deutlich höhere Margen erzielt, gleichzeitig muss der Kunde aber erst gewonnen werden - über Marke und Qualität oder, wenn es daran hapert, über den Preis. "Das wird immer schwieriger, denn der Reifenhandel ist ein Geschäft mit vielen Absatzkanälen", sagt Grosse Kleimann. Die Empfehlung des Händlers spielt da nur teilweise eine Rolle, mindestens ebenso wichtig sind Bekanntheit und Image der Marke, vor allem bei teureren Reifen etwa für sportliche Geländewagen, Cabrios oder Oberklassefahrzeuge. In diesem Punkt haben die No-Names aus China, Indien oder Indonesien bisher wenig vorzuweisen.
Die neuen Player aus Asien versuchen darum zunächst, im Geschäft mit dem Endkunden Fuß zu fassen - vor allem über niedrige Preise. "Danach werden sie ins Erstausrüstergeschäft einsteigen", sagt Berger-Berater Grosse Kleimann, "durch den Aufbau von Technologiekompetenz und einer für den Endkunden relevanten Marke." So wie Hankook das gelungen ist. Mit einem Einstieg bei Pirelli ließe sich der lange Weg zur starken Marke verkürzen.
Der 26,5-Prozent- Anteil des bisherigen Mehrheitsaktionärs Camfin ist nicht mehr zu haben, den übernimmt eine neue Holding, an der Rosneft die eine Hälfte der Aktien übernimmt und die beiden Banken Unicredit und Intesa Sanpaolo die andere. Weitere 13 Prozent an Pirelli hat Rosneft direkt erworben. Der Rest ist im Streubesitz – und damit für einen geschickten Investor noch in Reichweite.
Wie sich ein interessierter Player aus Asien ins Spiel bringen könnte, dafür gibt es in der Branche schon ein Beispiel: Continental. Der Konzern aus Hannover wurde 2008 vom Kugellagerhersteller Schaeffler übernommen – mit Hilfe mehrerer Investmentbanken, die klammheimlich und über Monate aus dem Streubesitz eine Mehrheit zusammenkauften.