Zukunft der Autoproduktion Wie die Autobauer am Ende des Fließbands arbeiten

Fahrerloses Transportsystem. Quelle: Audi

Das Fließband dominiert seit 100 Jahren die Autoproduktion: unflexibel und unzeitgemäß, kritisieren Experten. Audi, Porsche und Daimler setzen zunehmend auf modulare Fertigungen. E-Autos dürften die Entwicklung beschleunigen.

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Porsche-Produktionsvorstand Albrecht Reimold nennt es „Produktion 4.0“. Daimler schwärmt von der „Autofabrik der Zukunft“, der Daimler-Veredeler AMG von der „Vision der smarten Produktion“ mit „maximaler Flexibilität“. Lamborghinis Produktionschef Ranieri Niccoli rühmt die „innovativsten Produktionstechnologien“ im „neuen Fabrikmodell“, das „neue Maßstäbe bei der Herstellung“ setze. Und sein Audi-Kollege Michael Korte, Leiter der Technologieentwicklung, Produktion und Logistik, lobpreist die „hoch innovative Art der Fertigung“.

Was Auto-Manager in den vergangenen Monaten derart in Entzückung versetzte, ist das Ende der Förderbandproduktion im Automobilbau. Mehr und mehr Hersteller wagen die Umstellung auf eine flexible, vernetzte Produktion. Christoph Sieben von der Management- und Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) sagt: „Die flexible Zellenfertigung ist die größte Revolution in der Automobilfertigung – seit der Einführung des Fließbands 1913 durch Henry Ford.“

Heute sind Autos zunehmend Einzelprodukte

Christoph Sieben leitete die Studie „flexible cell manufacturing“, die BCG bereits im Herbst 2018 vorstellte. Im Kern geht es um die Frage, wie sich die Autoproduktion anpassen kann an die Veränderungen in der Branche und das veränderte Verhalten der Kunden. Das Fließband, sagt Sieben, sei perfekt für Autos, die alle mehr oder weniger gleich sind. Die sprichwörtlich gewordene Fließbandproduktion sieht die immer gleichen Abläufe in der immergleichen Reihenfolge vor für die immergleichen Produkte. Heute aber, sagt Sieben, seien Autos zunehmend Einzelprodukte: Autohersteller bieten inzwischen eine sehr hohe Varianz an Ausstattungs-, Antriebs- und Farbkombinationen an, welche die Kunden zunehmend in Anspruch nehmen. So gibt es etwa vom Audi A3 theoretisch 10 hoch 37 verschiedene Varianten.

Ab April soll das frühere BMW-Vorstandsmitglied Markus Duesmann Chef bei Audi werden. Duesmann gilt als Hoffnungsträger und war bei BMW geschätzt. Für die großen Aufgaben wird er schon seit einiger Zeit vorbereitet.
von Martin Seiwert

Viele Produktionsstätten könnten heute aufgrund der zunehmenden Produktkomplexität und der beschränkten Flexibilität des Fließbandes nicht mehr effizient betrieben werden, erklärt Christoph Sieben. Aufgrund der starren Strukturen können zahlreiche Mitarbeiter nicht mehr voll ausgelastet werden – auch wenn die Fließbandarbeit natürlich auch modernisiert und teilweise mit Robotern ausgestattet wurde. Wird an einem Fließband beispielsweise sowohl ein Modell mit Faltdach und eines ohne Faltdach gefertigt, haben die Fließband-Arbeiter, die für das Faltdach des Cabrios zuständig sind, theoretisch keine Aufgabe, wenn die faltdachlosen Karosserien am Fließband vorbeigefahren werden. Natürlich versuchen Autohersteller in solchen Fällen, jene kurzzeitig beschäftigungslosen Fließbandmitarbeiter für diese Phasen mit anderen Aufgaben zu betreuen – eine vollständige Kompensation ohne Zeit- und Effizienzverlust ist aber kaum möglich. Bei bis zu 160 verschiedenen Fließbandstationen eines gehobenen Mittelklassewagens leidet die Produktivität. „Die Idee hinter der Zellenfertigung“, verkündet Sieben: „Die Starre aufheben.“

