Es waren ungewohnt lobende Worte für einen Manager, der seinen Ruf als „harter Hund“ hegt und pflegt. „Der ID Vizzion ist der emotionalste Volkswagen“, sagte VW-Markenchef Herbert Diess, als er am Vorabend der Genfer Automesse das neueste Concept Car seiner Marke vorstellte. Mit allen technischen Voraussetzungen für das autonome Fahren gespickt, einem schicken Design und hochwertigem, voll vernetzten Innenraum. Und natürlich rein elektrisch angetrieben, versteht sich. Die metallic-rote Limousine soll die Zukunft von Volkswagen einläuten.
Eine Zukunft, die Diess nun von einem anderen Posten aus gestalten wird. Einem höheren. Der 59-Jährige wurde am Donnerstagabend zum neuen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG berufen. Er folgt Matthias Müller nach.
Dass Herbert Diess eines Tages VW-Chef wird, war noch vor wenigen Jahren nicht abzusehen. Lange werkelte er an einer Karriere in seiner Geburtsstadt München: Als früherer Einkaufs- und damals amtierender Entwicklungsvorstand von BMW rechnete sich Diess gute Chancen aus, den scheidenden Vorstandschef Norbert Reithofer zu beerben.
Seine Qualitäten hatte Diess vielfach unter Beweis gestellt: Er sparte in nur vier Jahren vier Milliarden Euro im Materialeinkauf ein. Dabei – und später als Entwicklungsvorstand – setzte Diess auf agile Projektteams, um alte Strukturen aufzubrechen. Dennoch entschied sich der BMW-Aufsichtsrat Ende 2014 für Produktionsvorstand Harald Krüger als neuen Chef. Damit wurde Diess Opfer einer Methode, die er selbst nur allzu gerne anwendet: Der Aufsichtsrat hatte zwei Kontrahenten gegeneinander ausgespielt. Diess zog die Konsequenz und verabschiedete sich nach Wolfsburg.
Noch heute erzählt man sich in München von der „Best-Practice-Kalkulation“ bei Verhandlungen mit Lieferanten. Diess gab einen Preis vor, zeigte einige Punkte auf, an denen gespart werden könnte und färbte das als „Best Practice“ schön. Konnte der Zulieferer den Preis nicht erreichen, war er raus. Er wurde durch einen günstigeren Anbieter ersetzt – egal ob zuverlässiger Stammlieferant oder nicht. „Den Qualitätsabfall, der mit der Umstellung auf billigere Zulieferer einherging, hat er in Kauf genommen“, sagt ein Lieferant.
Das ging über Jahre gut. Die Zahlen gaben dem Kurs von Diess Recht. Doch die Zulieferer waren wohl auch nicht ganz unbeteiligt, dass Diess 2012 das Vorstandsressort wechselte. Die Stimmung unter den Lieferanten war so mies, dass einige mit einem Lieferstopp drohten. Diess hatte beim Kostendrücken die rote Linie erreicht, das musste auch Vorstandschef Reithofer einsehen.
Zur Person: Herbert Diess
Herbert Diess wurde am 24. Oktober 1958 in München geboren. Trotz seines Geburtsortes ist Diess österreichischer Staatsbürger.
1977 begann Diess ein Studium der Fahrzeugtechnik an der Fachhochschule München. Nach nur einem Jahr wechselte er an die TU München und studierte fortan Maschinenbau. Nach dem Abschluss als Diplom-Ingenieur 1983 arbeitete er fünf Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU, 1987 promovierte er zum Dr. Ing. auf dem Gebiet der Fertigungstechnik.
1989 zog es Diess nach Stuttgart zur Robert Bosch GmbH, wo er an Planung eines neuen Werks arbeitete. Von 1990 bis 1993 leitete er Planung und Instandhaltung des Bosch-Werks Trento in Spanien, 1993 wurde er zum Technischen Geschäftsführer des Werks befördert. Diese Stelle hatte er bis 1996 inne.
1996 kam Diess zu BMW, zunächst als Leiter der Langfrist- und Strukturplanung. Über verschiedene Stationen (unter anderem die Leitung der Werke in Birmingham und Oxford und der BMW-Motorradsparte) wurde er 2007 in den Vorstand berufen. Dort war er bis 2012 für die Ressorts Einkauf und Lieferantennetzwerk verantwortlich, bevor er die Position des Entwicklungsvorstands übernahm. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Ausscheiden bei BMW im Dezember 2014 inne.
Im Dezember 2014 wurde bekannt, dass Diess nach Wolfsburg wechselt. Zum 1. Juli 2015 übernahm er als Mitglied des Vorstands die Führung der Marke VW. Im Juni 2016 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen Diess im Zuge des VW-Abgasskandals wegen des Verdachts der Marktmanipulation ermittelt.
