Es gibt ihn, den viel zitierten denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Am Montag war wieder so einer für Volkswagen. Zwei Tage vor der Hauptversammlung gab die Staatsanwaltschaft Braunschweig bekannt: Sie ermittelt gegen den Ex-VW-Chef Martin Winterkorn und den aktuellen VW-Markenvorstand Herbert Diess wegen des Verdachts der Marktmanipulation.
Eine Anzeige der BaFin hat die Ermittlungen ausgelöst, sie sieht ihre Verdachtsmomente inzwischen erhärtet. Die aufflackernde Unsicherheit über die Verwicklung des Top-Managements in Dieselgate liefert Anlegern, Anwälten und Aktionärsschützern neue Argumente für ihre Klagen.
Erstmals nach Bekanntwerden des Abgas-Skandals müssen Volkswagen-Aufsichtsrat und -Vorstand den Anteilseignern Rede und Antwort stehen. Hinter vorgehaltener Hand heißt es im Konzern, die Führungsriege müsse sich einen Tag lang anschreien lassen.
Zwar hatte sich VW vergangene Woche bereits in seiner neuen Strategie zu Elektroautos und Digitalisierung bekannt – die Kritiker dürfte dies aber nicht zum Schweigen bringen. Im Konzern rechnet man damit, dass die Hauptversammlung am Mittwoch bis in die Nacht andauern könnte.
Wie VW im ersten Quartal abgeschnitten hat
Im Auftaktquartal 2016 hat Volkswagen 2,577 Millionen Fahrzeuge abgesetzt – zum ersten Quartal 2015 ein Rückgang von 1,2 Prozent (2,607 Millionen Fahrzeuge).
Zum Stichtag 31. März 2016 haben 613.075 Menschen für VW gearbeitet. Gegenüber dem Jahr 2015 sind das 0,5 Prozent mehr – damals waren es 610.076 Menschen.
In Deutschland sinkt jedoch die Zahl der VW-Mitarbeiter, zuletzt um 800 auf rund 277.900 Stellen. Der Zuwachs kommt aus dem Ausland, wo VW um fast 4.000 Stellen auf 335.200 Jobs zulegte.
Beim Umsatz musste VW im Vergleich zum Vorjahresquartal ein Minus von 3,4 Prozent hinnehmen. Die Umsatzerlöse sanken von 52,735 Milliarden Euro auf aktuell 50,964 Milliarden Euro.
Das operative Ergebnis (Ebit) stieg um 3,4 Prozent auf 3,44 Milliarden Euro – zum Jahresauftakt 2015 waren es noch 3,328 Milliarden Euro. Die operative Rendite stieg von 6,3 auf 6,8 Prozent.
Das Ergebnis nach Steuern ging deutlich zurück – von 2,932 Milliarden Euro im Q1 2015 auf aktuell 2,365 Milliarden Euro. Das entspricht einem Rückgang von 19,3 Prozent.
Die Marke Volkswagen Pkw verzeichnete in den ersten drei Monaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum einen Volumen- und Umsatzrückgang. Der Umsatz von VW-Pkw sank von 26,3 Milliarden Euro auf 25,1 Milliarden Euro, der Absatz fiel von knapp 1,12 Millionen auf 1,07 Millionen Fahrzeuge. Infolge dessen ging das Operative Ergebnis vor Sondereinflüssen auf 73 (514) Millionen Euro zurück, die operative Marge erreichte im ersten Quartal 0,3 Prozent.
Mit 1,3 Milliarden Euro erreichte Audi annähernd wieder das operative Ergebnis vor Sondereinflüssen des Vorjahres. Bei einem nahezu stabilen Umsatz sank die operative Marge leicht von 9,7 auf 9,0 Prozent.
Bei Skoda stieg das operative Ergebnis aufgrund positiver Mixeffekte und geringerer Materialkosten um gut 30 Prozent auf 315 (242) Millionen Euro. Die operative Marge legte bei deutlich gestiegenem Umsatz auf 9,3 (7,6) Prozent zu.
