Wer den Schaden hat, braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen. Bei Volkswagen gilt das für einen internen Umweltpreis, den der Autobauer vor einigen Jahren an Entwickler des Dieselmotors EA 189 vergab - inzwischen bekannt als Skandal-Antrieb aus der Abgas-Affäre. VW lobte mit der damaligen Auszeichnung die „intelligente Motorsteuerung“ und die „innermotorischen Maßnahmen“.
Heute weiß die ganze Welt: Mit genau dieser Maschine wurde am Ende millionenfach betrogen. Die Mitteilung zum Preis ist inzwischen von den VW-Internetseiten gelöscht - zu peinlich wirkte sie rückblickend. Wenige Wochen „Dieselgate“ im Herbst 2015 reichten, um aus einem erfolgsverwöhnten Autobauer ein weitgehend verunsichertes Unternehmen zu machen. Die Abgaskrise kratzt heftig an der Industrie-Ikone VW.
Ein Jahr nach dem Bekanntwerden des Skandals ist aber auch klar: Der Wolfsburger Autoriese muss und will das alles zugleich als Chance zum Neubeginn nutzen - und das Erbe des Diesel-Debakels in eine Zeit der Ökoantriebe, Dienstleistungen und schlankeren Strukturen überführen.
So könnte VW die "Dieselgate"-Kosten schultern
Der Abgas-Skandal kratzt nicht nur am Image des Volkswagen-Konzerns - er dürfte vor allem sehr teuer werden. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Kosten des Skandals und wie VW sie stemmen könnte.
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Darüber rätseln Beobachter derzeit. Bislang bekannt ist: Volkswagen hat 6,5 Milliarden Euro für Kosten aus dem Abgas-Skandal zurückgelegt. Das Geld ist aber wohl in erster Linie für eine technische Umrüstung der Autos mit Manipulations-Software bestimmt, wie Finanzchef Hans Dieter Pötsch laut dem Fachblatt „Automobilwoche“ kürzlich vor VW-Managern erklärte. Unklar ist, welche Strafzahlungen auf VW zukommen. Dazu dürften noch mindestens drei andere mögliche Kostenblöcke kommen: Strafzahlungen, Schadenersatzforderungen, Anwaltskosten. Wie hoch diese Ausgaben sein werden, lässt sich derzeit nur grob schätzen. Die Landesbank Baden-Württemberg rechnet derzeit mit einem Schaden von 47 Milliarden Euro für den Konzern. Ein möglicher Imageverlust und damit verbunden ein Rückgang der Autoverkäufe ist dabei noch nicht eingerechnet. Allerdings werden die Kosten wohl nicht auf einmal anfallen, sondern sich über Jahre verteilen.
Vergleichsweise viel. VW hat sich in den vergangenen Jahren ein stattliches Kapitalpolster zugelegt. Zur Jahresmitte hatte der Konzern rund 18 Milliarden Euro Bargeld auf dem Konto. Das ist mehr als ganze Dax-Konzerne wie Adidas oder Lufthansa einzeln an der Börse wert sind. „Über den Daumen gepeilt kann VW davon die Hälfte verwenden, um mögliche Kosten zu begleichen“, sagt Nord-LB-Analyst Frank Schwope. Dazu kommen bei VW noch schnell veräußerbare Wertpapiere über 15 Milliarden Euro und Schätzungen zufolge mindestens 5 Milliarden Euro aus dem Verkauf der Beteiligungen am ehemaligen Partner Suzuki und an einer niederländischen Leasingfirma.
Das ist sehr unwahrscheinlich. VW könnte sich über Anleihen und Kredite Geld leihen, auch wenn einige Ratingagenturen ihre Bewertungen der Kreditwürdigkeit des Konzerns zuletzt angepasst hatten. Wenn es irgendwann hart auf hart käme, könnte Volkswagen immer noch sein Tafelsilber verkaufen. Am einfachsten ließen sich wohl die Luxusmarken Bentley, Bugatti und Lamborghini aus dem Konzern herausnehmen. Nord-LB-Analyst Schwope schätzt den möglichen Verkaufserlös für die drei Marken und den Motorradhersteller Ducati auf 5 bis 10 Milliarden Euro. Durch einen Verkauf der Lastwagenbauer MAN und Scania ließen sich nach seinen Berechnungen sogar 30 bis 35 Milliarden Euro erzielen. Das wertvollste Juwel in der Sammlung, den Sportwagenbauer Porsche, dürften die VW-Anteilseigner kaum abgeben wollen.
