Volkswagen Das schrumpfende Reich des Weltkonzerns

VW war auf dem besten Weg zum größten Autobauer der Welt. Dann schrumpften die Wolfsburger zum globalen Krisenkonzern. Erkundungen über Dieselgate und die Folgen in den Ländern des VW-Reichs.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
VW: Der globale Krisenkonzern war auf dem besten Weg zum größten Autobauer der Welt Quelle: Bloomberg

Endlich mal wieder ein angenehmer Termin für Matthias Müller. Es ist die letzte Woche im Mai, als der VW-Vorstandschef nach Berlin kommt, um die Expansion seines Unternehmens in ein weiteres Land zu verkünden. An der Seite von Shahar Waiser erklärt Müller, dass der größte deutsche Autokonzern mit 300 Millionen Euro bei der israelischen Fahrdienst-App Gett einsteigt, einem Konkurrenten des US-Chauffeurservice Uber. „Unser Kernprodukt ist künftig nicht mehr nur das Auto“, freut sich Müller. „Unser Kernprodukt, unser Versprechen an die Menschen, ist Mobilität.“ Dann hält er einen Tabletcomputer hoch, auf dem die App zu sehen ist, und freut sich, dass der vergleichsweise kleine Zuwachs im großen VW-Konzern allgemein als Zeichen von Zukunftszugewandtheit gedeutet wird.

Jubel über eine neue App statt über neue Absatzrekorde – was haben sich die Zeiten geändert im größten deutschen Industriekonzern. Seit acht Monaten wird VW nun schon vom Dieselgate-Skandal durchgerüttelt.

Bevor die US-Umweltbehörde EPA den Betrug am 18. September 2015 publik machte, hatten die Wolfsburger himmelhohe Ambitionen: Martin Winterkorn, damals Vorstandschef, war angetreten, um Toyota als weltgrößten Autohersteller zu überholen. Und tatsächlich schien das Wolfsburger Imperium auf einem guten Globalisierungsweg. Der Konzern zählt mehr als 100 Fabriken für seine zwölf Marken, ist in 19 Ländern Europas und acht Staaten Amerikas, Asiens und Afrikas vertreten. Nur noch knapp jedes vierte Auto rollt in Deutschland vom Band. Zum Vergleich: BMW und Daimler fertigen bis zu 70 Prozent in der Heimat.

Doch Martin Winterkorn und sein ostentativer Ehrgeiz sind Geschichte. Der neue CEO heißt Matthias Müller, und er ist gekommen, um Scherben aufzukehren. Der Börsenwert des Konzerns ist seit September um rund 20 Milliarden Euro gesunken. In den USA drohen Strafen bis 90 Milliarden Dollar. Man spricht in Wolfsburg nicht mehr davon, die Welt zu erobern. Es geht jetzt darum, das Unternehmen zu retten.

Entsprechend ist in der Diktion von Müller von einem „Übergangsjahr“ die Rede, „in dem wir den Konzern grundlegend neu ausrichten“. Übergang, das heißt in Wolfsburg: schrumpfen. Dezimieren. Abnehmen. Bei den Ambitionen. Bei den Verdiensten. Und bei den Marktanteilen. Denn Müller und seine Manager kämpfen mit zwei großen Problemen zugleich. In den westlichen Märkten hat VW Reputation eingebüßt und Kunden verloren. Und wo der Imageschaden nur kleine Kratzer hinterlassen hat, in China oder Russland, bremsen eine abflauende Konjunktur und strukturelle Probleme den Verkauf. Was also bleibt von den weltweiten Ambitionen des wichtigsten deutschen Industriekonzerns?



Autos zum Fremdschämen

Es ist nicht lange her, da war Tom Bassett begeistert von der deutschen Ingenieurkunst. Der silberne Golf TDI, den die Deutschen seiner Frau Carol Spindel und ihm im Juni 2015 in Bartlett, Illinois, auf den Hof gestellt hatten, hielt mehr als erwartet. Unterwegs in den Urlaub nach Neuengland kam „Das WeltAuto“, wie es VW gerne nennt, pro Gallone Diesel 82 Kilometer weit – weiter als der Händler versprochen hatte! „Es ist stark, was die deutschen Ingenieure hinbekommen haben“, dachte Bassett.

