Der chinesische Automarkt wankt, der russische ist bereits zusammengebrochen. Auch den Menschen in Brasilien und Argentinien ist wegen der Wirtschaftskrise die Lust am neuen Auto gründlich vergangen. Westeuropa muss den Automanagern vor dem Hintergrund wie eine Insel der Seligen vorkommen: Im ersten Halbjahr stieg hier nach den Erhebungen des Verbandes des europäischen Automobilhersteller (ACEA) der Pkw-Absatz im Vergleich zum Vorjahr um insgesamt über acht Prozent, im Juni sogar um fast 15 Prozent.
Knapp 7,2 Millionen Neuzulassungen seit Jahresbeginn – so viel hat die Autoindustrie seit sechs Jahren nicht mehr verkauft. Selbst in Griechenland (plus 15,1 Prozent) brummt das Geschäft. Der Staat ist pleite – seine Bürger haben ihr Erspartes noch schnell in einen Neuwagen investiert.
Zur Person
Stefan Müller, Jahrgang 1960, war ab 1986 im Vertrieb und Marketing bei BMW. Ab 1999 verantwortete er bei Volvo die Märkte Zentraleuropa und Deutschland und wechselte 2003 zum VW-Konzern. 2008 wurde Stefan Müller Geschäftsführer des deutschen Automobilclubs ADAC.
Seit dem 1. September 2012 ist Stefan Müller im Renault-Vorstand für das wichtige Europa-Geschäft verantwortlich.
Zu den größten Profiteuren des Aufschwungs in Westeuropa zählt der französische Autohersteller Renault mit einer Absatzsteigerung um über zehn Prozent im ersten Halbjahr. Geradezu bescheiden sind im Vergleich damit die Zuwächse von 6,3 Prozent bei der Schwestermarke Dacia, die sich auf Billigautos spezialisiert hat.
Im Gespräch mit der Wirtschaftswoche erläutert der deutsche Vorstand Stefan Müller, der seit bald drei Jahren in der Konzernzentrale zuständig ist für Produktentwicklung, Produktion, Vertrieb und Marketing in Europa, die Hintergründe und skizziert seine ehrgeizigen Ziele für die zweite Jahreshälfte.
Herr Müller, Das Glück scheint Renault derzeit hold: Im ersten Halbjahr konnte die Marke in Europa um über 10 Prozent mehr Autos verkaufen als im Vorjahr – so viel wie kaum ein anderer Hersteller. Geht die Erfolgsgeschichte in Europa weiter – oder reißt die Griechenland-Krise den Automarkt nun wieder in den Abgrund?
Der griechische Markt spielt für uns und die Autoindustrie keine große Rolle – im ersten Halbjahr sind dort keine 50.000 Autos neu zugelassen worden. Wir gehen jedenfalls nicht davon aus, dass wir wegen Griechenland unsere Absatzprognose für 2015 nach unten anpassen müssen.
Wie sieht die Absatzprognose denn aus?
Wir gehen weiter davon aus, dass der europäische Markt in den nächsten zwei, drei Jahren weiter leicht wächst. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den wichtigen Ländern ist gut. Die Märkte in Spanien, Großbritannien und Italien wachsen derzeit zweistellig. Und auch in Deutschland und Frankreich steigen die Fahrzeugverkäufe ganz ordentlich. Europaweit liegen wir deshalb voll im Plan oder sogar darüber.
Unter den Volumenherstellern ist Renault derzeit in Europa die Marke mit dem stärksten Wachstum. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Renault und Dacia waren schon im vergangenen Jahr die Automarken mit den stärksten Marktanteilsgewinnen in Kerneuropa. Und diesen Kurs setzen wir in der zweiten Jahreshälfte mit erhöhter Geschwindigkeit fort. Der Twingo ist sehr gut aufgenommen worden. Im ersten Halbjahr haben wir etwa 45 Prozent mehr Fahrzeuge des Typs verkauft als im Vorjahr. Der Capture ist im Segment der kompakten SUV inzwischen Marktführer. Und auch der Auftragseingang für den neuen Espace liegt etwa 20 Prozent über Plan. Wir scheinen also mit unseren neuen Modellen die Kundenwünsche sehr gut zu erfüllen. Wir sind sehr zufrieden – nicht nur bei der Entwicklung der Marktanteile, sondern übrigens auch mit der Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Kennziffern.