Nur begrenzt. Eine Kapitalerhöhung - also die Ausgabe neuer Aktien - ist bei VW nicht so leicht wie in anderen Konzernen. Damit die Familien Porsche und Piëch sowie das Land Niedersachsen als Anteilseigner ihre Macht im Konzern nicht verlieren, darf sich deren jeweiliger Anteil an den Stammaktien nicht stark verringern. Vor allem Niedersachsen dürfte aber derzeit kaum ein Interesse daran haben, weitere Stammaktien zu kaufen und Geld in den VW-Konzern zu stecken. VW könnte deshalb wohl höchstens neue Vorzugsaktien ausgeben, das sind Aktien ohne Stimmrecht auf der Hauptversammlung des Konzerns. Laut Aktiengesetz darf die Zahl dieser Vorzugsaktien die Zahl der Stammaktien allerdings nicht übersteigen. VW könnte deshalb höchstens rund 114 Millionen neue Aktien ausgeben und damit auf Basis derzeitiger Kurse rund 11 Milliarden Euro einsammeln.
In der Regel setzen Sparmaßnahmen bei großen Konzernen zuerst bei den Mitarbeitern an: Weniger Gehalt, Einstellungsstopps, bis hin zu Stellenstreichungen und Entlassungen. Bei Volkswagen wäre das allerdings nicht so einfach. Die Arbeitnehmervertreter haben in Wolfsburg deutlich mehr Macht als in anderen Konzernen. Einfacher wäre die Kürzung geplanter Investitionen. Hier hatte Volkswagen angepeilt, bis 2019 eine Summe von mehr als 100 Milliarden Euro in Standorte, Modelle und Technologien zu stecken. Laut Experte Schwope könnte VW hier den Rotstift ansetzen und so 2 Milliarden Euro jährlich sparen, vor allem bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Nur: Dann besteht die Gefahr, von der Konkurrenz abgehängt zu werden. Der Zeitpunkt wäre denkbar ungünstig - die Autoindustrie steht durch Digitalisierung und Elektroantriebe vor einem Umbruch.
Am 19. September 2015 sieht es noch so aus, als könne Volkswagen kein Wässerchen trüben. Tags zuvor hatten Umweltbehörden in den fernen USA zwar mitgeteilt, dass es bei Abgasmessungen von VW-Modellen nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Pressestelle aber tritt an jenem Samstag erst mal neuerlichen Gerüchten entgegen, der Konzern treibe einen Einstieg in die Formel 1 voran. Das seien bloß „Spekulationen“.
Nur einen Tag später - am 20. September - endet die Rekordfahrt im größten Crash der rund 80-jährigen Konzerngeschichte. Die Wolfsburger müssen öffentlich „Manipulationen“ an ihren Dieselmotoren einräumen. Dann geht es Schlag auf Schlag. Milliarden werden zurückgestellt, am 23. September fegt der Skandal Vorstandschef Martin Winterkorn aus dem Amt. Der Ausnahmezustand wirkt bis heute, zum Jahrestag, nach.
Die bisherige Bilanz ist katastrophal. Der einst so stolze Autobauer ist in den Grundfesten erschüttert, wichtige Zulieferer bangen, der Diesel scheint zumindest außerhalb Europas keine Zukunft zu haben. Rückrufe von Millionen Wagen bei VW, Audi, Skoda und Seat mit älteren Antrieben laufen nur schleppend an. Mit minus 1,6 Milliarden Euro steht 2015 für den größten Verlust in der VW-Geschichte. Zweistellige Milliardensummen dürfte die Krise am Ende kosten, Genaues ist unklar. Dieses Geld fehlt an Schlüsselstellen, etwa für Elektro-Mobilität und Digitalisierung, wo neue Rivalen wie Google oder Apple lauern. Und der Konzern? Sucht nach sich selbst. Die US-Kläger kreiden ihm „eines der unverschämtesten Unternehmensverbrechen der Geschichte“ an. „Na klar sind die Leute traurig, die haben echt die Nase voll“, fasst Betriebsratschef Bernd Osterloh die Gemütslage der Belegschaft zusammen. Seit einem Jahr nur negative Schlagzeilen - das zermürbe.
