Volkswagen muss sich im Abgasskandal auf eine neue Welle von Schadensersatzforderungen einstellen. Die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) kündigte am Mittwoch in Berlin eine Musterfeststellungsklage an, mit der Besitzer und ehemalige Besitzer von Diesel-Fahrzeugen mit manipulierter Abgassteuerung entschädigt werden sollen. „Der vzbv will, dass gerichtlich eindeutig geklärt wird, ob es unrechtmäßige Handlungen zum Schaden von Millionen Verbrauchern gegeben hat“, sagte vzbv-Chef Klaus Müller. Während sich der VW-Konzern zuversichtlich zeigte, dass es keine Grundlage für die Forderungen gebe, erklärte Bundesjustizministerin Katarina Barley: „Verbraucher dürfen nicht die Dummen sein, wenn sich Unternehmen nicht rechtstreu verhalten.“
Die Klage, die vom ADAC unterstützt wird, will der vzbv mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Musterfeststellungsklage am 1. November beim Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig einreichen. Die große Koalition hatte sich verpflichtet, das Gesetz rasch auf den Weg zu bringen, um eine Verjährung der Schadenersatzansprüche zu stoppen. Diese laufen Ende 2018 aus. Die Klage soll sich gegen Fahrzeuge der Marken Volkswagen, Audi, Skoda und Seat mit Dieselmotoren des Typs EA 189 richten. Ziel ist die Feststellung, „dass Volkswagen mit der Software-Manipulation Kunden vorsätzlich sittenwidrig geschädigt und betrogen hat und betroffenen Käufern Schadensersatz schuldigt“.
Besitzer dieser Autotypen oder Verbraucher, die einen dieser Wagen verkauft haben, können sich der Klage kostenlos anschließen. Dafür müssen sie sich in ein Klageregister beim Bundesamt für Justiz eintragen und melden damit ihre Ansprüche an. Genauere Informationen hat der vzbv auf der Seite www.musterfeststellungsklagen.de bereitgestellt.
Die Vorgeschichte des VW-Abgasskandals
Volkswagen fällt die strategische Entscheidung, in den USA eine groß angelegte Dieseloffensive zu starten – trotz der dort viel strengeren Grenzwerte für Schadstoffemissionen.
VW tüftelt am Zwei-Liter-Dieselmotor EA 189, Audi entwickelt die größeren Drei-Liter-Antriebe. Doch die Entwickler realisieren bald, dass die Motoren die strengeren Abgas-Regeln, die in den USA ab 2007 gelten sollen, nicht erfüllen werden. Daraufhin wird eine Abschaltsoftware („defeat device“) entwickelt, die die Emissionen in Testsituationen reduziert, um die US-Umweltbehörden zu täuschen.
Mai: Die US-Staatsanwaltschaft wirft Winterkorn vor, schon ab diesem Zeitpunkt an der Verschwörung zum Betrug beteiligt gewesen zu sein.
17. Mai: Ein VW-Ingenieur beschreibt in einer E-Mail an die VW-Entwickler die von Audi entwickelte Software. Er warnt vor deren Einsatz in US-Dieselmotoren, weil sie nur der Umgehung von Abgas-Tests diene.
November: Ein Manager der Entwicklungsabteilung entscheidet nach einem Treffen mit Mitarbeitern, dass das „defeat device“ in US-Dieselmotoren eingesetzt werden soll. Man solle sich nur nicht erwischen lassen.
5. Oktober: Es gibt immer wieder technische Probleme mit der Entwicklung der Dieselmotoren und Diskussionen in dem Team, das für die Einhaltung von Abgaswerten in den USA verantwortlich ist. Bei einem Treffen entscheidet ein Manager, dennoch mit den manipulierten Motoren weiter zu machen.
VW startet die Werbekampagne „Clean Diesel“ in den USA – der Jetta TDI wird auf der Automesse in Los Angeles zum „Green Car of the Year“ gekürt.
VW-Modelle mit den manipulierten Zwei-Liter-Dieselmotoren kommen in den USA auf den Markt. Größere VW-Modelle sowie Audi- und Porsche-Fahrzeuge werden mit dem manipulierten Drei-Liter-Motor verkauft.
Februar: Die kalifornische Umweltbehörde CARB beauftragt das Forschungsinstitut International Council on Clean Transportation (ICCT) mit der Überprüfung von Abgas-Emissionen bei VW-Diesel-Fahrzeugen.
Frühjahr: Getestet werden ein Jetta Baujahr 2012 und ein Passat Baujahr 2013 auf den Straßen rund um Los Angeles. Das Ergebnis: Im Normalbetrieb sind die Abgasemissionen bis zu 35mal höher als im Labor. Die Daten werden genauer analysiert.
März: VW-Mitarbeiter erfahren von den Ergebnissen der ICCT-Studie. In den folgenden Wochen bittet die CARB Volkswagen um Erläuterung der Abgasemissionen. In der VW-Entwicklungsabteilung wird eine Task Force gegründet, um Antworten auf die Fragen der Umweltbehörde zu formulieren. Es wird entschieden, scheinbar mit den US-Behörden zu kooperieren, die Existenz eines „defeat device“ aber zu leugnen.
23. Mai: VW zufolge wird eine Notiz über die ICCT-Studie der Wochenendpost von Konzernchef Martin Winterkorn beigelegt. Ob er diese gelesen habe, sei nicht dokumentiert. Der US-Staatsanwaltschaft zufolge wird in dieser Mail explizit erwähnt, dass US-Behörden wohl nach einer Abschalteinrichtung, einem „defeat device“, in den VW-Dieselmotoren suchen würden.