Im Februar 2015 wurde Diess zum Mitglied des Aufsichtsrats bei Infineon bestellt.
Seinen Spartrieb lebt Diess auch in Wolfsburg aus. Seitdem er den Chefposten bei der notorisch margenschwachen VW-Kernmarke im April 2015 übernommen hat, entwickeln sich die Zahlen prächtig. Die operative Rendite – also der Anteil des Ergebnisses im laufenden Geschäft am Umsatz – lag im vergangenen Jahr mit 4,1 Prozent doppelt so hoch wie 2014. Das Ergebnis stieg um 77 Prozent auf stolze 3,3 Milliarden Euro. In harten Verhandlungen, die nicht immer lautlos geführt wurden, hat Diess der im VW-Konzern mächtigen Gewerkschaft IG Metall Milliardeneinsparungen abgerungen. Bis zu 30.000 Stellen fallen weg, 23.000 davon in Deutschland.
Die Stellenstreichungen und weitere Einsparungen sollen die jährlichen Kosten bis 2020 um 3,7 Milliarden Euro drücken. „Stand heute sind bereits rund zwei Milliarden Euro realisiert“, verkündete Diess im März. Im laufenden Jahr soll die Marge zwischen 4 und 5 Prozent, die operative Rendite bis 2025 bei mindestens sechs Prozent liegen. Ein Wert, den vergleichbare Massenhersteller wie die französische Opel-Mutter PSA im Autobau bereits jetzt erreichen oder übertreffen.
Doch bei VW wurde auch das Realität, was bei BMW nur drohte. Ein relativ unbekannter Zulieferer stellte im Sommer 2016 die Lieferungen an VW ein. Anfangs ging es nur um wenige Sitzbezüge. Doch schnell wurde daraus ein Flächenbrand, der die Produktion in den wichtigen Werken Wolfsburg und Emden über Tage stilllegte.
Im Streit um Konditionen hatten die Zulieferer der Prevent-Gruppe ihre Schlüsselrolle in den ausgereizten Lieferketten ausgenutzt. Am Ende musste VW zurückrudern und eine mehrjährige Zusammenarbeit schriftlich zusagen – um genau diese im März 2018, also lange vor Ablauf der vereinbarten Fristen, wieder zu kündigen. Der Streit, der Volkswagen mehrere hundert Millionen Euro kosten könnte, dürfte wohl vor Gericht geklärt werden. Diess ist zwar nicht Chefeinkäufer von VW, seine harte Hand kommt aber auch noch in Wolfsburg klar durch.
Diess ist mehr als ein Kostendrücker
Den 59-Jährigen einzig und allein als rücksichtslosen Kostendrücker zu sehen, als eine moderne Neuinterpretation des früheren VW-Einkaufsvorstands José Ignacio López mit dem vielsagenden Spitznamen „Würger von Wolfsburg“, greift aber zu kurz. Im Zusammenspiel mit dem ehemaligen Konzernchef Matthias Müller hat Diess intern viel bewirkt, eingefahrene Strukturen aufgebrochen.
Die über Jahrzehnte geprägten hierarchischen Strukturen aus der Ägide Piëch/Winterkorn, waren Diess ein Dorn im Auge. Sie waren ihm zu ineffizient. Die Produktivität der deutschen Standorte soll im laufenden Jahr um 7,5 Prozent verbessert werden, bis 2020 sollen es 25 Prozent sein. Doch um von der Belegschaft und auch den mächtigen Familien Porsche und Piëch akzeptiert zu werden, reicht es nicht mehr aus, nur harte Ziele vorzugeben. Man muss auch den Weg begleiten.
Das ist Diess besser gelungen, als viele im Vorfeld seiner VW-Zeit erwartet hätten. Große Teile der Belegschaft weiß er hinter sich, aller Einschnitte zum Trotz. Dazu tragen sicher auch die neuen Produkte bei, die in den vergangenen Jahren entstanden sind.
Den SUV-Boom hatte Wolfsburg zunächst schlichtweg verschlafen, der neue Chef musste reagieren. Im Sommer 2017 konnte Diess ein Auto ganz nach seinem Geschmack vorstellen. Statt ein schnödes Golf-SUV zu bauen, brachte VW den T-Roc. Bei der Technik konnten sich die Entwickler am modularen Querbaukasten bedienen, der die Herstellungskosten senken soll. Zudem konnte noch etwas am Material gespart, aber zugleich eine Art Lifestyle-Aufschlag verlangt werden – SUV verkaufen sich auch so. Und Belegschaft wie Kundschaft sehen, dass etwas Neues kommt – auch wenn der T-Roc immer noch mit dem leidigen Dieselmotor angeboten wird.