Die Schuldfrage ist derweil auch zum ersten Jahrestag noch ungeklärt. Winterkorn sprach vor seinem Rücktritt von „Fehlern einiger Weniger“. Doch unabhängig davon, ob es nun ein Dutzend, Dutzende oder noch mehr Täter und Mitwisser gab: Der gesamte Konzern steht am Pranger. Allen voran die Pkw-Kernmarke, die den Skandal-Motor EA 189 entwickelte. Und Autos mit dem VW-Emblem können die Krise am wenigsten gebrauchen. Sie waren schon vor „Dieselgate“ gewinnschwach, mussten Sparprogramme fahren. Inzwischen ist ein Streichplan für Tausende Jobs bekannt.
Es gibt Hoffnungsschimmer
Offiziell spricht VW von „Abgasthematik“. Doch das nüchterne Wort greift zu kurz. Anders als bei manchem deutschen Korruptionsskandal ist die Lage anders. Nach bisherigem Stand reichte die kriminelle Energie „einiger Weniger“ aus, um mit Software einen Weltkonzern aus den Angeln zu heben. Der illegale Software-Code entzog sich gängigen Kontrollmechanismen, die etwa an Budgets oder dem Einkauf ansetzen.
Zwölf Monate nach dem Beben zeigen sich aber auch Hoffnungsschimmer. „Ohne „Dieselgate“ wäre der Konzern mit seinen alten Herren und autokratischen Prinzipien in der neuen Mobilitätswelt zugrunde gegangen. Es ist gut, dass er eine Zeitenwende einleitet“, lobt Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer. In puncto Digitalisierung gebe es Pläne, und das Ziel von einem Viertel Elektroauto-Anteil 2025 sei glaubhaft. Vom Superlativ der Täuschung zum Superlativ des Aufbruchs: Müller sieht den „größten Veränderungsprozess“ in der VW-Geschichte.
Aber reichen neue Ziele, Produkte, Geschäftswege? Muss sich angesichts der Dimension der Affäre nicht Grundsätzlicheres ändern? Arbeitnehmerboss Osterloh findet dazu im Frühjahr bei einer Rede im niedersächsischen Landtag nachdenkliche Worte. Es gehe darum, die „moralischen Fundamente unseres Unternehmens“ neu zu befestigen.
„Es gibt kein Genug mehr. Und es reicht nicht mehr, im Wettbewerb um die „besten“ Produkte auf den Absatzmärkten zu reüssieren“, so Ulrich Thielemann, Chef der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Er hält das Bonus-System bei VW für die eigentliche Wurzel des Skandals.
Denn nicht nur Vorstände, auch Spezialisten können Boni als großen Teil des Einkommens kassieren. „Damit werden den unternehmensinternen Entscheidungsträgern die Bedenken, die sie gegenüber dieser oder jener Praxis hegen könnten, gleichsam abgekauft“, warnt Thielemann.
VW und die Gewerbesteuer: Welche Bedeutung hat sie für die Kommunen?
Sehr hoch. Rund 42 Prozent des Steueraufkommens für die Gemeinden entfiel mit netto 38,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf die Gewerbesteuer, nach Abzug der Gewerbesteuerumlage. Das sind 471 Euro pro Einwohner. Im wirtschaftsstarken Flächenland Hessen sind es 624 Euro pro Einwohner, in Mecklenburg-Vorpommern dagegen 250 Euro. Der durchschnittliche Hebesteuersatz in Deutschland stieg von 387 Prozent 2003 auf 399 Prozent im vergangenen Jahr.