Wenige Monate später ist die Begeisterung gründlich verflogen. Das Professorenpaar, VW-Fahrer seit der Käfer-Ära und dem Konzern in Nibelungentreue verbunden, mochte zunächst nicht glauben, was Medien im September behaupteten: Volkswagen soll seine Dieselfahrzeuge manipuliert haben? VW? Ihre Marke? Ihr „WeltAuto“? Auf einmal war da nur noch wenig übrig vom Stolz auf die deutsche Ingenieurkunst. Stattdessen stiegen die Bassetts nur noch mit leichtem Widerwillen in ihren Golf, fuhren zu ihrem Händler und wollten wissen: Was ist dran an den Vorwürfen? Ist unser Sparmobil tatsächlich eine Dreckschleuder?

Die deutsche Konkurrenz profitiert

Sie blitzten ab. „Der Verkäufer wusste noch weniger über die Betrugsaffäre als wir“, sagt Spindel heute. Also wandte sich das Paar per Post an den Weltkonzern. Auf ihr Schreiben folgte die postalische Entschuldigung für das „missbrauchte Vertrauen“: ein standardisierter Brief, unterschrieben von Michael Horn. Der damalige US-Chef versprach, es sei „sicher und legal“, mit einem Diesel zu fahren. Horn musste mittlerweile einem anderen Manager weichen.

Und Carol Spindel sagt heute: „Unser Volkswagen ist nicht sicher. Er verpestet das Klima, und sein enormer Abgasausstoß kann zu schweren Gesundheitsschäden führen.“ VW soll ihren Wagen so umbauen, dass er die Verbrauchs- und Abgasnorm hält – oder den Golf zurücknehmen, zum Neupreis von 28 800 Dollar. Das Ehepaar hat einen Anwalt engagiert. Auf dem Heck seines Golfs klebt jetzt ein großer Aufkleber. Darauf das VW-Logo und der Schriftzug „Das Fraud“: „Der Betrug.“

Der VW-Konzernvorstand

Der Aufkleber ist in den USA dieser Tage 1000-fach zu sehen. Seit der Skandal ans Licht kam, liegen die Absatzzahlen deutlich unter Plan. Im Mai verkauften fast alle Hersteller in den USA mehr Autos – nur bei VW gingen die Verkäufe um 17,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zurück. Tom Bassett jedenfalls schämt sich inzwischen für den VW. Kaufen will er keinen mehr.

Auch in Japan kippt die Stimmung. Ein Werktag in Roppongi, Tokios Amüsierviertel. Im Showroom des größten VW-Händlers im Land mangelt es auch heute nicht an Passanten. Sie schlendern an den blitzblank polierten Ausstellungsmodellen vorbei, setzen sich ans Steuer von Polo, Golf, Passat, Touran. Shogo Okamoto lächelt freundlich, aber er lässt sich nichts vormachen: Die Japaner gucken nur, sie kaufen nicht. Jetzt nicht mehr. Der VW-Absatz in Japan lag im ersten Quartal fast ein Viertel unter dem Vorjahr.

Erstmals seit Jahren ist nicht VW, sondern Mercedes absatzstärkste Auslandsmarke. Unter den Importmarken sank der Anteil von VW im ersten Quartal gar um ein Drittel auf 14 Prozent (Mercedes 19 Prozent). Das ist auch deshalb niederschmetternd, weil der Anteil importierter Pkws in Japan gerade mal bei elf Prozent liegt. Noch immer stammt fast jedes zweite Auto, das in Japan verkauft wird, von Toyota. Umso schmerzlicher der Verlust der Marktführung bei den Importeuren: „Das war immer ein gutes Verkaufsargument“, sagt Okamoto: Die Mehrwertsteuererhöhung vor zwei Jahren und hohe Unterhaltskosten für ein Auto in Japan machen ihm in seinen 15 Filialen zu schaffen, sagt der 50-Jährige, der vor zehn Jahren von Mazda zu VW kam – und seinen Wechsel heute bereut. Aber härter als alles andere trifft ihn Dieselgate. Nach Bekanntwerden des Skandals gab es sofort Stornierungen, der Absatz brach um die Hälfte ein. Im Mai reagierte der neue VW-Chef Till Scheer auf den schwachen Verkauf mit einer Preissenkung von bis zu 1300 Euro für den Golf. Ob’s hilft?

