Aus der 39-seitigen Strafanzeige und der „Darstellung der Fakten“ des US-Justizministeriums, des FBI und der VW-internen Ermittler der Kanzlei Jones Day lassen sich die Geschehnisse zum Teil genau rekonstruieren:
Seit Juli 2012 war demnach der damalige Leiter der VW-Motorenentwicklung und späterer Entwicklungsvorstand der Marke VW, Heinz-Jakob Neußer über Zweck und Bedeutung der Software informiert. Zudem sollen Neußer und Bernd Gottweis, ein leitender Mitarbeiter des Qualitätsmanagements, „das weitere Verschweigen der Software“ gefördert haben, so die US-Ermittler.
„Die Studie ist nur EEO bekannt und so soll es auch bleiben“
Schmidt wurde im Frühjahr 2014 über eine Studie des International Council on Clean Transportation (ICCT) informiert – jene Studie, die später den Anfang vom Ende des Dieselskandals markieren sollte. Damals war Schmidt Leiter des US-Büros für Umweltfragen von Volkswagen. Am 15. April soll er laut den US-Ermittlern eine Kopie der ICCT-Studie an Gottweis weitergeleitet haben. Darin schreibt er unter anderem „Wir werden vorsichtig sein müssen, wie das weitergeht“. Die Mail schließt mit den Worten: „Innerhalb von VW GOA [VW Group of America, Anm. d. Red.] ist die Studie nur EEO bekannt [jenem Büro für Umweltfragen, das Schmidt zu jener Zeit leitete], und so soll es vorerst auch bleiben“.
Was die EU im Abgas-Skandal bemängelt
Das bleibt abzuwarten - noch hat die EU-Kommission ja nicht offiziell bekanntgegeben, ob sie wirklich gegen Deutschland vorgeht. Grundsätzlich sind zwei Vorwürfe denkbar: Die Brüsseler Behörde könnte Staaten vorwerfen, dass ihre Aufsichtsbehörden den Autobauern nicht genau genug auf die Finger geschaut haben. Und sie könnte bemängeln, dass die Behörden Rechtsverstöße der Konzerne nicht konsequent genug geahndet haben.
Bisher teilt das Bundesverkehrsministerium nur mit, es läge von der EU-Kommission nichts vor. Generell verweist Minister Alexander Dobrindt (CSU) in der Regel auf Brüssel und fordert schärfere EU-Regeln für die Abgasreinigung von Dieselautos, insbesondere für die Abschalteinrichtungen. Zulässig sollen sie nur noch sein, wenn es trotz „bester verfügbarer“ Motortechnologie keinen anderen Schutz für den Motor gibt.
Seit 2007 sind Abschalteinrichtungen in Europa grundsätzlich verboten. In Ausnahmefällen darf die Software aber eingesetzt werden, etwa wenn sie „nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist“ oder sie nötig ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen. VW hat solche Software bei Millionen Autos eingesetzt, um Abgaswerte zu schönen, hält sie aber für vereinbar mit europäischem Recht.
Die EU-Kommission ist die Hüterin des europäischen Rechts. Vermutet sie einen Verstoß, leitet sie ein mehrstufiges Verfahren ein. Zuerst sendet sie einen Brief in die jeweilige Hauptstadt und gibt der Regierung Gelegenheit zur Stellungnahme. Wenn sich die Kommission und das Land nicht einigen, schreibt Brüssel einen zweiten Brief und stellt ein Ultimatum, um den vermuteten Missstand zu beheben. Als letztes Mittel sind auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof möglich. Dieser kann Zwangsgelder verhängen, falls er die Vorwürfe der EU-Kommission als berechtigt einstuft.
Verfahren wegen Verletzung europäischen Rechts richten sich immer gegen Staaten, nie gegen Unternehmen oder Privatpersonen. Denn nationale Regierungen müssen europäisches Recht einhalten. In der Autobranche etwa sind Behörden in den Mitgliedsstaaten für die Aufsicht zuständig und für die Zulassung von Fahrzeugtypen.
Wenn ein Auto nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmt - etwa, weil die Hersteller es manipuliert haben, um Abgaswerte zu schönen - dann müssen die Behörden handeln und gegebenenfalls die Genehmigung zurückziehen. Zudem sieht das EU-Recht Sanktionen vor, die „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein müssen. Was das heißt, müssen die EU-Staaten festlegen.
Im September 2015 setzte Dobrindt die „Untersuchungskommission Volkswagen“ ein, im April präsentierte er ihren Bericht. Demnach bestanden bei 22 getesteten Modellen unterschiedlicher Hersteller Zweifel, ob das Herunterregeln der Abgasreinigung mit dem Schutz der Motoren zu tun hat. Es wurde ein Rückruf von insgesamt 630 000 Fahrzeugen von Audi, Mercedes, Opel, Porsche und VW beschlossen, um die Technik zur Abgasreinigung zu ändern. Außerdem muss bei 2,5 Millionen Autos von VW nachgebessert werden. Zudem hat das Kraftfahrtbundesamt aufgerüstet und Technik für Tests im normalen Straßenbetrieb angeschafft.
Umweltschützer und die Opposition werfen ihm große Nähe zur Industrie vor, er verschleppe daher die Aufklärung und tue wenig für Kontrollen und Sanktionen. Ein Vertragsverletzungsverfahren hätte vor Jahren eingeleitet werden müssen, sagt Linke-Verkehrsexperte Herbert Behrens, der dem deutschen Abgas-Untersuchungsausschuss vorsitzt. Auch die EU-Kommission habe lange geschwiegen und handele „scheinheilig“. Der Grünen-Obmann im Untersuchungsausschuss, Oliver Krischer, nennt Sanktionen der EU eine „logische Konsequenz“. Dobrindt bleibe der Öffentlichkeit die Antwort schuldig, mit welchen konkreten Maßnahmen er den Abgasskandal lückenlos aufklären will.
Ab März 2015 war Schmidt in Wolfsburg als Hauptvertreter von Neußer in der Wolfsburger Motorenentwicklung tätig. Als die US-Behörden das Unternehmen mit immer konkreteren Fragen zum Abgasverhalten der Autos konfrontierten, bildete diese VW-Motorenentwicklung laut den US-Ermittlern eine „ad hoc task force“, die Antworten auf die Fragen aus den USA formulieren sollten. Anstatt den Betrug zuzugeben, sollen die Mitglieder der Task Force – unter anderem Neußer, Gottweis und Schmidt – eine Strategie entwickelt haben, wie die Software verschwiegen werden kann.
Schmidts Aussagen können für die VW-Kunden, insbesondere die deutschen, also von großer Bedeutung sein. „Wir sind sehr zuversichtlich, dass das klappt“, sagt Andresen.
Liegen Schmidts Aussagen erst einmal vor, ist die Erfolgsaussicht für Kläger in Deutschland ungleich höher. Bis Ende 2018 müssen Geschädigte Klage gegen Volkswagen einreichen. Dann verjährt der Schadenersatzanspruch der Kunden gegen den Konzern. „Wir werden unsere große Sammelklage daher bis 2018 einreichen", sagt Bode.