Das zweitgrößte Standbein der Gemeindefinanzen neben der Gewerbesteuer ist der Anteil an der Lohn- und Einkommensteuer. Auch der Anteil an der Umsatzsteuer spült den Haushalten Geld in die Kasse. Daneben gibt es noch weitere kommunale Steuern wie Grundsteuern auf Immobilienbesitz und zum Beispiel Vergnügungs- und Hundesteuern.
Die Gewerbesteuer muss von Gewerbebetrieben gezahlt werden und ist eine kommunale Steuer. Zu Gewerbebetrieben gehören Kapitalgesellschaften und auch Personengesellschaften. Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer ist im Wesentlichen der Gewerbeertrag, also der Gewinn. Dieser wird – mit einigen Sonderposten verrechnet – mit der sogenannten Gewerbesteuermesszahl von 3,5 Prozent multipliziert, um zum Steuermessbetrag zu kommen. Auf diesen können die Gemeinden individuelle Hebesätze anwenden. In Berlin beträgt dieser 410 Prozent, in Duisburg 510. Vergleichsweise günstig ist das Wirtschaften in mehreren Gemeinden in Ostdeutschland mit Hebesätzen von 200 Prozent, aber auch in Walldorf in Baden-Württemberg mit 265 Prozent. Dort sitzt der Dax-Konzern SAP.
Beispiel: Erzielt ein Gewerbebetrieb einen Gewinn von 100.000 Euro, ergibt sich ein Steuermessbetrag von 3500 Euro. In Duisburg führt das mit dem Hebesatz multipliziert zu einer Gewerbesteuerlast von 17.850 Euro, in Walldorf dagegen nur zu 9275 Euro Überweisung ans Finanzamt. Mit den Gewerbesteuerhebesätzen sollen Gemeinden die Möglichkeit bekommen, ihren Standort für Unternehmen attraktiv zu machen – oder eben die Wirtschaft mit höheren Steuern zu belegen.
Aufgrund des Steuergeheimnisses machen die Kommunen keine genauen Auskünfte. Das Prozedere ist aber so: Laut Gewerbesteuergesetz muss der Volkswagen-Konzern seine für die Gewerbesteuer relevanten Erträge nach den Arbeitslöhnen aufteilen, die auf den Standort entfallen. Dabei sind die Arbeitslöhne bei 50.000 Euro je Mitarbeiter gedeckelt, damit nicht Orte bevorzugt werden, an denen vor allem ranghohe Manager ihr Geld verdienen.
Durchaus. Seit Jahren zum Beispiel gibt es vor allem von Arbeitgeberseite immer wieder mal Vorschläge, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch einen kommunalen Zuschlag auf Einkommens- und Körperschaftssteuer zu ersetzen. Das soll den Kommunen stabilere Einkünfte ermöglichen – die Gewerbesteuer ist konjunkturanfällig. Der Deutsche Städtetag etwa ist dagegen: Das belaste statt der Wirtschaft die Bürger. Die Kommunen hätten insbesondere mit den Hebesätzen ein wirksames Werkzeug, ihre eigenen Haushalte zu steuern.
Im Bundestag arbeitet nun ein Untersuchungsausschuss zur Affäre. Auf EU-Ebene gibt es ein solches Gremium schon länger. In Braunschweig ermitteln Staatsanwälte gegen 30 Beschuldigte, am Landgericht liegen dort milliardenschwere Schadenersatzklagen. Ein Vergleich könnte VW in den USA bis zu 14,7 Milliarden Dollar (13 Milliarden Euro) kosten. Ein Ex-Ingenieur will auspacken, mehrere US-Bundesstaaten klagen noch.
Längst trifft die Krise zudem den Normalbürger an den VW-Standorten, wo die Gewerbesteuern einbrechen. Vieles wird teurer - Kindergärten, Schwimmbäder, Kultureinrichtungen, die Grabpflege. Und nicht nur in den USA nehmen etliche Menschen Volkswagen das Image des „sauberen Diesels“ nicht mehr ab. Das dürfte wohl auf Jahre eine Bürde sein.