Diess und die Dieselaffäre
Die von VW ausgelöste Dieselaffäre hatte für Diess bislang Höhen und Tiefen. Als Mitte der 2000er Jahre Ingenieure bei VW und Audi jene skandalöse Schummel-Funktion entwickelten und perfektionierten, war Diess – anders als Matthias Müller – noch nicht Teil des VW-Imperiums.
Dennoch ist er in der Affäre nicht gänzlich unbelastet: Mehrere Dokumente und Zeugen legen nahe, dass Diess zusammen mit Winterkorn bereits im Juli 2015, also gut zwei Monate vor Bekanntwerden, über das „Defeat Device“ und mögliche Folgen informiert wurde. Da Diess nichts unternahm und die Aktionäre nicht über die möglichen Milliarden-Strafen informierte, ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen des Verdachts auf Marktmanipulation gegen den künftigen VW-Chef.
Neuordnung bei Volkswagen – die wichtigsten Ergebnisse
Der neue starke Mann im Konzern ist Herbert Diess. Der bisherige Chef der Konzern-Hauptmarke VW, zu der Modelle wie der Golf und der Passat gehören, wird neuer Konzern-Vorstandschef und damit Nachfolger von Matthias Müller. Diess leitet zudem in Personalunion die neue Markengruppe „Volumen“, unter der die Marken VW, Seat und Skoda zusammengefasst werden. Der frühere BMW-Manager ist außerdem verantwortlich für Entwicklung und die Fahrzeug-IT.
Volkswagen führt neue Markengruppen ein. Damit soll der Autokonzern künftig nicht mehr so zentral geführt werden. Künftig gibt es die Markengruppen „Volumen“, „Premium“ - mit Audi an der Spitze - sowie „Super Premium“, unter anderem mit dem Sportwagenbauer Porsche. Für die Nutzfahrzeugeinheit Truck & Bus sollen die Voraussetzung geschaffen werden, diese an die Börse zu bringen.
Für die Markengruppen sind jeweils Vorstandsvorsitzende verantwortlich: Neben Diess für die Volumengruppe sind dies Audi-Chef Rupert Stadler für Premium und Porsche-Chef Oliver Blume für Super-Premium. Stadler ist außerdem verantwortlich für den Konzernvertrieb, Blume für die Konzernproduktion. Blume rückt auch in den Konzernvorstand auf.
VW bekommt außerdem einen neuen Personalvorstand, und zwar den bisherigen Generalsekretär des Konzernbetriebsrates, Gunnar Kilian. Kilian ist der engste Vertraute des einflussreichen Betriebsratschefs Bernd Osterloh. Der bisherige Personalchef Karlheinz Blessing steht VW weiterhin als Berater zur Verfügung, bis sein Vertrag ausläuft.
Der bisherige VW-Vorstand Francisco Javier Garcia Sanz, zuständig für Beschaffung, verlässt laut VW das Unternehmen auf eigenen Wunsch. Kommissarisch übernimmt der Beschaffungschef der Marke VW, Ralf Brandstätter.
Doch Diess ist – anders als Matthias Müller – nie zum öffentlichen Gesicht der Krise geworden. Natürlich trat er öffentlich auf und war auch im Januar 2017 als höchster VW-Vertreter bei der Automesse in Detroit. Dabei hat sich Diess als besonnener und ruhiger Kommunikator erwiesen. Zuletzt verteidigte er den Konzern und den verteufelten Diesel in der Talkshow „Anne Will“, ohne dabei angreifbar zu werden oder andere anzugreifen. Verbale Fehltritte hat sich Diess bislang keine geleistet. Anders als Matthias Müller konnte er als Markenchef bei gesellschaftlich heiklen Themen wie der viel diskutierten Vorstandsvergütung schweigen. Das wird sich künftig ändern.
Wie sich Diess auf die Zukunft einstellt, war auf dem Genfer Autosalon nur wenige Minuten nach seiner Rede zu sehen. Gemeinsam mit Matthias Müller nahm er für ein Foto in dem roten ID Vizzion Platz. Diess, schon ganz auf die Zukunft des selbstfahrenden Autos ohne Lenkrad und Pedale eingestellt, legte lächelnd die Füße auf einem kleinen, gepolsterten Bänkchen ab. Konzernchef Müller zögerte noch ob dieser Zukunft.
Ein Zögern kann sich Diess künftig nicht mehr erlauben. Denn die Zukunft wird zwar selbstfahrend – aber sicher kein Selbstläufer.