
WirtschaftsWoche: Zwei kleine Zulieferer haben das große VW über Tage lahmgelegt. Wie konnte es geschehen, dass ein Autobauer so abhängig von einem Zulieferer ist?
Marc Staudenmayer: Die Abhängigkeit hat in den vergangenen 30 Jahren allgemein zugenommen, weil die Autobauer immer mehr Anteile ihres Umsatzes an Lieferanten ausgelagert haben. Dazu kommt, dass das Single Sourcing, also der Bezug eines Teils von nur einem Lieferanten, in Mode gekommen ist. Der Autobauer trägt die Entwicklungskosten für Komponenten nicht selbst, sondern legt sie auf einen Lieferanten um und profitiert in der Lieferphase von niedrigen Kosten.
Wie lässt sich eine Situation wie bei VW vermeiden?
Nur durch eine Dual-Source-Lösung, bei der zwei Zulieferer ein und dasselbe Teil bauen. Das führt allerdings zu einem höheren Aufwand in der Lieferantenverwaltung. Und auch das Auslagern der Entwicklungskosten wird schwieriger.
Zur Person
Marc Staudenmayer ist Geschäftsführer und Gründungspartner Deutschland der 1999 in Paris etablierten Strategieberatung Advancy. In Deutschland ist Advancy mit Büros in München und Düsseldorf vertreten. Vor seinem Wechsel zu Advancy war Staudenmayer verantwortlich für den Bereich Supply Chain Management & Operations bei goetzpartners Management Consultants in München. Er begann seine berufliche Karriere als Consultant bei AT Kearney in Paris und gründete im Anschluss die Unternehmensberatung Masaï – The Purchasing Experts in Paris und München, die er zu einem weltweit aufgestellten Beratungsunternehmen mit 180 Mitarbeitern ausbaute. Er gründete danach die Unternehmensberatung ARAIA Supply Management Consultants in München, der er als Geschäftsführer vorstand. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur europäischen Integration und zu fachspezifischen Themen.
Was wurde bei VW offensichtlich falsch gemacht?
Volkswagen hat bei den Verhandlungen die Machtverhältnisse zwischen Groß und Klein falsch eingeschätzt. Generell setzt sich ein Autobauer durch seine schiere Größe fast immer durch. Widersetzt sich ein Lieferant, bedroht er so seine zukünftigen Aufträge. In diesem Fall war das den beiden Zulieferern offenbar egal. Das weist darauf hin, dass der Zulieferer sich in einer äußerst prekären Situation befinden muss. Ansonsten hätte er den Machtkampf nicht angefangen.
Kann sich nach dem aktuellen Fall ein Einkäufer in der Autobranche überhaupt noch das Single Sourcing erlauben?
Nein. Aus Resilienz-Gesichtspunkten überwiegen die Risiken gegenüber den Vorteilen. Risiken gehen Autobauer ja nicht nur in Fällen wie diesem ein, sondern auch in Fällen von Naturkatastrophen. Die Einsparungen gegenüber einer Dual-Source-Lösung werden im Schadensfall sofort aufgebraucht. Dies ist seit Jahren bekannt, allerdings haben wenige Konzerne das Risikomanagement über das kurzfristige Kostenmanagement gestellt.
Ist Volkswagen gegen Prevent ein Präzedenzfall, der das Machtgefüge in der Autobranche verschieben kann?
In meinen Augen ist das ein Einzelfall, der allerdings durch das Verhalten von VW in der jüngeren Vergangenheit befördert wurde. Etwa der Brief des Einkaufsleiters im Rahmen der Strategie 2025 an alle Lieferanten, in dem zwischen den Zeilen weitere Preisrunden angekündigt wurden. Das war weder wertschätzend noch konziliant. Wenn in dieser Situation zwei Tage vor Ablauf der Frist ein Projekt gekündigt wird, drängt man seinen Partner in die Ecke.
Was müssen die beiden Zulieferer beziehungsweise der Konzern Prevent befürchten?
Ganz einfach: Dass sie sowohl bei VW als auch bei anderen Autobauern auf der schwarzen Liste stehen. Das bedeutet, dass sie keine weiteren Aufträge aus der Automobilbranche bekommen – abgesehen von dem, was sie sich jetzt bei VW anscheinend gesichert haben. Aber VW wird ein langes Gedächtnis haben.