„Seit ich ein Kind war, wollte ich immer in die USA, aber ich konnte es mir nie leisten“, schrieb Volkswagen-Mitarbeiter S. 2013 in einem Firmenblog. Dank seines Jobs bei VW habe er sich den Traum erfüllen können, die „Liebe zu Amerika“ sei dadurch noch stärker geworden. Heute ist das Land seiner Kindheitsträume für S. ein Albtraum. Der VW-Manager steht in Detroit als Mittäter im Abgas-Skandal vor Gericht, ihm droht eine lange Gefängnisstrafe.
„Wir rufen den Fall 20394 auf, die Vereinigten Staaten von Amerika gegen S.“, sagt die Gerichtssprecherin. Wie versteinert steht der 48-Jährige da, während sein Anwalt die Vorwürfe - Verschwörung zum Betrug und Verstoß gegen Umweltgesetze - zurückweist. Die Anschuldigungen sind heftig: Die Klageschrift umfasst Straftaten von gezielten Falschaussagen bis hin zur Vernichtung von Beweismitteln.
Am 7. Januar war am Flughafen von Miami der Zugriff erfolgt, der das Leben von S. komplett auf den Kopf stellte: Die FBI-Fahnder fassten den VW-Mitarbeiter, der bis März 2015 in leitender Funktion mit Umweltfragen in den USA betraut war, auf dem Rückweg seines alljährlichen Urlaubs in Florida, wo er mehrere Immobilien besitzt. Seitdem erfährt S. die ganze Härte der US-Justiz. Bei Gericht wird er im Knastanzug mit Handschellen und Fußfesseln vorgeführt.
An diesem Donnerstag will sein Anwalt einen neuen Versuch unternehmen, S. gegen Kaution auf freien Fuß zu bekommen. Um das Gericht zu überzeugen, dem Antrag zuzustimmen, haben Freunde, Familie und Kollegen Briefe nach Detroit geschickt. Darin wird das Bild eines fürsorglichen Familienmenschen und pflichtbewussten VW-Angestellten mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Autos und die USA gezeichnet. Ist das wirklich der selbe Mann, den die US-Justiz als einen von wenigen Drahtziehern der Dieselaffäre ausgemacht hat?
„Von klein auf waren Autos seine Lieblingsspielzeuge“, schreibt etwa die Mutter des Angeklagten. Sein erstes Wort sei „rolle-rolle“ für Auto gewesen - noch bevor er „Mama“ und „Papa“ gesagt habe. Seine Vorliebe habe stets der Marke VW gegolten, besonders dem „Käfer“.
Der Fall Volkswagen vor Gericht
Bundesweit klagen Autobesitzer vor mehreren Gerichten wegen überhöhter Stickoxidwerte auf Rückabwicklung des Kaufs oder Schadensersatz. Allein vor dem Landgericht Braunschweig sind mehr als 200 solcher Klagen anhängig. Die auf Verbraucherschutzverfahren spezialisierte Onlineplattform MyRight, die mit der US-Kanzlei Hausfeld zusammenarbeitet, reichte zu Jahresbeginn die erste Musterklage ein, mit der die Klagen vieler Betroffener gesammelt werden sollen. Diese Klagen, die derzeit viele Langerichte in ganz Deutschland beschäftigen, sind unabhängig von den Ermittlungen der Braunschweiger Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des Betrugs gegen mehrere VW-Verantwortliche.
„Die durch den gesamten Abgasskandal entstandene Wertminderung kann noch am ehesten angesetzt werden, um Schadenersatz beim Hersteller durchzusetzen“, sagt Rechtsexperte Klaus Heimgärtner vom ADAC. Voraussetzung sei aber, dass die Merkmale der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung oder der Verletzung eines Gesetzes zum Schutz eines Dritten erfüllt seien. Das Problem: „Bislang gibt es keine zuverlässigen Zahlen über Wertminderungen von gebrauchten VWs mit unzulässiger Abschalteinrichtung“, so Heimgärtner.
In Deutschland gibt es keine Sammelklagen wie in den USA. Im Prinzip bleibt nur die Einzelklage gegen den Händler oder den Hersteller. "In den USA müssen Geschädigte nicht aktiv werden und klagen, das übernehmen Einzelpersonen, die als Sammelkläger auftreten", erklärt Jan-Eike Andresen, Leiter der Rechtsabteilung und Co-Gründer von MyRight. "Da kommt irgendwann der Scheck von VW über 10.000 Dollar für jeden Geschädigten. In Deutschland müssen Kunden mindestens einen Anwalt beauftragen oder ihre Ansprüche an myRight abtreten, damit etwas passiert. Diese Hemmschwelle zum Tätigwerden nutzt VW natürlich zu seinen Gunsten aus."
