Ruhig rollt der Siebensitzer durch den morgendlichen Berufsverkehr von Chattanooga in Tennessee. Schwarze Matten verbergen Front und Heck des neuen Modells. Seine offizielle Weltpremiere erlebt das 5,04 Meter lange Gefährt erst im Oktober in Los Angeles. Ab dann soll die Geländelimousine das auf den amerikanischen Geschmack abgestimmte Zugpferd werden, das Volkswagen seit Jahr und Tag fehlt.
Auf freier Strecke macht Hinrich Woebcken ein paar zackige Lenkbewegungen, steuert nach links, nach rechts, dann wieder nach links. Er nickt zufrieden und biegt schließlich auf den Parkplatz des VW-Werks ein. Der Wagen läuft rund. Wenigstens der.
Ansonsten hat der 56-jährige Bayer wahrlich genug Grund zur Sorge. Seit gut einem halben Jahr steht er an der Spitze des US-Geschäfts von VW – derzeit nicht unbedingt der begehrteste Job der Autobranche. VW hat sich in den USA schon immer schwergetan. Seit US-Behörden vor knapp einem Jahr die Manipulation von Abgaswerten bei Dieselfahrzeugen öffentlich machten, geht es vom ohnehin bescheidenen Niveau scheinbar ungebremst weiter bergab. Politiker schimpfen, Anwälte fordern Milliarden, Kunden kaufen andere Marken. Woebcken soll all das in den Griff bekommen.
Marktanteile der Autohersteller in den USA
Drei Prozent Marktanteil haben in den USA sowohl Subaru wie auch VW.
Die Zahlen beziehen sich auf Juli 2016.
Quelle: Kelley Blue Book Automotive Insights
Sieben Prozent Marktanteil entfallen auf "Sonstige".
Hyundai-Kia kommen auf neun Prozent Marktanteil. Ebenfalls neun Prozent vom Kuchen holt sich Nissan.
Zehn Prozent des Automarktes in den USA sind in der Hand von Honda.
Zwölf Prozent der in den USA verkauften Wagen stammen von Fiat.
Toyota kommt auf 14 Prozent Marktanteil.
Ford hat in den USA einen Marktanteil von 15 Prozent.
18 Prozent Marktanteil entfallen auf General Motors.
In drei Jahrzehnten in der Autobranche ist der Manager ganz schön herumgekommen, er war bei Knorr Bremse, bei Dürr, KrausMaffei und BMW. In der ersten Reihe stand er nie. Das hat sich nun geändert. „Es hat auch Vorteile, in einer schwierigen Lage anzufangen“, sagt Woebcken. „Wenn alles rosarot ist – was kommt dann?“
VW ist in den USA ein Nischenanbieter
Viel schlechter kann es jedenfalls kaum werden. In den Siebzigerjahren verkaufte VW in den USA noch knapp 600.000 Fahrzeuge im Jahr, doch das ist lange her. Seit Jahrzehnten bewegt sich der Autobauer mit zwischen 200.000 und 300.000 verkauften Autos und einem Marktanteil von um die drei Prozent in der Nische.
Mit seiner „Strategie 2018“ wollte Ex-VW-Chef Martin Winterkorn den Absatz binnen weniger Jahre auf 800.000 Fahrzeuge vervierfachen. Das war ohnehin äußerst ambitioniert, doch seit Bekanntwerden des Dieselskandals wäre selbst Stagnation ein Erfolg. Im laufenden Jahr verkaufte VW bisher satte 13 Prozent weniger Fahrzeuge als 2015. Die Aufklärung der Manipulation zieht sich, Strafen und Schadensersatzzahlungen in den USA dürften sich nach aktuellen Schätzungen auf rund 18 Milliarden Euro summieren. Zimperlich geht es dabei nicht zu. So musste sich Woebckens Vorgänger Michael Horn bei einer Anhörung von einem Abgeordneten fragen lassen, was er denn im Gefängnis lesen werde.
Gegen all die Tristesse setzt der neue US-Chef auf seine offene Art, Verhandlungsgeschick und ein Umdenken in der Konzernzentrale in Wolfsburg. „Man hat früher nicht immer darauf gehört, was die Anforderungen der einzelnen Märkte waren. Das ist jetzt anders“, erklärt er nüchtern.
Neues Vorzeigemodell
Ein Indiz für den Sinneswandel sieht er in der Suche nach dem Namen für das neue Vorzeigemodell. Den durften sich die Manager der amerikanischen VW-Tochter tatsächlich selbst ausdenken. Gerüchte besagen, dass das neue Gefährt Atlas heißen wird. Das wäre dann auch eine Abkehr von der bisher gepflegten Taufpraxis, die bei VW-Geländewagen wie Touareg und Tiguan stets ein großes T am Anfang vorsah. Noch nicht viel Autonomie, aber ein Anfang.
Die Milliarden-Buße für VW im Überblick
Der Konzern hat mit US-Klägern einen Vergleich ausgehandelt. Demnach muss VW die knapp 15 Milliarden Dollar für verschiedene Dinge ausgeben: für einen Umweltfonds und die Förderung von emissionsfreien Autos etwa. Der weitaus größte Teil wird aber an Kunden fließen, die in den USA einen manipulierten VW oder Audi besitzen.
Die reine Entschädigung für Autobesitzer soll zwischen 5100 und knapp 10.000 Dollar pro Fahrzeug liegen. Das kommt darauf an, wie alt das Auto ist. Zusätzlich muss der Konzern den Kunden anbieten, ihre Autos zurückzukaufen. Die Diesel-Besitzer sollen dabei so viel Geld bekommen, wie ihr Auto vor Bekanntwerden der Manipulationen wert war.