Viele Leute seien nachhaltig schockiert, sagt Okamoto: „Der Skandal erschüttert das große Vertrauen der Japaner in das VW-Emblem.“ Die Marke hatte in Japan, wo etwa 650 000 VW zugelassen sind und sich der Marktanteil auf zwei Prozent belief, einen Ruf von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Ihre Fahrzeuge sind als sukoshi ii mono, als ein „bisschen bessere Produkte“, zwischen japanischen Autobauern und ausländischen Premiummarken positioniert. „VW ist besser und cooler als Toyota, aber nicht so auffällig wie BMW“, erläutert Okamoto.

Im Konzern regiert die Angst

Kurzum: Wer sich als Japaner für Importautos interessierte, landete in den vergangenen Jahren fast zwangsläufig bei VW. Nun aber hat sich der Marktanteil halbiert. Und das macht den stolzen Händlern zu schaffen, die von Provisionen leben und der Marke ein freundliches Gesicht geben sollen. 10 der 80 Verkäufer in Tokios 15 VW-Salons haben die Konsequenzen gezogen und sind zur Konkurrenz gewechselt.

Und so fressen sich Enttäuschung und Wut von außen ins Innere des Konzerns. Vergrätzte Kunden sind das eine. Sie wirken sich unmittelbar negativ auf die Bilanz aus. Aber mit viel Mühe lässt sich das vielleicht reparieren. Enttäuschte Verkäufer wie Okamoto oder missgelaunte Mitarbeiter sind da schon gefährlicher für ein Unternehmen. Wenden sie sich ab, geht der Firma die Seele verloren. Deswegen hallt es bis Wolfsburg, wenn Matías Carnero in Spanien sagt: „Ich verstehe nicht, warum für den Skandal noch immer niemand im Gefängnis sitzt. Das ist Betrug.“

Die Schwellenländer schwächeln

Der 48-Jährige ist Betriebsratschef der spanischen VW-Tochter Seat mit ihren 13 000 Mitarbeitern und hatte lange eine sehr hohe Meinung von seinem Arbeitgeber. Bisher, glaubt er, haben die Deutschen vor allem Wohlstand in seine Heimat gebracht. Anfang des Jahrtausends etwa, als die spanische Konzernmarke so schlecht lief, dass viele Wolfsburger Manager ihre spanische Tochter am liebsten geschlossen hätten. Der Absatz lag darnieder, außerhalb des Heimatmarkts wollte kaum jemand einen Spanier fahren. Doch statt die Marke abzuwickeln – was damals interne wie externe Fachleute durchaus empfahlen –, schossen die Deutschen Hunderte Millionen Euro nach, um die Qualität zu steigern und Kosten einzusparen. Das war die Rettung.

Heute, etwas mehr als zehn Jahre später, stellt sich die Belegschaft am Seat-Sitz Barcelona wieder die Fragen von damals: Wie viele Arbeitsplätze wird uns der Skandal kosten? Wird die Zentrale auch bei uns kürzen? An den September, als Dieselgate bekannt wurde, erinnert sich Carnero, als sei es gestern gewesen. „Die ersten 72 Stunden waren die Hölle“, erzählt er. Aus Wolfsburg kamen zuerst gar keine, dann nur tröpfchenweise Informationen. Niemand hatte eine Ahnung von der Dimension des Skandals. Von 500 000 manipulierten Autos der Marke Seat allein in Spanien berichteten Medien. Viel zu viel, sagt Carnero: „Das konnte schon rein rechnerisch nicht sein.“ Doch bald wurde ihm klar: Dieser Skandal kann größer werden als jede Krise, die das Unternehmen bisher erlebt hat.

