Auch in Russland beobachtet Michail Chlobzew skeptisch, was sich da über dem deutschen Konzern zusammenbraut. Chlobzew arbeitet für VW im Werk Kaluga. Als die Deutschen vor zehn Jahren 150 Kilometer südwestlich von Moskau mit dem Fabrikbau begannen, war er skeptisch. Volkswagen, eine Ausgeburt des kapitalistischen Westens? „Sie werden dich zum Arbeiten treiben“, dachte er sich. Nicht einmal zum Rauchen wird Zeit bleiben. Es dauerte länger als üblich, bis das Werk hochgefahren war, die Prozesse sich eingespielten. Doch bald sprach sich herum, dass die Deutschen ihre Leute zur Qualifizierung in andere europäische Werke fliegen und sich besser um die Belegschaft kümmern als viele russische Betriebe. Also meldete sich Chlobzew. Heute ist er Ausbilder.
Seither ist er den Deutschen treu – und wittert hinter dem Skandal eine Verschwörung. „Ich dachte gleich, das hat etwas mit Politik zu tun.“ Der Vorfall, so Chlobzew, sei ans Licht gekommen, als die deutsche Regierung den Amerikanern die Gefolgschaft verweigerte bei der Verschärfung von Sanktionen gegen Russland. War der Skandal eine Strafaktion der USA? Oder wollte Washington den Wettbewerber General Motors vor den aufstrebenden Deutschen schützen? So reimt Chlobzew sich seine Welt zusammen. Manches davon haben wohl die russischen Fernsehnachrichten beigesteuert – aber insgesamt passen seine Meinungen zu seinem Bild vom Konzern: Volkswagen ist und bleibt für ihn ein exzellenter Autobauer und ein traumhafter Arbeitgeber. Punkt. Ein Skandal in den fernen USA? Wen schert das hier schon?
Wirklich wichtig ist die hausgemachte Wirtschaftskrise, die Russland schon das dritte Jahr schüttelt. Der gesamte Pkw-Absatz sank 2015 um 35 Prozent auf 1,6 Millionen. Von der Prognose, wonach der Markt im Jahr drei Millionen Neuzulassungen verdauen kann, ist man weit entfernt. Weil die Russen sparen und ein neuer VW viel teurer ist als ein Lada, verkauft der Konzern seit Jahren nicht genug Autos, um das eigene Werk auszulasten, geschweige denn die Bänder bei einem Lohnfertiger. Im ersten Quartal sank der VW-Absatz um mehr als zwölf Prozent.
Nach vorn schauen
VW-Boss Matthias Müller kennt weder Michail Chlobzew, noch Cai Chen oder die Bassetts. Und dennoch begegnen ihm alle drei auf einem Termin Ende Mai, bei dem sich die Geschichten der VW-Mitarbeiter zu einem Zahlenwerk verdichten: zum Finanzbericht für das erste Quartal. Als Müller auf der Pressekonferenz die Zahlen verkündet, denkt niemand mehr daran, dass sie ein automobiles Weltreich beschreiben: Gewinn im ersten Quartal – minus 20 Prozent auf nur noch 2,3 Milliarden Euro. Zwar konnte Volkswagen bei den ausgelieferten Autos ein leichtes Plus von 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr vermelden. Allerdings wuchs der weltweite Markt im gleichen Zeitraum um 2,1 Prozent – der Wolfsburger Konzern verlor also deutlich Marktanteile.
Vor allem in den USA: Während dort im ersten Quartal 4,5 Prozent mehr Autos ausgeliefert wurden, verzeichnete der Volkswagenkonzern ein Minus von 2,2 Prozent. Auch in Westeuropa und Südamerika entwickelte sich der Absatz überwiegend schlechter als bei der Konkurrenz. Müller spricht an diesem Tag also wenig vom dieselgetriebenen „WeltAuto“. Stattdessen soll es das E-Auto richten. Klingt nach Zukunft. Ist skandalfrei. Steht für Visionen. Nur leider verkauft es sich nicht.