Gilt das auch für Deutschland?
Mit der aktuellen Geschäftsentwicklung in Deutschland bin ich ehrlich gesagt noch nicht zufrieden. Wir haben hier noch unsere Hausaufgaben zu machen.
In welcher Hinsicht?
Beim Marktanteil.
Renault liegt da aktuell bei 3,3 Prozent. Welcher Marktanteil wäre angemessen?
Dazu möchte ich mich nicht äußern. Deutschland hängt aber sehr am C-Segment, der Kompaktklasse. Die Erneuerung der Modellreihen Megane und Scenic wird uns da voranbringen. Aber das Wachstum wird darüber erst im nächsten Jahr kommen.
"Wollen zweitstärkster Hersteller in Europa sein"
Wann werden Sie die Marke von zehn Prozent überschreiten?
Inklusive Dacia liegen wir bereits bei über zehn Prozent. Unser Ziel ist es, spätestens 2017 zweitstärkster Hersteller mit der Marke Renault in Europa zu sein. Derzeit sind wir hinter VW und Ford noch die Nummer drei. Die neuen Modelle Espace, Kadjar und Talisman werden uns bei der Aufholjagd ebenso helfen wie der neue Megane und ein neuer Scenic.
Mit dem neuen Talisman will Renault in die gehobene Mittelklasse vorstoßen, in einen Markt, der derzeit von Audi, BMW und Mercedes dominiert ist. Ich finde die Eroberungs-Strategie ganz schön mutig.
Mut haben wir durchaus, das gebe ich zu. Aber im Flottengeschäft gibt es durchaus noch einen Markt für Mittelklasse-Limousinen mit konservativem Stufenheck. Von diesem Markt, der in Europa etwa zwei Millionen Einheiten zählt, wollen wir uns mit dem Eroberungsmodell Talisman ein ordentliches Stück herausschneiden.
Wie viel?
So viel wie möglich. In diesem Jahr werden wir mit Rücksicht auf die Qualität die Produktion im Werk Douai nur langsam hochfahren. Die Frage, wie viel Autos wir in diesem und im nächsten Jahr verkaufen, ist von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist, mit guter Produktqualität zu punkten und ein ordentliches Ergebnis einzufahren. Wir haben jedenfalls nicht die Absicht, mit dem Modell die Rabattschlacht in Europa anzuheizen.
Steht der Verkaufspreis schon fest?
Den Preis werden wir im September auf der IAA verraten. Es wird ein Premiumauto mit einem Nicht-Premiumpreis.
Renault setzt seit zwei Jahren stark auf den Elektroantrieb. Wird es den Talisman auch in einer elektrischen Variante geben?
Vollelektrisch werden wir das Modell nicht anbieten. Aber für eine Hybridisierung des Antriebs ist der Talisman vorbereitet. Wenn der Markt reift und sich das Geschäft lohnt, werden wir da sein.
Sind Sie zufrieden mit dem Verkauf Ihrer Elektroautos?
Der europäische Markt für Fahrzeuge mit alternativen Antrieben entwickelt sich leider nur schleppend, zugegebenermaßen auch schlechter, als wir erwartet haben. Aber man darf nicht alles schwarz malen: Es gibt durchaus Zuwächse in dem Segment. So haben wir unseren Absatz mit den zwei batterie-elektrischen Modellen Zoe und Kangoo EV in einem Jahr immerhin um 70 Prozent gesteigert.
Die Batterien für Elektroautos werden langsam billiger. Werden Sie in absehbarer Zeit neue Kunden mit Preissenkungen locken können?
Wir werden unser Angebot mit den sinkenden Batteriepreisen weiter optimieren – indem wir den Kunden für den gleichen Preis mehr bieten und sinkenden Mieten für die Batterien. Heute steht das noch nicht auf der Tagesordnung, aber natürlich wird der Zoe in absehbarer Zeit Veränderungen erfahren. Aber wer heute einen kauft, wird dadurch keinen Nachteil haben.