Das liegt am deutschen Recht. „In den USA haben Schadenersatzzahlungen neben der Schadenbeseitigung auch Strafcharakter, das treibt die Schadenshöhe“, erklärt Horst Grätz von der Regensburger Kanzlei Rödl & Partner. In Deutschland hingegen wird nur der tatsächlich entstandene Schaden beglichen. Den muss der Kunde allerdings nachweisen.
Ja, aber auch schon zu deren Ungunsten. Insgesamt gibt es 120 verschiedene Urteile. „Solange das nicht höchstrichterlich, am besten vom Bundesgerichtshof geklärt ist, ist jeder Richter frei, über den Rücktritt vom Kauf zu urteilen“, erklärt Jura-Professor Florian Bien von der Universität Würzburg.
Eine finanzielle Entschädigung der Kunden in Europa lehnt VW ab, obwohl sich Forderungen nach einem ähnlichen Vergleich wie in den USA mehren. Sollten diese dennoch fällig werden, könnte das Volkswagen wegen der viel größeren Zahl betroffener Kunden im Vergleich zu den USA finanziell ruinieren, fürchten Experten. Der Autoanalyst Jürgen Pieper vom Bankhaus Metzler geht von einem Wertverlust in einer Größenordnung von 500 Euro je Fahrzeug aus.
Die Passion für Autos und Technik wird auch in den anderen Briefen fast durchgehend betont. Darin machen sich enge Vertraute wie Ehefrau und Schwester, aber auch entferntere Bekannte wie eine ehemalige Vermieterin, ein Branchenanalyst oder ein Autohändler für S. stark.
Immer wieder geht es in den Empfehlungsschreiben auch um das Projekt „Moonraker“, bei dem VW 2005 mehrere Mitarbeiter für mehr als ein Jahr als „Trend Scouts“ nach Kalifornien schickte, um den „American Way of Life“ zu erkunden. S. war demnach ein integraler Bestandteil dieser eingeschworenen Clique.
FBI nimmt deutschen Manager fest
Es handelt sich um einen VW-Mitarbeiter, der nach Angaben der US-Behörden seit 1997 für den Konzern tätig ist. Von 2012 bis März 2015 soll er als führender Angestellter in den USA mit Umweltfragen betraut gewesen sein. Das US-Justizministerium wirft ihm eine Beteiligung beim massenhaften Abgasbetrug vor. VW hatte im September 2015 nach Vorwürfen der US-Umweltbehörden zugegeben, bei Hunderttausenden Dieselautos mit einer speziellen Software die Emissionswerte gefälscht zu haben.
Der VW-Manager war laut FBI-Angaben im Urlaub in Florida - was sich seit der Festnahme ereignete, gleicht einem Krimi: Der Beschuldigte landete bereits am Montag erstmals in Miami vor Gericht - er wurde dort laut US-Medien filmreif in Handschellen und Gefängnisuniform vorgeführt. Der Richter ordnete an, dass der Mann in Gewahrsam bleibt. Die in dem Verfahren zuständige Bundesanwaltschaft in Detroit drängt auf eine rasche Auslieferung - am Donnerstag schon soll der VW-Mitarbeiter in Michigan vor den Richter kommen.
In den Gerichtsdokumenten zur Strafanzeige werden heftige Vorwürfe gegen das Management erhoben. Demnach war die Konzernspitze nicht nur seit Juli 2015 in die Manipulationen eingeweiht, sie soll die zuständigen US-Mitarbeiter sogar autorisiert haben, den Betrug gegenüber den US-Behörden weiter zu leugnen. Solche Anschuldigungen sind zwar nicht gänzlich neu, doch diesmal stützt sich die US-Justiz auf die eidesstattliche Erklärung eines FBI-Agenten und Aussagen gleich mehrerer Konzern-Insider. Einer der Zeugen behauptet, er habe sich über die Vorgaben seiner Vorgesetzten hinweggesetzt, als er die Tricksereien letztlich gegenüber den US-Behörden einräumte.
Im September hatte sich bereits ein langjähriger VW-Ingenieur im Zuge einer ersten Strafanzeige schuldig im Abgas-Skandal erklärt und den Behörden im Rahmen eines Kronzeugen-Deals Kooperation zugesichert. In den USA können Beklagte ihr Strafmaß in Kriminalfällen deutlich senken, wenn mit ihren Aussagen zur Aufklärung beitragen. Laut Gerichtsdokumenten gibt es zwei weitere VW-Insider, die als Zeugen mit den Ermittlern zusammenarbeiten. Ihnen sei zugesichert worden, im Gegenzug nicht in den USA angeklagt zu werden. Möglicherweise hat die US-Justiz noch zusätzliche VW-Manager im Visier - bei Strafanzeigen ist es in den USA durchaus üblich, dass sie erst mit deutlichem Zeitverzug öffentlich gemacht werden.
