Selbstfahrende Autos Deutschland führend beim autonomen Fahren

Kaum ein anderes Zukunftsthema beschäftigt derzeit die Autoindustrie so sehr wie das automatisierte Fahren. Laut einer aktuellen Studie führt Deutschland die Entwicklung an – noch.

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Autonom fahrende S-Klasse von Mercedes: Noch eine Vision. Quelle: dpa

Deutschland ist führend bei der Umsetzung und Entwicklung des autonomen Fahrens. Zu diesem Ergebnis kommt der erstmals veröffentlichte Index "Automatisierte Fahrzeuge" (AV Index), der zusammen von der Strategieberatung Roland Berger und der Forschungsgesellschaft Kraftfahrwesen (fka) der RWTH Aachen erhoben wurde. Deutschland kommt in dem Index auf einen Wert von 3,1 Punkten (Skala 0 bis 5), knapp vor den USA (3,0) und Schweden (2,5).

Zusammen mit dem Trend zum Elektroantrieb und der Vernetzung der Fahrzeuge gehört das automatisierte Fahren zu den großen Zukunftsthemen der Automobilindustrie. "Wir stehen vor der Neuerfindung des Automobils", kündigt Dieter Zetsche im Interview mit dem Mittelstandsportal Deutsche Unternehmerbörse an. "Aus der Idee des autonomen Fahrens wird eine realistische Perspektive", so der Daimler-CEO. "Das Schlagwort heißt ‚the third place’: Neben dem Zuhause und dem Arbeitsplatz wird mit dem Auto ein dritter Raum geschaffen, in dem nicht nur am Steuer gesessen wird, sondern in dem auch gearbeitet, kommuniziert und entspannt werden kann."

Welche Assistenzsysteme es schon gibt und wann Roboter das Steuer komplett übernehmen

Ein Teil dieser Zukunftsvision ist bereits Realität, wenn auch nur ein kleiner: Zahlreiche Assistenzsysteme von heute bilden die Grundlage für das hoch- und vollautomatisierte Fahren von morgen. Um den Erfolg bei diesem Wettlauf zwischen Automobilnationen USA, Deutschland, China, Schweden, UK, Südkorea, Frankreich, Italien und Japan um die Zukunft zu messen, fassen die Forscher die Ergebnisse von zwei zentralen Indikatoren zusammen: der Industrie und dem Markt.

In der Industrie-Wertung werden der Entwicklungsstand der Fahrzeuge der jeweiligen Autobauer sowie Umfang und Ausrichtung der Forschungsaktivitäten bewertet. Unter "Markt" werden die Nachfrage nach Fahrassistenzsystemen und eine Einschätzung der rechtlichen Rahmenbedingungen zusammengefasst.

Apple, Google und Tesla befeuern die Entwicklung

"Die deutschen Premiumhersteller verfügen derzeit über eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung und Absicherung von hochautomatisierten Fahrzeugfunktionen", schreiben die Studienautoren. "In den USA wird die Technologieentwicklung hingegen stark von branchenfremden Akteuren getrieben, die um Gegensatz zu den etablierten Autobauern revolutionäre Entwicklungspfade verfolgen."

So kommt es, dass Deutschland beim Faktor Industrie mit 3,1 Punkten den Spitzenplatz einnimmt. "Wesentliche Gründe für die sehr gute Positionierung Deutschlands bei der Verfügbarkeit automatisierter Fahrfunktionen liegen in der klaren Profilierung der nationalen Autobauer als Premiumhersteller und der breiten Verfügbarkeit teilautomatisierter Fahrerassistenzsysteme in Serienfahrzeugen", fasst die Studie zusammen. "In den USA weisen die traditionellen, etablierten Fahrzeughersteller demgegenüber ein geringeres technologisches Niveau auf, die Aktivitäten von neuen Akteuren wie Tesla oder Google haben aber das Potenzial, in Zukunft große Technologiesprünge zu realisieren."

