Zukunft der Autoproduktion Wie die Autobauer am Ende des Fließbands arbeiten

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Die Autoindustrie ist vergleichsweise spät dran mit der flexiblen Zellfertigung

Auch im Auto-Bundesland Baden-Württemberg wird flexibel gefertigt. Audis Wettbewerber Daimler (Umsatz: 167,4 Milliarden Euro) und Porsche (Umsatz: 25,8 Milliarden Euro) sehen offenbar Vorteile jenseits des Förderbands. Seit September wird der Elektro-Porsche Taycan in der neuen Fabrik in Zuffenhausen mithilfe flexibler, fahrerloser Transportsysteme gebaut. Auch dort gibt es kein Förderband mehr, die Produktion geht auf selbstfahrende Fahrzeuge. Porsche-Vorstand Albrecht Reimold spricht von 30 Prozent Einsparung bei Investitionskosten. Und Daimler plant für seine neue „Factory 56“ in Sindelfingen (Grundsteinlegung: Frühjahr 2018) mit fahrerlosen Transportsystemen – allerdings zunächst nur „in ausgewählten Fertigungsbereichen“, etwa „zu Beginn des Inneneinbaus“, wie Daimler mitteilt.

50 Kilometer nordöstlich von Sindelfingen, in der Gemeinde Affalterbach, baut die Daimler-Unternehmung Mercedes-AMG bereits seit April nach diesem Prinzip. Die Firma wurde 1967 gegründet. Die Anfangsbuchstaben des Firmennamens stehen für die beiden Firmengründer Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher sowie – warum auch immer – für Großaspach, Aufrechts Geburtsort. Die Firma entwickelt Rennmotoren und baut auch teilweise selbst: veredelte Mercedes-Geschosse. Im Frühjahr startete in Affalterbach die Produktion des Vierzylindermotors M139 in einer „Kombination aus einer hoch flexiblen Linienmontage mit einem vorkonfigurierten Warenkorb und fahrerlosen Transportsystemen“, wie Daimler es formuliert. Autonom fahrende Montagewagen transportieren Werkzeuge zu den Arbeitskräften, von der Decke baumeln keine kabelgebundenen Werkzeuge mehr. Vor kurzem gewann die AMG-Motorenmanufaktur den Industriewettbewerb „Fabrik des Jahres“ 2019 von der Unternehmensberatung A.T. Kearney, der Fachzeitschrift „Produktion“ und SV Veranstaltungen.

SAP hilft bei der Umsetzung

Christoph Sieben von der Boston Consulting Group sieht durch die Praxisbeispiele seine Theorie bestätigt: Bislang wagen vor allem Hersteller hochpreisiger und damit individualisierter Autos den Teil-Umstieg auf eine flexible Zellenfertigung. Lamborghini lieferte 2018 bloß 2565 Exemplare des Urus aus. Audi baute von Januar bis November 2019 vom Sportwagen R8 rund 2000 Stück. Da wirkt die von Porsche anvisierte Zahl, 40.000 Stück des Elektroautos Taycans pro Jahr bauen zu wollen, schon vergleichsweise massig. „Die Grundvoraussetzung, um die flexible Zellenfertigung in einer Fabrik zu installieren, ist ein vernetztes Steuerungssystem“, sagt Sieben. Wenn das vorhanden sei, sei die Zellenfertigung nicht teurer als ein Fließband. „Aber die Folgekosten sind dafür weitaus geringer.“

Jörg Minge trägt seit drei Jahren den Titel Chief Operating Officer für die Entwicklungseinheit „Digital Manufacturing“ des Walldorfer Softwareentwicklers SAP (Umsatz: 24,7 Milliarden Euro). Minges Einheit ermöglicht den SAP-Kunden, Fertigungsprozesse zu modellieren und in eine Produktion einzubauen. Er sagt: „Das Thema digitale Fertigung hat in den vergangenen Jahren massiv an Dynamik gewonnen.“ Die meisten seiner Kunden, erzählt er, haben jedoch bereits Fertigungsanlagen, die sich nicht einfach über Nacht umstellen lassen auf flexible Zellenfertigung. Diese versuchen also zunächst nur einen Teil der Produktion entsprechend umzustellen. Die Beispiele, die Minge nennt, stammen jedoch längst nicht nur aus der Autoindustrie. Da ist zum Beispiel der Abfüllanlagenhersteller, der eine vom Kunden gewünschte Charge an besonders eingefärbten Flaschen produziert. Oder ein Reifenhersteller, der auf eine Charge seiner Reifen ein Logo oder einen Namen drucken möchte, auf die nächste Charge aber eben nicht. „Wir registrieren einen wachsenden Wunsch des Kunden nach Individualität. Hier bietet die digitale, flexible Fertigung große Potenziale, auch in der Prozessindustrie.“ 