Was VW-Kunden jetzt wissen müssen
Ein kurzer Tastendruck und es geht los: Millimeter um Millimeter wächst der blaue Balken auf dem Computerbildschirm. In nur knapp zehn Minuten ist der schwarze VW-Amarok fertig, der an der anderen Seite des Kabels steckt. Es ist ein kleiner Schritt für den Techniker, aber ein großer für Volkswagen. Denn das Update markiert den Auftakt der größten Rückrufaktion in der Konzerngeschichte. Aber damit nicht genug: Zugleich stiftete das Update neue Verwirrung rund um den im Diesel-Skandal steckenden Autobauer. Noch vor dem offiziellen Segen des zuständigen Kraftfahrt-Bundesamtes KBA waren die ersten VW-Amarok am Computer – früher als eigentlich angenommen. Quelle: dpa
Zur Aufklärung sagte am Mittwochabend ein VW-Sprecher: „In den vergangenen Tagen sind im Unternehmen die organisatorischen Vorbereitungen für den Rückruf des Amarok abgeschlossen worden.“ Dazu habe auch das Verschicken von Kundenbriefen gehört. Der Sprecher bestätigte zudem, dass die finale Freigabe vom KBA bei VW an diesem Mittwoch einging - das teilte die Behörde aber erst am frühen Abend mit. Zuvor hatte es von dort stets geheißen, die Freigabe stehe noch aus. Die Freigabe für die weiteren betroffenen Modelle befinden sich derzeit beim Kraftfahrt-Bundesamt noch in der Prüfung, wie es weiter hieß. Der VW-Sprecher erklärte: „Im Zuge einer so komplexen, umfassenden und markenübergreifenden Rückrufaktion kann es dazu gekommen sein, dass einige wenige Fahrzeuge bereits in den Werkstätten waren.“ Quelle: dapd
Das Anschreiben von Volkswagen im WortlautSehr geehrter Herr (), wir bedauern sehr, dass Ihr Vertrauen in die Marke Volkswagen derzeit auf die Probe gestellt wird. Und möchten uns zunächst in aller Form hierfür bei Ihnen entschuldigen. Im Rahmen der aktuellen Berichterstattungen über die Stickoxidproblematik bei Volkswagen müssen wir Ihnen mitteilen, dass auch Ihr Amarok betroffen ist. In einem begrenzten Fertigungszeitraum sind Dieselmotoren mit einer Motorsteuergerätesoftware verbaut worden, durch welche die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden. Aus diesem Grund ist eine Umprogrammierung des Motorsteuergerätes erforderlich. Mit diesem Schreiben möchten wir Sie informieren, dass die benötigte Software zur Verfügung steht und Ihr Fahrzeug nun umprogrammiert werden kann. Wir möchten Sie bitten, sich umgehend mit einem autorisierten Partner für Volkswagen in Verbindung zu setzen, damit ein Termin vereinbart werden kann. Die Maßnahme wird je nach Arbeitsumfang zwischen 30 Minuten und 1 Stunde in Anspruch nehmen und ist für Sie selbstverständlich kostenlos. Haben Sie bitte Verständnis, wenn die Maßnahme aus organisatorischen Gründen im betrieblichen Ablauf auch einen etwas längeren Zeitraum in Anspruch nehmen kann. Wir möchten Sie zudem darauf hinweisen, dass bei Nicht-Teilnahme an der Rückrufaktion eine Betriebsuntersagung gem. §5 FZV durchgeführt werden kann. Zur reibungslosen Abwicklung ist es sinnvoll, wenn Sie zu dem vereinbarten Termin dieses Schreiben und den Serviceplan für die notwendigen Eintragungen mitbringen. Auch wenn Ihnen dieser außerplanmäßige Werkstattaufenthalt Unannehmlichkeiten bereiten sollte, hoffen wir auf Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung bei der Abwicklung dieser vorsorglichen Maßnahme. Wir schätzen Ihr Vertrauen in die Marke Volkswagen und bedanken uns für Ihre Loyalität. Sollten Sie nicht mehr im Besitz dieses Fahrzeuges sein, so geben Sie uns bitte den Namen und die Anschrift des neuen Halters beziehungsweise den Verbleib des Fahrzeugs an. Füllen Sie dazu bitte einfach die beiliegende Antwortkarte aus und senden Sie uns diese Information so schnell wie möglich zurück. Sollten Sie im Zusammenhang mit dieser Überprüfung Fragen haben, wenden Sie sich bitte an Ihren Partner für Volkswagen oder an das Servicetelefon unter der Telefonnummer 05361 83 89 99 60. Mit freundlichen Grüßen Hinweis des Kraftfahrt-Bundesamtes: Ihre Anschrift haben wir für diese Maßnahme gemäß §35 Abs.2 Nr.1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) vom Kraftfahrt-Bundesamt erhalten. Quelle: dpa
In der Werkstatt verlief die Umrüstung ohne Probleme. „Aktion 23R7 durchgeführt - Motorsteuergerät NOx“, stand danach im Serviceheft des Amarok in Hannover, dessen Update ein dpa-Fotojournalist begleitete. Das Auto soll nun nicht mehr erkennen können, ob sich ein Auto bei Abgasprüfungen auf dem Teststand befindet oder im Straßenverkehr. Für VW ist es der Startschuss des größten Rückrufs in der Geschichte. Allein hierzulande geht es um 2,4 Millionen Dieselfahrzeuge. Die Rückruf-Aktion soll sich monatelang hinziehen. Quelle: dpa
Mitte September hatte Europas größter Autokonzern eingeräumt, mit einer Software Abgas-Tests bei Dieselfahrzeugen manipuliert zu haben. Dies hatte den Konzern in eine schwere Krise gestürzt. Nun beginnt das „Jahr der technischen Umrüstung“, wie es im VW-Aufsichtsrat bereits hieß. Während die Rückruf-Maßnahmen in den USA für die betroffenen Diesel mit zwei und drei Litern Hubraum derzeit noch mit den Behörden abgestimmt werden, steht der Fahrplan in Deutschland bereits fest: Nach dem Amarok sollen die weiteren Varianten mit 2.0-TDI-Motor in die Werkstätten beordert werden, etwa beim Golf und Passat. Später soll dann der Rückruf für den 1.2-TDI-Motor anlaufen, auch hier reicht ein reines Software-Update aus. Quelle: dpa
Komplizierter wird es bei den 1,6-Liter-Modellen des Skandalmotors EA189. Stand am Anfang noch ein aufwändiger und teurer Austausch der Einspritzdüsen im Raum, hat Volkswagen bereits im vergangenen Jahr eine deutlich günstigere Lösung des Abgas-Problems vorgestellt. Nach Angaben von VW soll der zusätzlich eingebaute Strömungsgleichrichter dafür sorgen, dass Luft besser angesaugt und Treibstoff effizienter verbrannt werden kann. So sollen auch Abgaswerte entsprechend den Emissionsnormen verbessert werden. Quelle: dpa
Experten haben aber bereits Zweifel angemeldet, ob das vorgestellte Luftgitter wirklich ausreicht, um die Messwerte und damit die Verbrennung entscheidend zu verbessern. Die Umrüstung ist bei dem 1.6 TDI aufwändiger, weil alle drei Varianten des EA189 unterschiedliche Motorsteuerungen von verschiedenen Zulieferern stammen, die auf den jeweiligen Motor abgestimmt sind, werden bei jeder Variante auch andere Maßnahmen nötig. Quelle: dpa