Diese Entwicklungen in den USA hat auch die deutsche Autoindustrie genau im Blick. So zollt Daimler-Chef Zetsche den "beeindruckenden Leistungen und der finanziellen Macht" von Google und Apple Respekt. Auf ihr Eindringen in sein angestammtes Territorium verfalle er allerdings nicht in Angststarre, sondern setze auf Wettbewerb oder Zusammenarbeit. "Eine Option könnte sein, dass die Autos in einem Joint Venture entstehen und wir diese dann bauen. Aber ich spreche hier rein fiktiv", so der Daimler-Chef mit Blick auf die Zukunft.

Wie gut Autokonzerne auf Angriffe von Apple & Co. vorbereitet sind

Die genaue Rollenverteilung, wer Partner und wer Konkurrent werden könnte, sei laut Zetsche noch unklar: "Auf der einen Seite gibt es Felder der Zusammenarbeit mit diesen Firmen. Auf der anderen Seite kann es sein, dass wir um den gleichen Kunden mit unterschiedlichen Produkten buhlen." Auf keinen Fall aber will Zetsche sich zum Zulieferer degradieren lassen. Auf die Frage, ob es denkbar wäre, dass Daimler für Google oder Apple Autos produzieren würde, antwortet er: "Wir wollen keine Lieferanten werden, die keinen direkten Kundenkontakt mehr haben und Hardware an Dritte liefern."

"Eine Komplettlösung ist ein großer Schritt"

Während sich die Entwicklung in Deutschland und den USA auf mehrere Unternehmen – sowohl aus der Autoindustrie als auch branchenfremde – verteilt, konzentriert sie sich im drittplatzierten Schweden vor allem auf einen Konzern. Die Skandinavier profitieren vor allem vom Fokus des größten schwedischen Autobauers Volvo auf die Entwicklung innovativer Sicherheitstechnologien. Der hohe Marktanteil von Volvo in seinem Heimatland führt dazu, dass Schweden die zweithöchste Verfügbarkeit teilautonomer Fahrfunktionen in heutigen Serienautos vorweisen kann.

Volvo testet seit 2014, wie sich teil- und vollautonome Fahrzeuge in Göteborg zurechtfinden. 2017 will Volvo 100 selbstfahrenden Autos über die Stadtautobahn der südschwedischen Stadt schicken. Es ist der größte Feldversuch eines europäischen Premiumherstellers, bei dem auch Kunden mitmachen.

Was Volvos Roboterautos schon jetzt leisten

"Eine Komplettlösung für selbstfahrende Fahrzeuge zu entwickeln ist ein großer Schritt. Wenn das öffentliche Pilotprojekt gestartet ist und läuft, wird es uns mit wertvollem Wissen über die Einbindung autonom fahrender Autos im Verkehrsgeschehen versorgen. Und wir werden erfahren, wie wir damit zu nachhaltiger Mobilität beitragen können", sagt Erik Coelingh, Technical Specialist bei Volvo Cars.

Lkw können vom autonomen Fahren profitieren

In Deutschland testet Audi auf einem Streckenabschnitt der A9 teilautomatisierte Fahrzeuge. Verkehrsminister Alexander Dobrindt möchte auf der Autobahn gar ein "Nationales Testfeld" einrichten. Dazu muss die Strecke mit Kommunikationspunkten für vernetzte Fahrzeuge, erkennbaren Fahrstreifen und einheitlicher Beschilderung ausgerüstet werden. Der US-Zulieferer Delphi hat gerade das Go für Testfahrten auf einer Schnellstraße in Wuppertal erhalten. Bosch testet autonome Fahrzeuge auf der A81. Daimler, so melden die Stuttgarter Nachrichten, darf nun auch selbstlenkende Lastwagen auf baden-württembergischen Autobahnen testen.

