Der Volkswagen-Konzern steckt in der tiefsten Krise seiner Geschichte: Vor bald einem Jahr enthüllten die US-Umweltbehörden, dass VW-Ingenieure das Abgasverhalten von Dieselfahrzeugen mit technischen Tricks über Jahre hinweg manipuliert hatten. VW-Markenvorstand Herbert Diess war erst kurz zuvor zum Unternehmen gestoßen.
Er kämpft nun an zwei Fronten: Einerseits muss er „Dieselgate“ aufarbeiten und technische Lösungen entwickeln lassen, um Millionen Dieselautos in aller Welt wieder gesetzeskonform zu machen. Andererseits gilt es, Europas größten Autohersteller fit zu machen für das anbrechende Zeitalter der Elektromobilität. Eine Herkulesaufgabe.
Der Ort der Begegnung hat Symbolcharakter. Herbert Diess empfängt uns am ersten Arbeitstag nach seinem Urlaub nicht in seinem Büro in der 13. Etage des frisch renovierten Verwaltungshochhauses am Mittellandkanal, sondern bittet uns in Halle 90B: Der riesige Glaskasten auf einem extra abgesicherten Werksareal der Forschungs- und Entwicklungsabteilung in Wolfsburg ist das Herzstück des neuen Elektromobilitäts-Campus. „Hier ist noch viel Raum für die Zukunft“, scherzt der Chef der Marke VW, während er über die sogenannte Magistrale schlendert, die das Haus der ganzen Länge nach durchschneidet.
Auf sieben Etagen denken hier über 1200 Ingenieure nicht nur über neue Antriebs- und Fahrzeugkonzepte nach, über Technologien für das Auto von morgen. Um die Prototypen zu testen, müssen sie mit dem Fahrstuhl nur eine Etage nach unten fahren: Direkt unter dem Fußboden der Magistrale befindet sich ein 150 Meter langes Prüffeld, auf dem die „NUVs“, die geplanten elektrischen New Urban Vehicles von VW, Probe gefahren werden können, in Teilen oder vollständig, auf jeden Fall aber sicher vor neugierigen Blicken.
VW muss sein Kerngeschäft transformieren
Halle 90B steht für die Zukunft der Marke, für Innovation und Transparenz, kurz für „New Volkswagen“. Konzernchef Matthias Müller hat Mitte Juni bei der Vorstellung seines Zukunftsprogramms „Together – Strategie 2025“ skizziert, wohin die Reise geht. Um nachhaltiges, profitables Wachstum zu erzielen, muss zum einen das Kerngeschäft transformiert werden: Autos mit Verbrennungsmotor werden über kurz oder lang zum Auslaufmodell – gefahren wird in Zukunft elektrisch.
Zur Person: Herbert Diess
Herbert Diess wurde am 24. Oktober 1958 in München geboren. Trotz seines Geburtsortes ist Diess österreichischer Staatsbürger.
1977 begann Diess ein Studium der Fahrzeugtechnik an der Fachhochschule München. Nach nur einem Jahr wechselte er an die TU München und studierte fortan Maschinenbau. Nach dem Abschluss als Diplom-Ingenieur 1983 arbeitete er fünf Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU, 1987 promovierte er zum Dr. Ing. auf dem Gebiet der Fertigungstechnik.
1989 zog es Diess nach Stuttgart zur Robert Bosch GmbH, wo er an Planung eines neuen Werks arbeitete. Von 1990 bis 1993 leitete er Planung und Instandhaltung des Bosch-Werks Trento in Spanien, 1993 wurde er zum Technischen Geschäftsführer des Werks befördert. Diese Stelle hatte er bis 1996 inne.
1996 kam Diess zu BMW, zunächst als Leiter der Langfrist- und Strukturplanung. Über verschiedene Stationen (unter anderem die Leitung der Werke in Birmingham und Oxford und der BMW-Motorradsparte) wurde er 2007 in den Vorstand berufen. Dort war er bis 2012 für die Ressorts Einkauf und Lieferantennetzwerk verantwortlich, bevor er die Position des Entwicklungsvorstands übernahm. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Ausscheiden bei BMW im Dezember 2014 inne.