Jein. Generell haben US-Kunden eine Wahlmöglichkeit: Entweder Rückruf mit einer Nachbesserung oder Rückkauf, also Rückgabe. Diese Varianten stehen in Deutschland und Europa nicht zur Auswahl. Dafür hat der Rückruf hierzulande schon begonnen und in den nächsten Wochen soll er weiter Fahrt aufnehmen, so dass zum Jahresende alle 2,5 Millionen Diesel in Deutschland nachgebessert sein könnten. In den USA hat VW bis Mai 2018 Zeit, um sich technische Nachbesserungslösungen von den Behörden absegnen zu lassen. Das gilt dort als deutlich kniffliger.
Wahrscheinlich nicht viel. Volkswagen hat wiederholt betont, dass eine Entschädigung wie in den USA in Europa und damit auch in Deutschland nicht infrage komme. Vorstandschef Matthias Müller selbst hat das mehrfach ausgeschlossen. Verbraucherschützer kritisieren, dass Kunden in den USA mehr bekommen sollen. Einige Anwaltskanzleien haben sich zum Ziel gesetzt, auch für betroffene Autobesitzer in Europa Schadenersatz zu erstreiten. Die Erfolgsaussichten sind aber aufgrund der unterschiedlichen Rechtssysteme ungewiss.
Nein. Zum einen müssen sich nicht alle Kläger in den USA einem Vergleichsvorschlag anschließen und können individuell weiter klagen. Auch von drei US-Bundesstaaten sind inzwischen Klagen eingegangen. Zum anderen muss VW auch außerhalb der USA viele Verfahren bewältigen. In Deutschland fordern ebenfalls Kunden Entschädigungen oder Rückkäufe. Gerichte haben hier in ersten Instanzen unterschiedlich geurteilt. Zudem fühlen sich zahlreiche VW-Aktionäre von dem Konzern zu spät über die Manipulationen informiert. Sie wollen sich Kursverluste erstatten lassen.
Für das Hoffnungsträgermodell hat VW 900 Millionen Dollar in den Standort Chattanooga investiert. Bisher läuft hier der nur mäßig erfolgreiche US-Passat vom Band. Für die Produktion des neuen Wagens stockt VW die Zahl der Mitarbeiter von aktuell 2400 auf 3100 auf. Auch die Zahl der eingesetzten Roboter wird verdoppelt, die Produktionsfläche um ein Viertel vergrößert.
Gleichzeitig ist VW dabei, sich in den USA vom Diesel zu verabschieden, Neuentwicklungen gibt es jedenfalls keine mehr. Stattdessen sollen es nun effiziente Benziner, Hybride und insbesondere Elektromodelle richten, die derzeit im Silicon Valley entwickelt werden. In Belmont, südlich von San Francisco, entsteht derzeit ein neues Entwicklungszentrum für Themen wie autonomes Fahren und Elektromobilität.
Angesichts der Offensive scheint Woebcken die existenzbedrohenden Probleme seines Arbeitgebers mitunter fast zu vergessen. „Wir sind in den USA heute eine Nischenmarke, das muss sich schnell ändern“, gibt er sich erstaunlich selbstbewusst und angriffslustig. „Wir haben hier in Amerika eine unglaubliche Historie – das müssen wir für uns nutzen. Da geht es nicht nur um den SUV, sondern auch um den neuen Passat. Der macht einen großen Sprung.“ Leider ist davon bisher wenig bis gar nichts zu sehen. Das aktuelle US-Modell erblickte das Licht der Welt ausgerechnet parallel zum Dieselskandal, entsprechend holprig ist der Start ausgefallen. In Chattanooga ist jedenfalls viel Platz für Wachstum. Statt 140.000 Fahrzeuge rollten hier zuletzt nur 100.000 Wagen vom Band. Dabei wären Kapazitäten für 250.000 Fahrzeuge verfügbar.
Einen der in den USA so beliebten Pick-up-Trucks wird es von VW wohl erst mal nicht geben. Dabei sind Modelle wie Ford F-150, Chevrolet Silverado und Dodge Ram derzeit besonders angesagt. Um hier mit einzusteigen, fehlt VW jedoch die passende Plattform. Den dafür erforderlichen leiterartigen Rahmen gibt es aktuell nur beim Amarok, der in Argentinien und Hannover vom Band läuft. Er ist für die Amerikaner deutlich zu klein, viel zu teuer und zudem nicht nach den Erfordernissen des lokalen Marktes entwickelt. Eine kurzfristige Lösung scheint nicht in Sicht.
Welche Modelle unter den Diesel-Vergleich fallen
Baujahre 2013-2015
Baujahre 2010-2015
Baujahre 2009-2015
Baujahre 2012-2015
Baujahre 2010-2013 und 2015
Die Zahl der Händlerbetriebe will Woebcken nicht nennenswert vergrößern. Bei der verkauften Stückzahl pro Händler hinkt der Konzern der Konkurrenz auch unabhängig vom Dieselskandal hinterher. Um aufzuholen, will Woebcken ab jetzt mindestens einmal pro Jahr wichtige Produktneuheiten präsentieren. Dadurch, so glaubt der VW-Mann, kann der Konzern in Nordamerika in absehbarer Zeit zu einem ernsthaften Konkurrenten von Chevrolet, Honda und Toyota werden.
Ein fester Glaube kann in seinem Job ganz sicher nicht schaden.