Die Strafanzeige platzt mitten in die Verhandlungen zwischen VW und dem US-Justizministerium um einen Vergleich zur Beilegung strafrechtlicher Ermittlungen. Hierbei geht es allerdings um die Konzernebene und nicht um Anschuldigungen gegen in die Affäre verwickelte Personen. Laut US-Medien könnten VW und die US-Justiz bereits in dieser Woche einen Milliarden-Vergleich schließen, der auch noch weitere zivilrechtliche Bußgelder umfasst. Mit zahlreichen Dieselbesitzern, Autohändlern und US-Behörden hat der Konzern sich in einem zivilrechtlichen Mammut-Verfahren bereits auf außergerichtliche Kompromisse geeinigt, die über 17 Milliarden Dollar kosten könnten.
Abseits der milliardenschweren Kosten in den USA droht den Wolfsburgern auch in Europa weiter Ungemach. Angesichts der hohen Entschädigungszahlungen für Dieselbesitzer in den USA werden die Rufe der Verbraucherschützer nach Wiedergutmachung für europäische Kunden immer lauter. Hunderte Einzelklagen von Autobesitzern gegen VW oder Händler laufen allein in Deutschland - die Kläger könnten davon profitieren, dass die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet hat. Volkswagen stellt sich bei der Frage nach Entschädigungen nach wie vor quer und argumentiert, die Betrugssoftware sei in Europa nicht gesetzeswidrig.
Strafrechtlich ermittelt wird aber in Deutschland gegen VW-Angestellte und Manager, unter anderem wegen der Software-Manipulationen. Anklage wurde aber noch nicht erhoben. Weltweit sind rund elf Millionen Wagen von der „Dieselgate“-Affäre betroffen. Die Ermittler gehen daneben dem Verdacht nach, dass unter anderem Ex-Konzernchef Martin Winterkorn und der jetzige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch den Finanzmarkt zu spät über den aufgeflogenen Skandal ins Bild gesetzt haben.
„Ich habe keine Ahnung, durch welche tragischen Umstände er in das verwickelt sein könnte, was wir die „Dieselaffäre“ nennen. Aber ich bin von seinem herzensguten und zutiefst ehrlichen Charakter überzeugt“, schreibt einer seiner Mitstreiter von damals.
Für die US-Justiz gibt es hingegen keinen Zweifel, dass der Angeklagte bis zum Hals im Abgas-Sumpf steckt. Im Mai 2014 etwa habe er einen Mitarbeiter, der den Anfangsverdacht des US-Umweltamts EPA gegen VW thematisieren wollte, angeherrscht: „Bist Du verrückt? Zieh die E-Mail zurück.“ Den Gerichtsdokumenten nach soll der Manager später geraten haben, einen Angestellten von den US-Behörden fernzuhalten, damit er diesen gegenüber nicht „bewusst lügen“ müsse.
Wie steht man in Wolfsburg zum langjährigen Angestellten, der seine Hochzeit 2010 in einem VW-Showroom in Florida feierte? Kein Kommentar, sagt ein Sprecher. Dass sich der Konzern bedeckt hält, liegt auf der Hand. VW ist in dem Verfahren selbst noch nicht aus dem Schneider und hofft, dass der Richter einen Milliarden-Vergleich mit dem US-Justizministerium rasch genehmigt.
Damit könnten die strafrechtlichen Ermittlungen auf Unternehmensebene abgehakt werden. Was mit dem halben Dutzend bislang von der US-Justiz angeklagten Managern passiert, steht dann auf einem anderen Blatt.
Etwas auskunftsfreudiger zeigen sich Aufsichtsratskreise. Hier wird S. skeptisch gesehen. Die US-Behörden seien überhaupt erst durch die von VW in Auftrag gegebene Untersuchung der Kanzlei Jones Day auf den Mann gestoßen, heißt es. Bei den Räten gilt der Manager als suspekt, eine Schlüsselrolle im Skandal trauen ihm viele zu.
Rätselhaft bleibt indes, was S. zum Leichtsinn bewogen hat, trotz der Ermittlungen in die USA einzureisen. Die restlichen Angeklagten vermuten die Fahnder in Deutschland, von wo ihnen keine Auslieferung droht.