
Es klingelt zwei Mal, dann nimmt er das Gespräch an. Avi Primor, ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland, ist in seinem Haus in Israel, als ihn diese Woche ein Anruf aus Deutschland erreicht. Freundlich ist er und verbindlich, sein Deutsch praktisch akzentfrei – der 81-Jährige wirkt so, wie ihn die Deutschen in der Ära Helmut Kohl kennerlernten. Bereitwillig gibt er Auskunft über seinen Einsatz für deutsch-israelische Wirtschaftskooperationen. Erst als das Gespräch auf Volkswagen kommt, wird er schmallippig: „Zu allem, was mit dem VW-Skandal zu tun hat, sage ich nichts. Gar nichts.“
Avi Primor kennt sich aus mit delikaten Situationen. Er verhandelte in Nahost-kriegen, stand in Diensten von Israels Geheimdienst Mossad, bot Hardlinern der israelischen Politik die Stirn. Nun, 17 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst, befindet er sich erneut in einer brenzligen Situation: Er rückt in den Mittelpunkt des VW-Abgasskandals.
Der Ex-Diplomat soll laut Medienberichten ein halbes Jahr vor Bekanntwerden vom Dieselbetrug des Konzerns in den USA gewusst und den damaligen VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch gewarnt haben. Und das, wie Recherchen der WirtschaftsWoche ergaben, zusammen mit Yuval Diskin, einem Ex-Chef von Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet.
Wie kam Primor an die vertraulichen Informationen? Hatte etwa der Geheimdienstmann Diskin die Finger im Spiel?
Diese Fragen machen den einstigen Stardiplomaten zum Insider des größten Firmenskandals der deutschen Geschichte und könnten für den ehemaligen Aufsichtsratschef Piëch, weitere Aufsichtsräte und den ehemaligen VW-Vorstandschef Martin Winterkorn noch unangenehme Folgen haben, sollte sich die Primor-Geschichte bewahrheiten. Sie werfen vor allem auch ein Schlaglicht auf eine bislang weitgehend unbekannte Seite des Botschafters: Primor, der Strippenzieher israelischer Unternehmen in Deutschland.
Stardiplomat auf allen Kanälen
Sollte Primor sein Wissen mit Piëch geteilt haben, wäre das kein Zufall. Die beiden schätzen sich seit mehr als drei Jahrzehnten. Primor war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in der Bundesrepublik. Während seiner Zeit in Bonn wurde aus dem historisch so belasteten Verhältnis der beiden Staaten eine politische Freundschaft. Das lag auch an Botschafter Primor, einem umtriebigen, humorvollen und wortgewaltigen Mann. Er war öffentlich präsenter als jeder andere ausländische Diplomat in Deutschland. Er warb für sein Land und für Versöhnung zwischen Juden und Deutschen wie zwischen Israelis und Palästinensern.
Der Fall Volkswagen vor Gericht
Bundesweit klagen Autobesitzer vor mehreren Gerichten wegen überhöhter Stickoxidwerte auf Rückabwicklung des Kaufs oder Schadensersatz. Allein vor dem Landgericht Braunschweig sind mehr als 200 solcher Klagen anhängig. Die auf Verbraucherschutzverfahren spezialisierte Onlineplattform MyRight, die mit der US-Kanzlei Hausfeld zusammenarbeitet, reichte zu Jahresbeginn die erste Musterklage ein, mit der die Klagen vieler Betroffener gesammelt werden sollen. Diese Klagen, die derzeit viele Langerichte in ganz Deutschland beschäftigen, sind unabhängig von den Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des Betrugs gegen mehrere VW-Verantwortliche.
„Die durch den gesamten Abgasskandal entstandene Wertminderung kann noch am ehesten angesetzt werden, um Schadenersatz beim Hersteller durchzusetzen“, sagt Rechtsexperte Klaus Heimgärtner vom ADAC. Voraussetzung sei aber, dass die Merkmale der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung oder der Verletzung eines Gesetzes zum Schutz eines Dritten erfüllt seien. Das Problem: „Bislang gibt es keine zuverlässigen Zahlen über Wertminderungen von gebrauchten VWs mit unzulässiger Abschalteinrichtung“, so Heimgärtner.