Seat verbesserte sein Operatives Ergebnis aufgrund von Kostenoptimierungen auf 54 (33) Millionen Euro. Dies entspricht einer Steigerung der Operativen Rendite auf 2,6 (1,5) Prozent.
Gemessen am operativen Ergebnis ist Bentley im ersten Quartal in die roten Zahlen gerutscht. Statt einem Gewinn von 49 Millionen Euro im Vorjahresquartal steht 2016 ein Minus von 54 Millionen Euro zu Buche. Volkswagen begründet das mit gesunkenen Auslieferungen.
Porsche blieb auch zum Auftakt des laufenden Geschäftsjahres in der Erfolgsspur. Das Operative Ergebnis stieg weiter auf 895 (765) Millionen Euro und damit deutlich überproportional zum Umsatz, der aufgrund eines signifikant höheren Absatzes spürbar zulegte. Die operative Marge kletterte auf 16,6 (15,1) Prozent.
Das operative Ergebnis von Volkswagen Nutzfahrzeuge sank volumenbedingt auf 142 (165) Millionen Euro, die operative Marge ging auf 5,2 (6,1) Prozent zurück. Scania verbuchte einen leichten Anstieg des operativen Ergebnisses auf 244 (237) Millionen Euro und eine stabile operative Marge von 9,6 Prozent. Trotz des anhaltend schwierigen wirtschaftlichen Umfelds in Südamerika verbesserte MAN Nutzfahrzeuge das operative Ergebnis vor Sondereinflüssen unter anderem aufgrund des höheren Absatzes in Europa auf 65 (minus 13) Millionen Euro. Bei MAN Power Engineering belief sich das operative Ergebnis auf 48 (52) Millionen Euro.
Die Volkswagen Finanzdienstleistungen konnten ihr operatives Ergebnis deutlich auf 492 (403) Millionen Euro steigern. Insbesondere Volumeneffekte wirkten sich positiv aus.
Das Unternehmen mit seinen weltweit rund 600.000 Mitarbeitern steckt seit dem Auffliegen der Diesel-Affäre im vergangenen Herbst in der größten Krise seiner etwa 80-jährigen Geschichte. Allein mit Blick auf die Gegenanträge droht ein Scherbengericht.
Die wichtigsten Fragen für die Anleger im Überblick:
Kommt eine Sonderprüfung?
Aktionäre wie die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), der britische Pensionsfonds-Vertreter Hermes oder der Hedgefonds TCI wollen VW wegen der angeblich zu späten Information an die Finanzwelt zu einer unabhängigen Sonderprüfung zwingen. Außerdem schmeckt es vielen Investoren gar nicht, Vorstand und Aufsichtsrat zu entlasten – so wie es die Tagesordnung vorsieht. Sie fordern das Gegenteil angesichts der Krise und des bisherigen Umgangs mit ihr.
Es ist aber höchst unwahrscheinlich, dass einer Sonderprüfung zugestimmt wird – denn die Mehrheitsverhältnisse bei VW sind eindeutig. Mehr als die Hälfte der Aktien werden von der Großfamilie Porsche/Piëch kontrolliert.
Wichtig ist also vor allem, wie sich die Familie positioniert. Wolfgang Porsche und Hans Michel Piëch haben sich zuletzt in einem Interview der „Bild“-Zeitung jedenfalls demonstrativ hinter die VW-Chefetage gestellt.
Wie teuer wird Dieselgate?
Eigentlich wollte der Konzern seinen Aktionären auf der Hauptversammlung eine Einigung mit den US-Behörden präsentieren. Doch der in den USA zuständige Richter Charles Breyer gab Volkswagen und den Klägern mehr Zeit für einen Kompromissvorschlag. Er verschob die Frist für Details zu einem Vergleich auf den 28. Juni – eine Woche nach der Hauptversammlung. Nun müssen die Verantwortlichen die Aktionäre am Mittwoch vertrösten.
Es geht in den USA um gigantische Summen. Bisher hat der VW-Konzern gut 16 Milliarden Euro als Vorsorge für Rückrufe und Rückkäufe, mögliche Zahlungen an betroffene Kunden und Rechtsrisiken zurückgestellt. Doch ob das reicht? Die Weichenstellungen bei Richter Breyer sind maßgeblich, denn der dickste Batzen droht VW in den USA.