Bei Seat fühlten sie sich doppelt von Wolfsburg betrogen. Als Mitarbeiter und als Kunden. „Ein Großteil der Belegschaft hat manipulierte Autos gekauft. Für uns ist im Herbst ein Mythos gestorben. Der Mythos von deutscher Ingenieurkunst und Zuverlässigkeit, der wir uns zugehörig fühlten“, sagt Carnero. Tags zuvor hat es geregnet am Seat-Sitz in Martorell. Jetzt sind alle Autos auf dem Fabrikparkplatz mit einer Schmutzschicht überzogen. Feinstaub, den der Regen brachte. „Alle reden immer von CO2,“ klagt er. „Dabei sind andere Partikel in der Luft viel schlimmer.“ Aber die Politiker hätten sich nun mal auf Kohlendioxid kapriziert – und mit ihren Vorgaben dazu beigetragen, dass alle Autohersteller bei den Labortests schummelten. Alle, davon ist Carnero überzeugt – „jeder auf seine Weise“. Aber Seat, wo man nichts ahnend die deutschen, manipulierten Motoren eingebaut habe, treffe der Skandal am härtesten. „Ein Audi-Fahrer wird zu 90 Prozent wieder einen Audi kaufen, ein VW-Fahrer zu 85 Prozent wieder einen VW. Seat aber kann sich noch nicht auf Markenloyalität verlassen.“