In der Öffentlichkeit spielen die autonom fahrenden Lkw derzeit nur eine Nebenrolle. Für die Unternehmen könnte die Entwicklung aber interessant sein: Ist der rechtliche Rahmen einmal gesichert, ist das Potenzial für autonome Fahrzeuge in der Logistikbranche mit am größten. Selbst verhältnismäßig hohe Anschaffungskosten von 10.000 Euro oder mehr für eine Ausstattung, die autonomes Fahren ermöglicht, amortisieren sich schnell. "Stellen Sie sich vor, um wie viel sich die Nutzungszeiten von Lkw steigern lassen, wenn Stop-and-Go- und Stauphasen als Ruhezeiten für den Fahrer angerechnet werden können oder er zusätzlich dispositive Aufgaben übernehmen kann", umreißt Roland-Berger-Partner Wolfgang Bernhart die Vorteile.

Diese Autohersteller forschen im Silicon Valley
Dass Google im Silicon Valley am selbstfahrenden Auto arbeitet, ist schon lange bekannt. Auch Apple arbeitet Gerüchten zufolge an einem eigenen Fahrzeug. Was weniger bekannt ist: Auch die Autobauer haben ihre Forschungszentren im Silicon Valley. Manche sogar schon länger, als es Google gibt. Quelle: Autonews.com Quelle: dpa
Mercedes-Benz:Als ersten Automobilhersteller zog es Mercedes-Benz 1994 ins Silicon Valley – damals war nicht einmal der Google-Vorläufer BackRub gegründet. Aktuell arbeitet Daimler in Kalifornien am Advanced User Experience Design und am autonom fahrenden Fahrzeug. Mittlerweile darf Mercedes sogar im Alltagsverkehr seine selbstfahrenden Autos testen. Stand 2013 waren 100 Mitarbeiter im Silicon Valley beschäftigt – die Kapazitäten sollen verdoppelt werden. Quelle: AP
BMW:2013 besuchte der damalige Wirtschaftsminister Philipp Rösler BMW im Silicon Valley und testete einen Elektrowagen. Schon 15 Jahre vorher, 1998, hat BMW eine Niederlassung im Mountain View errichtet, dem Herzen des Silicon Valley. Aktuell beschäftigt der bayerische Autobauer dort 30 Mitarbeiter, die vor allem neue Technologien und Trends ausmachen sollen, die relevant für BMW sind. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entwicklung und Erforschung dieser Neuheiten. Die Mitarbeiter entwickeln gerade Assistenz- und Infotainmentsysteme. Quelle: AP
Volkswagen:Volkswagen betreibt seit August 1998 im Silicon Valley das „Electronics Research Laboratory“ (ERL) – als Teil des globalen Forschungs- und Entwicklungsnetzwerks. Zu Beginn hatte das ERL noch drei Mitarbeiter – mittlerweile sind es über 80. Die VW-Marke Audi testet hier etwa selbstfahrende Fahrzeuge – ein Audi A7 ist bereits von Palo Alto 500 Meilen über einen Highway nach Las Vegas gefahren. Infotainmentanwendungen werden ebenfalls erprobt. Daneben betreibt VW Kooperationen mit Universitäten. Quelle: dpa
Toyota:2001 zog Toyota im Silicon Valley das erste Forschungszentrum hoch – nachdem der japanische Autobauer bereits 1977 eines in Michigan erbaute. Im April 2012 eröffnete der Toyota ein neues Forschungszentrum im Silicon Valley, in dem vor allem Infotainment-Systeme entwickelt und erforscht werden sollen. Vor Ort arbeiten 40 Mitarbeiter. Insgesamt beschäftigt Toyota in seinen Forschungszentren in Amerika über 1100 Mitarbeiter. Quelle: AP
General Motors:2007 eröffnete GM sein „Advanced Technology Sillicon Valley Office“. Laut autonews.com arbeiten dort aktuell nur sieben Mitarbeiter – geleitet wird das Büro von Frankie James. Das Büro ist vor allem da, um zu beobachten, was im Silicon Valley passiert und um Technologien und Trends auszumachen, die dem Unternehmen nützlich sein könnten. Vier Mitarbeiter sind dafür verantwortlich. Einer ist speziell dafür da, gewinnbringende Investmentmöglichkeiten vor Ort auszumachen. Quelle: dpa
Nissan:2011 baute Nissan sein Forschungszentrum im Silicon Valley auf. Es soll das Zentrum für die Forschung am selbstfahrenden Auto sein. Ziel ist es, 2020 ein marktreifes Fahrzeug vorstellen zu können. Weiter sollen dort neue Wege gefunden werden, Auto und Mensch zu verbinden, die Spracherkennung wird weiter erforscht und das Zentrum soll zu Testfahrten und der Analyse der dabei anfallenden Daten genutzt werden. Bis 2016 sollen hierfür über 60 Forscher eingestellt werden, sagte Carla Bailo 2013 gegenüber Bloomberg – damals noch als Vize-Präsidentin des nordamerikanischen Forschungsteams von Nissan. Nissan kooperiert mit der Stanford University, der University of California’s Berkeley und verschiedenen Unternehmen im Silicon Valley. Quelle: AP