In der bisher veranschlagten Summe sehen Analysten eher eine Untergrenze. „Wir gehen nach wie vor weltweit von Gesamtkosten infolge des Diesel-Skandals in Höhe von 20 bis 30 Milliarden Euro aus“, sagt etwa Frank Schwope von der NordLB. Diese Spanne dürfte eher über- als unterschritten werden. Und: Die gesamten Kosten des Skandals dürften „frühestens in zehn Jahren feststehen“.
VW-Chef Müller bezeichnete die Rückstellungen in einem Interview als „nach unseren derzeit seriös abschätzbaren Berechnungen ausreichend“.
Ist der Konzern bedroht?
Wie eine Umfrage der WirtschaftsWoche unter betroffenen VW-Fahrern in Deutschland zeigt, erwarten die Kunden eine angemessene Wiedergutmachung – etwa in Form einer Entschädigung, ähnlich der in den USA. Solchen Wünschen hat Müller jedoch bereits im Vorfeld der Hauptversammlung widersprochen. „Wir haben in den USA völlig andere rechtlich und technische Voraussetzungen und Gesetzgebungen“, sagte Müller im „Handelsblatt“. „Das lässt sich mit Deutschland nicht vergleichen.“
Auf die Frage, ob VW bei ähnlichen Maßstäben in den USA und Europa pleite wäre, musste er aber einräumen: „Es würde auf jeden Fall eng werden.“
Wird der Vorstand entlastet?
Wann wird die Schuldfrage geklärt?
Volkswagen hat dazu die US-Kanzlei Jones Day mit einer Untersuchung beauftragt. Doch deren bisherige Ergebnisse bleiben mindestens bis Jahresende unter Verschluss. Ein Zwischenstand sei „mit unvertretbaren Risiken für Volkswagen verbunden“, hatten die Wolfsburger Ende April erklärt und zur Begründung auf die laufenden Verhandlungen in den Vereinigten Staaten verwiesen.
Zuvor hatten sie versprochen, bis Ende April erste Ergebnisse zu liefern. Damit bleibt unklar, wer für die Fehler von historischem Ausmaß die Verantwortung trägt, was vielen Aktionären gar nicht schmeckt. Auch deshalb fordern sie eine Sonderprüfung.
Kehrt VW dem Diesel jetzt komplett den Rücken?
VW-Chef Müller hat die Zukunft des Dieselmotors in Frage gestellt. „Es wird sich die Frage stellen, ob wir ab einem gewissen Zeitpunkt noch viel Geld für die Weiterentwicklung des Diesels in die Hand nehmen sollen“, sagte Müller dem „Handelsblatt“. Das heißt aber auch: Kurz- und mittelfristig spielt der Diesel bei VW und den anderen Konzernmarken eine wichtige Rolle. Allein schon, um die aktuellen CO2-Ragularien einzuhalten.
Im Jahr 2025 plant Volkswagen 20 bis 25 Prozent seiner Autos mit einem Elektromotor zu verkaufen. Im Umkehrschluss werden 75 bis 80 Prozent einen Verbrennungsmotor haben – und das werden bei der aktuellen Gesetzgebung nicht alles Benziner sein. Klar ist auch: Die Abgasreinigung wird immer aufwändiger und teurer, deshalb wird sich der Diesel nicht mehr in allen Baureihen lohnen. Die geschätzt zwei bis drei Milliarden Euro, die VW pro Jahr in die Diesel-Entwicklung steckt, werden wohl sinken – aber nicht auf null.
Wird der Vorstand entlastet?
Nach dem Bekanntwerden von Ermittlungen gegen den früheren Volkswagen-Chef Winterkorn sowie den amtierenden VW-Markenchef Diess wird sich der Aufsichtsrat wohl erneut mit der Entlastung der Führungsspitze befassen. Das Kontrollgremium werde auf seiner Sitzung am Dienstag möglicherweise von seiner Empfehlung an die Aktionäre abrücken, dem Vorstand für das abgelaufene Geschäftsjahr das Vertrauen auszusprechen, sagte eine mit den Beratungen vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters.