Man könnte nun sagen: Schmutzige Abgase? Ein typisches Wohlstandsproblem satter westlicher Gesellschaften. In den Schwellenländern, in denen Menschen sich über ihr erstes Auto freuen – was stören da höhere Stickstoffwerte? Und vordergründig ist das auch so, findet Cai Chen. Seit sechs Jahren arbeitet er als Verkäufer in einem Autohaus im Zentrum von Shanghai. Er ist stolz auf die Marke, immer noch, trotz alledem. Cai ist Anfang 30, hochgewachsen, und zwischen den neuen Autos sieht er in seinem schlecht geschnittenen Anzug furchtbar tapsig aus. „Die deutschen Autos haben die beste Qualität und sind auch sicherer als die Japaner“, sagt er. Bei der Frage nach den Auswirkungen des Skandals in China muss Cai erst einmal nachfragen: „Der Skandal mit dem Diesel?“

China ist ein wichtiger Markt für Volkswagen. Rund 3,55 Millionen Autos verkaufte das Unternehmen dort im vergangenen Jahr. Und für das erste Quartal meldete der Konzern sogar einen Absatzrekord: 955 500 Autos. Es ist eine seltene Erfolgsgeschichte. Zahllose westliche Firmen sind hier gescheitert. VW hingegen ist in China fast durchgehend gewachsen. Und dass die Wolfsburger nicht einmal Dieselgate ausbremsen kann, hat nicht zuletzt mit der China-Story des Unternehmens zu tun: Die Deutschen bauten bereits in denn Achtzigerjahren in der Nähe von Shanghai eine Fabrik – zu einer Zeit, als sich noch kein anderer Hersteller ins Land traute. So brachte VW nicht nur irgendein Importgut ins Land – die Wolfsburger erfanden das Automobil quasi neu für die Chinesen.

Doch hinter der glänzenden Fassade knirscht es auch auf dem wichtigsten Volkswagen-Markt: Die Umstellung auf stärker nachgefragte SUVs dauert länger als bei der Konkurrenz. Günstigere Modelle, wie sie andere produzieren, fehlen im VW-Katalog. Konkurrent General Motors wuchs 2015 schneller als die Deutschen. Der Umsatz von Volkswagen ging derweil um 3,5 Prozent zurück.

Amerikanische Verschwörung

Auch in Russland beobachtet Michail Chlobzew skeptisch, was sich da über dem deutschen Konzern zusammenbraut. Chlobzew arbeitet für VW im Werk Kaluga. Als die Deutschen vor zehn Jahren 150 Kilometer südwestlich von Moskau mit dem Fabrikbau begannen, war er skeptisch. Volkswagen, eine Ausgeburt des kapitalistischen Westens? „Sie werden dich zum Arbeiten treiben“, dachte er sich. Nicht einmal zum Rauchen wird Zeit bleiben. Es dauerte länger als üblich, bis das Werk hochgefahren war, die Prozesse sich eingespielten. Doch bald sprach sich herum, dass die Deutschen ihre Leute zur Qualifizierung in andere europäische Werke fliegen und sich besser um die Belegschaft kümmern als viele russische Betriebe. Also meldete sich Chlobzew. Heute ist er Ausbilder.