In Deutschland gibt es keine Sammelklagen wie in den USA. Im Prinzip bleibt nur die Einzelklage gegen den Händler oder den Hersteller. "In den USA müssen Geschädigte nicht aktiv werden und klagen, das übernehmen Einzelpersonen, die als Sammelkläger auftreten", erklärt Jan-Eike Andresen, Leiter der Rechtsabteilung und Co-Gründer von MyRight. "Da kommt irgendwann der Scheck von VW über 10.000 Dollar für jeden Geschädigten. In Deutschland müssen Kunden mindestens einen Anwalt beauftragen oder ihre Ansprüche an myRight abtreten, damit etwas passiert. Diese Hemmschwelle zum Tätigwerden nutzt VW natürlich zu seinen Gunsten aus."
Das liegt am deutschen Recht. „In den USA haben Schadenersatzzahlungen neben der Schadenbeseitigung auch Strafcharakter, das treibt die Schadenshöhe“, erklärt Horst Grätz von der Regensburger Kanzlei Rödl & Partner. In Deutschland hingegen wird nur der tatsächlich entstandene Schaden beglichen. Den muss der Kunde allerdings nachweisen.
Ja, aber auch schon zu deren Ungunsten. Insgesamt gibt es 120 verschiedene Urteile. „Solange das nicht höchstrichterlich, am besten vom Bundesgerichtshof geklärt ist, ist jeder Richter frei, über den Rücktritt vom Kauf zu urteilen“, erklärt Jura-Professor Florian Bien von der Universität Würzburg.
Eine finanzielle Entschädigung der Kunden in Europa lehnt VW ab, obwohl sich Forderungen nach einem ähnlichen Vergleich wie in den USA mehren. Sollten diese dennoch fällig werden, könnte das Volkswagen wegen der viel größeren Zahl betroffener Kunden im Vergleich zu den USA finanziell ruinieren, fürchten Experten. Der Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler geht von einem Wertverlust in einer Größenordnung von 500 Euro je Fahrzeug aus.
Noch bevor Primor das Gesicht Israels in Deutschland wurde, suchte Piëch seine Nähe – ausgerechnet Piëch, der Enkel von Adolf Hitlers liebstem Autobauer Ferdinand Porsche. Der damalige VW-Vorstandschef lud Primor zum Mittagessen ein. „Piëch ging es überhaupt nicht ums Geschäft“, erinnert sich Primor, „er hatte ein ausgeprägtes und tiefes Interesse an historischen Fragen, was wohl auch an der Verstrickung seiner Familie in das NS-Regime liegt.“
Das Treffen fiel in eine Zeit, in der erste wirtschaftliche Bande zwischen Deutschland und Israel geknüpft wurden. Da kam Primor sein Draht in die VW-Chefetage gerade recht. 1996 gelang es dem Botschafter, ein Gemeinschaftsunternehmen von VW und einem israelischen Rohstoffkonzern anzubahnen. Zur Einweihung einer Fabrik des Joint Ventures Dead Sea Magnesium kamen Kanzler Helmut Kohl, Israels Regierungschef Jitzhak Rabin und natürlich Piëch und Primor. Das Engagement von VW dort hielt nur 13 Jahre. Die Freundschaft aber zwischen Primor und der deutschen Wirtschaft währte fort.
Nach dem Ende seiner Amtszeit als Diplomat startete Primor ein permanentes Austauschprogramm von israelischen, jordanischen und palästinensischen Studenten. Auch mit im Boot: die Uni Düsseldorf, die VW Autouni, eine Weiterbildungseinrichtung des Konzerns, und natürlich Piëch als Spender. Zur Förderung des Austauschprogramms brachte Primor immer wieder ein höchst illustres Publikum zu Spendengalas zusammen, so auch 2012 im Düsseldorfer Industrie-Klub. Prominentester Gast war die damals noch amtierende Königin Beatrix der Niederlande, deren verstorbener Mann ein enger Freund Primors gewesen war. Am Tisch der Königin durfte Ferdinand Piëch mit Gattin Ursula nicht fehlen.