1. Oktober: In einem Treffen mit der CARB erklären VW-Vertreter die höheren Abgaswerte mit technischen Gründen und Fahrverhalten, das „defeat device“ wird nicht erwähnt.
27. Juli: VW zufolge beraten sich einzelne Mitarbeiter am Rande einer Routinebesprechung („Schadenstisch“) über die Diesel-Thematik, in Anwesenheit von Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess. Laut US-Staatsanwaltschaft wird das leitende VW-Management inklusive Winterkorn an diesem Tag über das „defeat device“ informiert und auch über den Umstand, dass die US-Behörden darüber noch nicht Bescheid wissen. Medienberichten zufolge, die aus Zeugenaussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft Braunschweig zitieren, soll dabei auch schon über die Höhe eines möglichen Bußgelds gesprochen worden sein. Volkswagen hält dem entgegen, das Ausmaß und mögliche finanzielle Folgen der Abgasmanipulation seien erst viel später klar geworden.
18. August: VW-Manager entscheiden, dass man bei einem für den nächsten Tag geplanten Treffen mit CARB-Vertretern weiter lügt und das „defeat device“ nicht erwähnt.
19. August: Entgegen dieser Vorgabe deutet ein VW-Vertreter in dem Gespräch mit der CARB an, dass eine Software Abgaswerte in Testsituationen herunterregelt.
Ende August: VW zufolge erläutern VW-Techniker hauseigenen Juristen und den US-Anwälten die eigentliche Ursache für die Abweichungen der Abgas-Emissionen. Vorstandsmitglieder seien daraufhin zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich um ein unzulässiges „defeat device“ handele. Das solle der CARB und der US-Umweltbehörde EPA transparent kommuniziert werden.
3. September: In einer Telefonkonferenz mit CARB und EPA gesteht VW die Manipulation der Abgaswerte.
4. September: Winterkorn wird darüber durch eine Notiz unterrichtet. VW zufolge erklären Berater, dass solche Verstöße in den USA bisher auf dem Vergleichswege per Bußgeldzahlung geregelt wurden, die für Unternehmen von der Größe von VW nicht besonders hoch seien. Der Konzern habe mit einem Betrag im unteren dreistelligen Millionen-Bereich gerechnet, der angesichts von Rückstellungen nicht kursrelevant gewesen sei.
18. September: Die EPA macht am Abend das Geständnis öffentlich: VW habe vorsätzlich Abgasvorschriften bei rund 500.000 Diesel-Fahrzeugen umgangen. Die US-Umweltbehörde beziffert eine mögliche Strafe auf bis zu 18 Milliarden Dollar.
20. September: VW räumt die Abgas-Manipulationen nun selbst öffentlich ein und kündigt eine externe Untersuchung an.
21. September: Am ersten Börsenhandelstag nach dem öffentlichen Geständnis stürzt die VW-Aktie um 20 Prozent ab.
23. September: VW-Chef Winterkorn tritt zurück.
VW-Kunden, die sich der Klage anschließen, müssen einen langen Atem haben. Mit einem OLG-Urteil rechnen die vzbv-Juristen erst 2020. Bis zu einem Urteil in der letzten deutschen Instanz, dem Bundesgerichtshof, können noch einmal Jahre vergehen. Unklar ist, ob auch der Europäische Gerichtshof angerufen werden könnte. Endet die Musterfeststellungsklage mit einer Schadensfeststellung und nicht mit einem Vergleich, muss der jeweilige Verbraucher eine individuelle Schadensersatzklage gegen VW starten. Sein Vorteil ist dann, dass die Schuldfrage schon geklärt ist.
Der vzbv hat zwei Kanzleien engagiert, die die Musterfeststellungsklage vor Gericht vertreten sollen. Rechtsanwalt Ralf Stoll erklärte, Ziel könne sein, eine sogenannte Rückabwicklung durchzusetzen. Dann müsste der Kaufpreis, möglicherweise mit Abzug einer Nutzungsgebühr, von VW erstattet werden. Denkbar sei auch eine Einmalzahlung, die sich zwischen zehn und 25 Prozent des Neupreises bewegen würde, sagte der Jurist mit Blick auf bereits abgeschlossene, ähnlich gelagerte Prozesse. Nach Angaben des vzbv kommen theoretisch deutlich über zwei Millionen Pkw-Besitzer für die Musterfeststellungsklage gegen VW in Betracht.
„Es gibt keine Rechtsgrundlage für kundenseitige Klagen im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik in Deutschland“, erklärte ein VW-Sprecher. Die meisten Klagen von Volkswagen-Kunden vor Landgerichten seien erfolglos gewesen. Nach Angaben des Sprechers liegen zwölf Oberlandesgerichts-Urteile vor, „die allesamt im Sinne von Volkswagen beziehungsweise im Sinne der Händler ausgefallen sind". Insgesamt seien oder waren in Deutschland demnach rund 23.800 Verfahren anhängig. Am Montag hat vor dem OLG Braunschweig ein Prozess von Anlegern gegen Volkswagen begonnen. Sie werfen dem Wolfsburger Autokonzern vor, zu spät über die Abgasmanipulationen informiert zu haben und damit verantwortlich für finanzielle Verluste zu sein.
„Ich freue mich, dass vzbv und ADAC die erste ‚Eine für Alle-Klage‘ nach Beschluss des Gesetzes durch den Deutschen Bundestag erheben“, teilte Justizministerin Barley mit. Losgelöst vom VW-Dieselskandal ermutige sie alle Verbraucherinnen und Verbraucher, ihre Rechte zu nutzen, sagte sie mit Blick auf das neue Klageinstrument.