Im Dezember 2014 wurde bekannt, dass Diess nach Wolfsburg wechselt. Zum 1. Juli 2015 übernahm er als Mitglied des Vorstands die Führung der Marke VW. Im Juni 2016 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen Diess im Zuge des VW-Abgasskandals wegen des Verdachts der Marktmanipulation ermittelt.
Im Februar 2015 wurde Diess zum Mitglied des Aufsichtsrats bei Infineon bestellt.
Zudem soll ein neues Geschäftsfeld rund um neue Mobilitätslösungen aufgebaut werden – mit der Produktion und dem Verkauf von Autos allein ist es nicht mehr getan. Drittens muss die Innovationskraft gestärkt und viertens die Effizienz erhöht werden: „Die operative Ertragskraft des Konzerns“ so Müller damals, „ist hoch. Aber das reicht nicht, um alles sicher zu finanzieren.“
Vor allem die Kernmarke VW ist gefordert. VW Pkw produzierte im zurückliegenden Geschäftsjahr mit 114.000 Beschäftigten fast sechs Millionen Autos. Doch vom Umsatz in Höhe von 106 Milliarden blieb nach Abzug aller Kosten nur ein operativer Gewinn von etwas mehr als 2 Milliarden Euro übrig. In der ersten Hälfte des laufenden Jahres fiel der Gewinn noch spärlicher aus: Mit jedem verkauften Auto erlösten die Wolfsburger im Schnitt nur rund 400 Euro. „Wir sind so nicht zukunftsfähig“, lautet die bittere Bilanz von Diess nach einem Jahr in Wolfsburg.
Wie VW im ersten Halbjahr abgeschnitten hat
Bei der Marke Volkswagen Pkw ging das Operative Ergebnis vor Sondereinflüssen auf von 1,4 auf 0,9 Milliarden Euro zurück. Grund für diese Entwicklung waren Wechselkurs- und Mixeffekte sowie geringere Absatzmengen und höhere Vermarktungskosten infolge des Abgas-Skandals.
Audi erzielte ein operatives Ergebnis vor Sondereinflüssen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro (Vorjahreszeitraum: 2,9 Milliarden Euro). Währungseffekte und weiter hohe Vorleistungen für neue Produkte und Technologien sowie für den Ausbau des internationalen Produktionsnetzwerks belasteten das Ergebnis. In den Finanzkennzahlen von Audi sind die Marken Lamborghini und Ducati enthalten.
Das Operative Ergebnis von Škoda stieg von 522 auf 685 Millionen Euro, was einem Zuwachs von 31,2 Prozent entspricht. Der Anstieg war im Wesentlichen auf positive Volumen- und Mixeffekte sowie Produktkostenoptimierungen zurück.
Seat setzte ihre positive Entwicklung fort und steigerte das Operative Ergebnis um 40 Millionen auf 93 Millionen Euro. Dabei wurden negative Volumen- und Wechselkurseffekte durch Kostenreduzierungen und Mixverbesserungen kompensiert.
Das Operative Ergebnis der Marke Bentley ging um 75 Millionen auf minus 22 Millionen Euro zurück – vor allem wegen veränderter Marktbedingungen und Wechselkursverhältnisse.
Porsche verbesserte das Operative Ergebnis um 7,7 Prozent auf 1,8 Milliarden Euro. Gründe waren gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein Absatzanstieg sowie Wechselkurseffekte. Die Modelle Boxster, Cayman, 911 und Macan wurden verstärkt nachgefragt.
Das Operative Ergebnis von Volkswagen Nutzfahrzeuge lag im 1. Halbjahr mixbedingt mit 299 statt 268 Millionen Euro über dem Vorjahreswert.
Scania konnte die rückläufige Nachfrage in Südamerika, der Türkei und Russland durch steigende Verkaufszahlen in Europa kompensieren. Dadurch verbesserte sich das Operative Ergebnis vor Sondereinflüssen auf 550 (503) Millionen Euro.