Es sei noch unklar, ob die Empfehlung an die Hauptversammlung zur Entlastung des gesamten Vorstands zurückgezogen werde oder sich dies nur auf Winterkorn und Diess beschränken solle, sagte die Person. Ein weiterer Insider bestätigte, dass sich der Aufsichtsrat vermutlich erneut mit der Entlastungsempfehlung befassen werde. Eine dritte Person sagte, es liege auf der Hand, dass auch über eine Verschiebung des Beschlusses diskutiert werde.
Ändert der Aufsichtsrat seine Empfehlung nicht, muss die Frage trotz allen Unmuts der Kleinaktionäre wohl mit „Ja“ beantwortet werden. Wie bei der Frage nach der Sonderprüfung lässt sich die Antwort aus der Aktionärsverteilung ableiten: Die Familien Porsche/Piëch, die sich vergangene Woche demonstrativ hinter die Chefetage gestellt haben, werden der Entlastung wohl zustimmen. Zieht der Aufsichtsrat die Empfehlung zurück, dürfte die Abstimmung interessant werden.
Ist die Dividende sicher?
Wie steht es um den Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch?
Kritiker sehen in dem 65 Jahre alten früheren Finanzchef Pötsch eine echte Fehlbesetzung bei der Aufklärung der Hintergründe der Diesel-Affäre. Immerhin war er schon im Vorstand - und damit Teil des obersten Machtzirkels - als unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ein kleines Computerprogramm die Stickoxidwerte auf den Prüfständen illegal nach unten korrigierte.
Trotzdem hat der Aufsichtsrat vergangenes Jahr nach langen Debatten Pötsch als Nachfolger für den einstigen Patriarchen Ferdinand Piëch an die Spitze des Aufsichtsrates gewählt. Nicht wenige Kontrolleure hatten dabei Bauchgrummeln. Auch Aktionären stieß es auf, dass er ohne Abkühlphase direkt vom Vorstand in den Kontrollrat wechselte. Am Ende fehlten dem Aufsichtsrat die Alternativen im Konzern, eine externe Nachbesetzung sahen sie als eine noch schlechtere Lösung an.
Trotz aller Kritik dürfte Pötschs offizielle Wahl in den Vorstand nur eine Formalie sein. Im vorigen Oktober war er zunächst nur aus Zeitnot per Gericht ins Gremium bestellt worden. Sein Renommee als Kapitalmarkt- und Automobil-Kenner ist auch bei den meisten Kritikern unbestritten.
Ist die Dividende sicher?
Eine Ausschüttung ist recht wahrscheinlich, das große Fragezeichen bleibt die Höhe der Dividende. Angesichts der Milliarden-Rückstellungen und des höchsten Verlusts der Konzerngeschichte zahlt Volkswagen für das Geschäftsjahr 2015 nur eine Mini-Dividende von 0,11 Euro je Aktie. Die ist eher politisch gewünscht als wirtschaftlich angemessen. Die Höhe der künftigen Dividende wird sich vor allem an der Geschäftsentwicklung messen – womit wir bei der letzten Frage wären:
Wann greift Müllers Strategie 2025 für ein nachhaltigeres und effizienteres Volkswagen?
Die Strategie 2025, die Müller in der vergangenen Woche vorgestellt hat, umreißt bislang die Richtung, die der Vorstand einschlagen will. Konkrete Maßnahmen – etwa die Modellpolitik, das neue System für die Vergütung des Vorstands, eine Diesel-Rückkehr in die USA oder auch den exakten Ablauf der Zusammenführung der Komponentenwerke in eine Geschäftseinheit – werden erst im Laufe des Jahres erarbeitet und verabschiedet. Nach außen hin sichtbare Ergebnisse, zum Beispiel neue Baureihen, Mobilitätsapps oder weitere Kundenagebote, werden wohl frühestens 2017 verfügbar sein. Ähnlich sieht der Zeithorizont bei internen Einspareffekten, Etats und Effizienzsteigerungen aus.
Der Grundstein ist gelegt, aber bis sich die Maßnahmen im Geschäftsbericht niederschlagen, wird es noch dauern.