Seit 100 Jahren gibt das Fließband in der Autoindustrie den Takt an. Aber der Ablauf ist mittlerweile zu starr. Selbstfahrende Autos und die Warteschlange an der Supermarkt-Kasse haben Audi auf eine neue Idee gebracht.

Durch E-Autos ein „extremer Anstieg an Komplexität“

Die Autoindustrie, sagt Minge, sei da vergleichsweise spät dran mit der flexiblen Zellenfertigung. Dieser Transformationsprozess sei „auch nicht uneingeschränkt empfehlenswert, weil es zum Beispiel betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Wir sehen hybride Modelle, wo Teile der Fertigung hoch flexibilisiert sind und andere nicht.“

Doch die Autoindustrie wird kaum an dieser Neuerung vorbeikommen, befindet Christoph Sieben von BCG. „Wir erleben nun eine relativ lange Phase, in der Elektroautos und Verbrenner parallel gebaut werden. Für Autobauer und Zulieferer bedeutet das einen extremen Anstieg an Komplexität. Die flexible Zellenfertigung ist ideal für diese Phase.“ Auch Audi scheint darin mehr Potenziale als Risiken zu erkennen. Manager Michael Korte sagt: „Für den Wandel hin zur Elektromobilität hilft das Prinzip der Modularen Montage, die zunehmende Komplexität in den Werken besser zu beherrschen auf jeden Fall.“ Die Ingolstädter sind auch Teil einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Verbandes der Automobilindustrie, die an einer herstellerübergreifenden Schnittstellen-Standardisierung für Fahrerlose Transportsysteme arbeiten. Ziel ist es, dass verschiedene Fahrzeuge, unabhängig von Typ, Fähigkeiten oder genutzter Technologie, in einem gemeinsamen System zusammenarbeiten können. Solche selbstfahrenden Transportsysteme bauen unter anderem SEW Eurodrive aus Bruchsal, die Bär Automation aus Gemmingen bei Heilbronn und Serva aus Rosenheim.

Bei der Produktion von Autos fällt Deutschland laut einer Studie zurück. Weniger als sechs Prozent der Neuwagen weltweit kommen demnach aus hiesigen Werken.

Auch chinesische Hersteller sind interessiert

Unter den Pionieren ist auch ein ehemaliger Audi-Mitarbeiter: Der Ingenieur Fabian Rusitschka gründete 2016 eine eigene Firma für modulare Produktion, genannt: Arculus. Die Firma baut sowohl Software als auch Robotik für die Modulare Montage. Für Audi-Manager Korte soll es nicht dabei bleiben, bloß einzelne Komponenten jenseits des Fließbands zu fertigen. Er sagt: „Eine Vision ist, eine komplette Fahrzeugfertigung nach dem Prinzip der Modularen Montage durchzuführen. Aber das ist ein sehr langfristiges Szenario.“

In diesem langfristigen Szenario sollte ein Akteur nicht fehlen: China. BCG-Experte Christoph Sieben registriert reges Interesse von chinesischen Großkonzernen bezüglich seiner Studie. Der Anspruch laute nicht selten: Wenn ein chinesischer Automobilkonzern heute eine neue Fabrik baue, müsse sie auch noch in fünf Jahren die modernste der Welt sein. Es handele sich dabei um neue Spieler auf dem Markt, meint Sieben, die neben Fahrzeugkonzepten auch die Produktion „neu denken“ wollen – und noch einmal ganz andere Ambitionen hegten.

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