Stolz statt Scham: Ausbilder Chlobzew wähnt ein Komplott hinter dem VW-Skandal. Quelle: Fedor Savintsev für WirtschaftsWoche

Seither ist er den Deutschen treu – und wittert hinter dem Skandal eine Verschwörung. „Ich dachte gleich, das hat etwas mit Politik zu tun.“ Der Vorfall, so Chlobzew, sei ans Licht gekommen, als die deutsche Regierung den Amerikanern die Gefolgschaft verweigerte bei der Verschärfung von Sanktionen gegen Russland. War der Skandal eine Strafaktion der USA? Oder wollte Washington den Wettbewerber General Motors vor den aufstrebenden Deutschen schützen? So reimt Chlobzew sich seine Welt zusammen. Manches davon haben wohl die russischen Fernsehnachrichten beigesteuert – aber insgesamt passen seine Meinungen zu seinem Bild vom Konzern: Volkswagen ist und bleibt für ihn ein exzellenter Autobauer und ein traumhafter Arbeitgeber. Punkt. Ein Skandal in den fernen USA? Wen schert das hier schon?

Wirklich wichtig ist die hausgemachte Wirtschaftskrise, die Russland schon das dritte Jahr schüttelt. Der gesamte Pkw-Absatz sank 2015 um 35 Prozent auf 1,6 Millionen. Von der Prognose, wonach der Markt im Jahr drei Millionen Neuzulassungen verdauen kann, ist man weit entfernt. Weil die Russen sparen und ein neuer VW viel teurer ist als ein Lada, verkauft der Konzern seit Jahren nicht genug Autos, um das eigene Werk auszulasten, geschweige denn die Bänder bei einem Lohnfertiger. Im ersten Quartal sank der VW-Absatz um mehr als zwölf Prozent.

Die größten Stickoxid-Sünder
Mercedes-Benz V250dPrüfstandswert: 40 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 313 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 291 Prozent Quelle: Daimler
Ford C-Max 1.5 TDCIPrüfstandswert: 79 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 437 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 446 Prozent Quelle: Ford
Ford C-Max 2.0 TDCIPrüfstandswert: 79 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 481 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 501 Prozent Quelle: Ford
Jaguar XE 2.0DPrüfstandswert: 45 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 594 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 642 Prozent Quelle: Jaguar Land Rover
Opel Insignia 2.0 CDTIPrüfstandswert: 45 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 637 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 696 Prozent Quelle: Opel
Opel Zafira 1.6 CDTIPrüfstandswert: 74 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 720 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 800 Prozent Quelle: Opel
Porsche Macan S DieselPrüfstandswert: 58 Milligramm NOx pro KilometerStraßenwert: 791 Milligramm NOx pro KilometerÜberschreitung: 889 Prozent Quelle: Porsche

Nach vorn schauen

VW-Boss Matthias Müller kennt weder Michail Chlobzew, noch Cai Chen oder die Bassetts. Und dennoch begegnen ihm alle drei auf einem Termin Ende Mai, bei dem sich die Geschichten der VW-Mitarbeiter zu einem Zahlenwerk verdichten: zum Finanzbericht für das erste Quartal. Als Müller auf der Pressekonferenz die Zahlen verkündet, denkt niemand mehr daran, dass sie ein automobiles Weltreich beschreiben: Gewinn im ersten Quartal – minus 20 Prozent auf nur noch 2,3 Milliarden Euro. Zwar konnte Volkswagen bei den ausgelieferten Autos ein leichtes Plus von 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr vermelden. Allerdings wuchs der weltweite Markt im gleichen Zeitraum um 2,1 Prozent – der Wolfsburger Konzern verlor also deutlich Marktanteile.

Vor allem in den USA: Während dort im ersten Quartal 4,5 Prozent mehr Autos ausgeliefert wurden, verzeichnete der Volkswagenkonzern ein Minus von 2,2 Prozent. Auch in Westeuropa und Südamerika entwickelte sich der Absatz überwiegend schlechter als bei der Konkurrenz. Müller spricht an diesem Tag also wenig vom dieselgetriebenen „WeltAuto“. Stattdessen soll es das E-Auto richten. Klingt nach Zukunft. Ist skandalfrei. Steht für Visionen. Nur leider verkauft es sich nicht.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%