
Martin Winterkorn war berühmt-berüchtigt dafür, alle Dinge möglichst selbst zu regeln und zu entscheiden. Die Überprüfung des Neigungsgrads einer Windschutzscheibe, die Stärke des Lackauftrags oder der Mechanismus für die Verstellung der Lenksäule – der Konzernchef entschied, was richtig und gut, falsch oder verbesserungswürdig war. Für neue Autos gab es keine Freigabe, ehe sie der Vorstandsvorsitzende nicht höchstselbst auf der Straße getestet und für gut befunden hatte.
Mit diesem Kontrollwahn führte der Qualitätsfanatiker den Volkswagen-Konzern mit seinen zwölf Marken erst an die Spitze der Autoindustrie – und dann in den Abgrund des Dieselgates. Winterkorns Nachfolger Matthias Müller ist beileibe kein Sunnyboy, als der er an der Seite seiner aktuellen Lebensgefährtin, des früheren Tennisstars Barbara Rittner, manchen erscheint. Auch Müller kann laut und böse werden, wenn die Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorstellt. Auch er ist kein lupenreiner Demokrat – das letzte Wort behält er sich immer noch selbst vor.
Müller will VW nicht im alten Trott weiterlaufen lassen
Aber er ist nicht gewillt, sich um alle „Kinkerlitzchen“ selbst zu kümmern. Um die Lackstärke sollen sich die Produktioner kümmern, um die Lenksäulenverstellung Designer oder Einkäufer – Leute, die sich in der Materie wesentlich besser auskennen. Das gibt ihm den Freiraum und die Zeit, sich um die wichtigen Dinge im Konzern zu kümmern. Er konzentriert sich darauf, den Elefanten zum Tanzen zu bringen – das Füttern und Pflegen überlässt er den Spezialisten in seinem Team.
Lou Gerstner brachte auf ähnliche Weise in den 1990er Jahren den Software-Giganten IBM wieder auf Vordermann – indem er die Zügel in die Hand nahm und den Blick nach vorne richtete, aber die Pferde ansonsten laufen ließ.
Der VW-Abgas-Skandal im Überblick
Die US-Umweltbehörde EPA teilt in Washington mit, Volkswagen habe eine spezielle Software eingesetzt, um die Messung des Schadstoffausstoßes bei Abgastests zu manipulieren. In den Tagen darauf wird klar, dass weltweit Fahrzeuge von VW und der Töchter betroffen sind – darunter auch Audi und Porsche. Die VW-Aktie bricht ein.
VW-Chef Martin Winterkorn tritt nach einer Krisensitzung der obersten Aufseher zurück. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig prüft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen VW. Anlass dafür seien auch eingegangene Strafanzeigen von Bürgern, heißt es.
Der VW-Aufsichtsrat tagt. Nach langer Sitzung beruft das Gremium Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Konzernchef und trifft einige weitere Personal- und Strukturentscheidungen. Verantwortliche Motorenentwickler werden beurlaubt.
Nach mehreren Strafanzeigen startet die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsvorwürfen. Entgegen einer ersten Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Braunschweig gibt es keine Ermittlungen gegen Ex-Chef Martin Winterkorn persönlich.
Das Aufsichtsrats-Präsidium beschließt, Hans Dieter Pötsch per registergerichtlichen Anordnung in den Aufsichtsrat zu berufen. Das ist möglich, weil mehr als 25 Prozent der Aktionäre Pötsch favorisiert haben. Die Familien Porsche und Piëch, die Pötsch gegen die Bedenken des Landes Niedersachsens und der Arbeitnehmer durchgesetzt haben, halten über die Porsche SE rund 52 Prozent der VW-Anteile. Julia Kuhn-Piëch, die erst dieses Jahr nach dem Rücktritt von Ferdinand und Ursula Piëch in das Kontrollgremium aufgerückt war, verlässt den Aufsichtsrat wieder.
Es ist klar, dass die betroffenen VW-Fahrzeuge in die Werkstatt müssen, damit die Schummel-Software verschwindet. Bei einigen Motorenwerden die Techniker selbst Hand anlegen müssen. Eine Rückruf-Aktion, so wird es am nächsten Tag bekannt werden, soll 2016 starten. Die geschäftlichen und finanziellen Folgender Krise sind nicht absehbar. Die Kosten der Abgas-Affäre werden jedoch enorm sein. Der neue Chef muss sparen: "Deshalbstellen wir jetzt alle geplantenInvestitionen nochmal auf denPrüfstand", kündigt Müller an.
Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ordnet einen verpflichtenden Rückruf aller VW-Dieselautos mit der Betrugssoftware an. In ganz Europa müssen 8,5 Millionen, in Deutschland 2,4 Millionen Wagen in die Werkstatt. VW hatte eine freiwillige Lösung angestrebt.