Wann Daimler seine selbstfahrenden Test-Lkw zu ersten Erprobungsfahrten über die baden-württembergischen Autobahnen schicken will, hat der Konzern noch nicht bestätigt. Bei Null fangen die Daimler-Ingenieure aber nicht an: Im US-Bundesstaat Nevada sind bereits seit geraumer Zeit autonome Lkw der Daimler-Tochter Freightliner mit Straßenzulassung unterwegs, die ganz ähnliche Assistenzsysteme testen.

USA liegen bei rechtlichen Rahmenbedingungen vorne

Autobahnen in Baden-Württemberg und Bayern, Highways in Nevada – der Fokus auf diese Länder kommt nicht von ungefähr. "Die USA und Deutschland übernehmen hier die Führungsrolle, wobei in den USA nicht nur andere Zulassungsvorschriften und -prozesse gelten, sondern in den letzten Jahren auch einzelne Bundesstaaten individuelle Anpassungen von Regelungen vorgenommen haben", so die Roland-Berger- und fka-Experten. "Im Hinblick auf eine zukünftige Serienzulassung ist die legislative Situation in einigen US-Bundesstaaten daher aktuell vorteilhafter. Allerdings sind auch auf deutscher und internationaler Ebene entsprechende Anpassungsaktivitäten zu erkennen."

Noch viele Hürden für selbstfahrende Autos

Dass die USA im AV-Index die Wertung "Markt" mit 3,3 Punkten gewinnen, liegt aber nur zu einem kleinen Teil an den guten rechtlichen Rahmenbedingungen. Der deutlich größere Faktor ist das absolute Marktvolumen von Autos, die bereits heute mit Fahrassistenzfunktionen unterwegs sind. Einzig China kann bei den Verkaufszahlen noch halbwegs mit den USA mithalten, in Sachen Marktanteil der Autos mit Assistenten fällt der chinesische Markt aber schon wieder zurück.

Um nicht nur bei er Momentaufnahme des AV-Index, der sich auf das zweite Quartal 2015 bezieht, gut abzuschneiden, müssen die Unternehmen und Märkte auch in ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit investieren. Nur so können Verfügbarkeit und Erforschung in den relevanten Feldern – wie zum Beispiel Sensorik, Konnektivität oder die digitale Infrastruktur – sicher gestellt werden. Es überrascht wenig, dass beim Forschungsstand auch die Nationen vorne liegen, die derzeit das Gesamtbild dominieren: Deutschland, USA und Schweden.

"Einzelne Top-Universitäten und Forschungseinrichtungen" in den drei Ländern sehen die Studienautoren als führend an. So eröffnet zum Beispiel die Universität des US-Staates Michigan mit der "M City" eine eigens errichtete und 130.000 Quadratmeter große Test-Stadt zur Erprobung von autonomen Fahrzeugen. Hier dürfe Deutschland nicht den Anschluss verlieren: "Die deutschen Universitäten verfügen gegenüber Top-Universitäten in den USA über ein signifikantes Weiterentwicklungspotenzial in einzelnen Forschungsfeldern, was einer systematischen Förderung bedarf."

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