Der 48-Jährige ist Betriebsratschef der spanischen VW-Tochter Seat mit ihren 13 000 Mitarbeitern und hatte lange eine sehr hohe Meinung von seinem Arbeitgeber. Bisher, glaubt er, haben die Deutschen vor allem Wohlstand in seine Heimat gebracht. Anfang des Jahrtausends etwa, als die spanische Konzernmarke so schlecht lief, dass viele Wolfsburger Manager ihre spanische Tochter am liebsten geschlossen hätten. Der Absatz lag darnieder, außerhalb des Heimatmarkts wollte kaum jemand einen Spanier fahren. Doch statt die Marke abzuwickeln – was damals interne wie externe Fachleute durchaus empfahlen –, schossen die Deutschen Hunderte Millionen Euro nach, um die Qualität zu steigern und Kosten einzusparen. Das war die Rettung.
Heute, etwas mehr als zehn Jahre später, stellt sich die Belegschaft am Seat-Sitz Barcelona wieder die Fragen von damals: Wie viele Arbeitsplätze wird uns der Skandal kosten? Wird die Zentrale auch bei uns kürzen? An den September, als Dieselgate bekannt wurde, erinnert sich Carnero, als sei es gestern gewesen. „Die ersten 72 Stunden waren die Hölle“, erzählt er. Aus Wolfsburg kamen zuerst gar keine, dann nur tröpfchenweise Informationen. Niemand hatte eine Ahnung von der Dimension des Skandals. Von 500 000 manipulierten Autos der Marke Seat allein in Spanien berichteten Medien. Viel zu viel, sagt Carnero: „Das konnte schon rein rechnerisch nicht sein.“ Doch bald wurde ihm klar: Dieser Skandal kann größer werden als jede Krise, die das Unternehmen bisher erlebt hat.
Bei Seat fühlten sie sich doppelt von Wolfsburg betrogen. Als Mitarbeiter und als Kunden. „Ein Großteil der Belegschaft hat manipulierte Autos gekauft. Für uns ist im Herbst ein Mythos gestorben. Der Mythos von deutscher Ingenieurkunst und Zuverlässigkeit, der wir uns zugehörig fühlten“, sagt Carnero. Tags zuvor hat es geregnet am Seat-Sitz in Martorell. Jetzt sind alle Autos auf dem Fabrikparkplatz mit einer Schmutzschicht überzogen. Feinstaub, den der Regen brachte. „Alle reden immer von CO2,“ klagt er. „Dabei sind andere Partikel in der Luft viel schlimmer.“ Aber die Politiker hätten sich nun mal auf Kohlendioxid kapriziert – und mit ihren Vorgaben dazu beigetragen, dass alle Autohersteller bei den Labortests schummelten. Alle, davon ist Carnero überzeugt – „jeder auf seine Weise“. Aber Seat, wo man nichts ahnend die deutschen, manipulierten Motoren eingebaut habe, treffe der Skandal am härtesten. „Ein Audi-Fahrer wird zu 90 Prozent wieder einen Audi kaufen, ein VW-Fahrer zu 85 Prozent wieder einen VW. Seat aber kann sich noch nicht auf Markenloyalität verlassen.“
Man könnte nun sagen: Schmutzige Abgase? Ein typisches Wohlstandsproblem satter westlicher Gesellschaften. In den Schwellenländern, in denen Menschen sich über ihr erstes Auto freuen – was stören da höhere Stickstoffwerte? Und vordergründig ist das auch so, findet Cai Chen. Seit sechs Jahren arbeitet er als Verkäufer in einem Autohaus im Zentrum von Shanghai. Er ist stolz auf die Marke, immer noch, trotz alledem. Cai ist Anfang 30, hochgewachsen, und zwischen den neuen Autos sieht er in seinem schlecht geschnittenen Anzug furchtbar tapsig aus. „Die deutschen Autos haben die beste Qualität und sind auch sicherer als die Japaner“, sagt er. Bei der Frage nach den Auswirkungen des Skandals in China muss Cai erst einmal nachfragen: „Der Skandal mit dem Diesel?“
China ist ein wichtiger Markt für Volkswagen. Rund 3,55 Millionen Autos verkaufte das Unternehmen dort im vergangenen Jahr. Und für das erste Quartal meldete der Konzern sogar einen Absatzrekord: 955 500 Autos. Es ist eine seltene Erfolgsgeschichte. Zahllose westliche Firmen sind hier gescheitert. VW hingegen ist in China fast durchgehend gewachsen. Und dass die Wolfsburger nicht einmal Dieselgate ausbremsen kann, hat nicht zuletzt mit der China-Story des Unternehmens zu tun: Die Deutschen bauten bereits in denn Achtzigerjahren in der Nähe von Shanghai eine Fabrik – zu einer Zeit, als sich noch kein anderer Hersteller ins Land traute. So brachte VW nicht nur irgendein Importgut ins Land – die Wolfsburger erfanden das Automobil quasi neu für die Chinesen.
Doch hinter der glänzenden Fassade knirscht es auch auf dem wichtigsten Volkswagen-Markt: Die Umstellung auf stärker nachgefragte SUVs dauert länger als bei der Konkurrenz. Günstigere Modelle, wie sie andere produzieren, fehlen im VW-Katalog. Konkurrent General Motors wuchs 2015 schneller als die Deutschen. Der Umsatz von Volkswagen ging derweil um 3,5 Prozent zurück.