Der Skandal beschert dem Konzern im dritten Quartal einen Milliardenverlust. Vor Zinsen und Steuern beläuft sich das Minus auf rund 3,5 Milliarden Euro.
Der Skandal erreicht eine neue Dimension. VW muss - nach weiteren Ermittlungen der US-Behörden - einräumen, dass es auch Unregelmäßigkeiten beim Kohlendioxid-Ausstoß (CO2) gibt. Rund 800.000 Fahrzeuge könnten betroffen sein. Die VW-Aktie geht erneut auf Talfahrt.
Der Diesel-Skandal in den USA weitet sich aus. Erneut. Es seien mehr Drei-Liter-Diesel der Marken Volkswagen und Audi betroffen, als bislang angenommen, erklärt die US-Umweltbehörde EPA. Die Autobauer bestreiten dies zunächst. Wenige Tage später, am 24. November, müssen sie allerdings einräumen, ein sogenanntes „Defeat Device“ nicht offengelegt zu haben. Die Software gilt in den USA als illegal.
Die Auswirkungen des Skandal zwingen VW zudem zum Sparen: VW fährt die Investitionen für das kommende Jahr runter. 2016 sollen die Sachinvestitionen um eine Milliarde Euro verringert werden. „Wir fahren in den kommenden Monaten auf Sicht“, sagt VW-Chef Müller. Weitere Ausgaben bleiben auf dem Prüfstand.
Neuer Ärger für Volkswagen: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt nun auch wegen mögliche Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit falschen CO2-Angaben. Die könnten dazu geführt haben, dass zu wenig Kfz-Steuer gezahlt wurde.
Zumindest etwas Positives für die Wolfsburger: Zur Nachrüstung der millionenfach manipulierten Dieselmotoren mit 1,6 Litern Hubraum in Europa reicht nach Angaben von Volkswagen ein zusätzliches, wenige Euro teures Bauteil aus. Bei den 2,0-Liter-Motoren genügt ein Software-Update. Das Kraftfahrtbundesamt genehmigt die Maßnahmen. Auch wenn VW keine Angaben zu den Kosten macht – es hätte schlimmer kommen können.
Ob Müller die Lebenserinnerungen von Gerstner gelesen hat, wissen wir nicht. Aber seine Reden vor den Mitarbeitern und die jüngsten Veränderungen an der Konzernspitze zeigen, dass er entschlossen ist, den Elefanten Volkswagen zum Tanzen zu bringen und nicht im alten Trott weiterlaufen zu lassen. Die Veränderungen, die der Konzern jetzt braucht, sind alternativlos. Das gilt für die Prozesse im Konzern ebenso wie für die Unternehmenskultur. Und es gilt erst recht für die Führungsstrukturen – die Zeiten der Diktaturen sind vorbei.
Für Recht und Moral soll bei Volkswagen künftig die ehemalige Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt sorgen, die bei Daimler in kürzester Zeit Beachtliches vollbrachte. Und die strategische Neuausrichtung lässt er von einem ehemaligen Opel-Manager ausarbeiten: Der langjährige Unternehmensberater, Interims-Opel-Chef und Chevrolet-Präsident Thomas Sedran wird nach einem zweimonatigen Intermezzo bei Accenture ab 1. November in der neugeschaffenen Position des Leiters Konzernstrategie prüfen, welche Unternehmensteile, Geschäftsfelder, Modellprogramme oder Technologien eine Zukunft haben oder besser beerdigt werden.
Sedran wird so etwas wie die rechte Hand des Konzernchef und dadurch eine Schlüsselstelle unterhalb des Vorstandes spielen: Was wird aus Bugatti, was aus der Nutzfahrzeug-Allianz, was aus der Gläsernen Manufaktur in Dresden? Was braucht es, um in USA wieder in die Offensive gehen zu können oder um bei Volkswagen endlich auf ordentliche Margen zu kommen? Macht es Sinn, VW zur Premiummarke weiterzuentwickeln und gegen Mercedes zu positionieren – oder sollte sich die Marke besser wieder auf seine Ursprünge besinnen?
Fragen über Fragen, die Sedran in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Sein Vorteil: Er kann Vorlagen liefern – entscheiden wird sie Müller zusammen mit seinen Vorstandskollegen. Und Müllers Vorteil: Er kann sich darauf konzentrieren, in den kommenden Jahren den Veränderungsprozess zu treiben. Der Anfang ist gemacht, das Tempo, das er dabei vorlegt, atemberaubend. Wenn Müller so weiter macht, könnte der Konzern tatsächlich gestärkt aus der Abgasaffäre hervorgehen.