MAN konnte trotz des anhaltend schwierigen wirtschaftlichen Umfelds in Südamerika das Operative Ergebnis vor Sondereinflüssen auf 186 (54) Millionen Euro verbessern. Dazu trugen auch die eingeleiteten strukturellen Veränderungen positiv bei.
Volkswagen Finanzdienstleistungen steigerte das Operative Ergebnis um 2,6 Prozent auf 995 Millionen Euro. Positiv wirkten Volumeneffekte: Weltweit nahm die Zahl der Neuverträge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 15,2 Prozent auf 3,3 Millionen Kontrakte zu.
Und dabei steht noch nicht einmal fest, wie hoch die Sonderbelastungen durch die sogenannte „Dieselthematik“ sein werden – für den Gesamtkonzern, vor allem aber für die Kernmarke. Jahreslang haben VW-Ingenieure mit Hilfe einer ausgeklügelten Software das Abgasverhalten von Dieselmotoren so manipuliert, dass diese die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte nur auf den Prüfständen einhielten. Allein der Rückruf aller Fahrzeuge und die Reparatur der Motoren wird Milliarden kosten. Von Strafen und Schadenersatzzahlungen ganz zu schweigen. Seriöse Schätzungen gehen inzwischen von einer finanziellen Gesamtbelastung infolge Dieselgate zwischen 25 und 35 Milliarden Euro aus.
Was Diess mit den E-Autos vor hat
Hinzu kommen Milliarden für die Entwicklung des neuen modularen Elektrobaukastens – die technische Basis für die geplante Modelloffensive von VW in der Elektromobilität. In den kommenden fünf Jahren wird das Unternehmen unter dem Slogan „Makes Life better“ eine ganze Familie von NUVs – „New Urban Vehicles“ – auf den Markt bringen.
Den Anfang macht ein Kompaktfahrzeug mit den Außenabmessungen eines VW Golf und dem Platzangebot eines VW-Passat – der seriennahe Prototyp wird Ende September auf dem Pariser Automobilsalon präsentiert und soll Ende 2018, Anfang 2019 in den Handel kommen. Diess verspricht eine Reichweite zwischen 400 und 600 Kilometern mit einer Akkuladung.
Diess fordert Bereitschaft zur Veränderung
Mit der gleichen Batterietechnik und auf der gleichen Plattform sollen wenig später auch ein City-SUV, ein Coupé, ein Kleinlieferwagen (die im Januar gezeigte Studie BUDD-e gab darauf einen Vorgeschmack) sowie eine Prestige-Limousine folgen – letztere als Nachfolger des VW Phaeton.
Diess hat Großes mit den Elektromobilen vor: „Bis 2025“ kündigt er im Interview an, „soll unsere Marke weltweit eine führende Rolle in der E-Mobilität einnehmen und jährlich eine Million Elektroautos bauen“ – in Deutschland, aber auch in China und wahrscheinlich auch in den USA, wo VW naturgemäß am stärksten unter dem Dieselskandal leidet. Diess: „Beschlossen ist noch nichts, aber das ist eine von vielen Optionen.“
Das alles kostet Geld, viel Geld. Und womöglich auch Arbeitsplätze: In Zukunft braucht VW andere Qualifikationen als heute, weniger Karosserie- und Motorenbauer, dafür Mechatroniker und Elektriker sowie IT-Fachkräfte. In den kommenden Wochen wird Diess deshalb hart mit dem Gesamtbetriebsrat um einen neuen „Zukunftspakt“ ringen. VW müsse sich jetzt schnell für die neue Zukunft aufstellen, mahnt der VW-Chef: „Dafür brauchen wir eine hohe Veränderungsbereitschaft.“
Was Herbert Diess über die Zukunft der Marke VW in den USA sagt oder wie er den Zustand des Unternehmens beurteilt, lesen Sie hier im umfassenden Interview.