Einzelne Arbeitsschritte auf Zellen verteilen

Wenn etwa ein neues Modell am selben Förderband gebaut werden soll, bedeutet das einen aufwändigen, teuren Eingriff in die bestehende Linie. Denn in ein Förderband lässt sich nicht einfach ein neuer Arbeitsschritt einfügen. In einer flexiblen Zellenfertigung hingegen könne man einfach eine neue Zelle einfügen, erklärt Sieben. Denn das ist die Idee: Die einzelnen Arbeitsschritte am Automobil werden in einzelne, flexible Zellen verlagert. Ein Fließband gibt es nicht mehr. Stattdessen steuern die Fahrzeugkarosserien mittels autonom fahrender Kleintransporter die einzelnen Montageinseln an – und zwar nur jene, deren Arbeitsschritte für die Modellvariante gerade benötigt wird. Um beim Beispiel des Faltdaches zu bleiben: Jene Karosserien, die ohne Faltdach auskommen, überspringen einfach die Zellen, an denen das Faltdach aufgesetzt wird, und fahren direkt zur nächsten Zelle weiter.

BCG hat eine Simulation aufgesetzt, um herauszufinden, wann sich die Umstellung vom Fließband zur flexiblen Zellenfertigung lohnt und wann nicht. Je komplexer und je höher die Varianz des Autos, desto eher lohnt sich die Umstellung. Bei sehr hoher Stückzahl und geringer Komplexität und Varianz lohnt sie sich meist nicht. Ein Ford Ka dürfte also auch in Zukunft am Fließband gebaut werden. Bei Daimlers S-Klasse oder dem 7er BMW hingegen, deren Käufer gesteigerten Wert legen auf Individualität, lohnt sich zumindest die Überlegung. „Jedes Produktumfeld sollte individuell überprüft werden“, sagt Sieben. Die Idee der flexiblen Zellenfertigung, sagt er, sei nicht ganz neu, „aber bislang hat sie noch niemand in der Automobilbranche konsequent, also allumfassend angewandt.“ Denn dafür sei ein umfassendes Steuerungssystem erforderlich, welches das Zusammenspiel von autonomen Transportern, Maschinen, Arbeitern und Karosserien regelt und stetig optimiert. Dieses Steuerungssystem zu entwickeln, sei sehr teuer; und es als erster zu erproben, stelle auch ein Risiko dar.

Und doch nutzen Autohersteller diese flexible Fertigung bereits – wenngleich auch noch nicht für eine komplette Fahrzeugreihe. Der Ingolstädter Autobauer Audi (Umsatz: 59,2 Milliarden Euro) gehörte zu den deutschen Pionieren. Bereits seit 2016 baut Audi in Neckarsulm seinen Sportwagen R8 nicht mehr auf dem Fließband, sondern mit der sogenannten Modularen Montage. Der Begriff meint dasselbe Prinzip wie die flexible Zellfertigung: Fahrerlose Transportsysteme steuern die Fahrzeuge selbständig von Station zu Station. Im September 2018 eröffnete Audi im ungarischen Györ seine Fertigung von Elektromotoren. Hier baut der Konzern zwei Motoren in drei Leistungsstufen für seinen Elektro-SUV E-Tron, ebenfalls nach dem Prinzip der Modularen Montage.

20 Prozent Produktivitätssteigerung

„Sinnvoll ist die Modulare Montage vor allem in hoch individualisierten Manufakturfertigungen“, sagt Audi-Technologieentwicklungsleiter Michael Korte. Die größte Chance in der Modularen Montage sei aber auch gleichzeitig die größte Herausforderung: „Die Komplexität einer hoch individualisierten und innovativen Fertigung zu beherrschen.“ Um das Einsparpotenzial zu benennen, hat Audi im Rahmen einer Promotionsarbeit an dem Beispiel der Hinterachsen-Vormontage die Potentiale bewerten lassen. Ergebnis: Durch den Einsatz der Modularen Montage sind mehr als 20 Prozent Produktivitätssteigerung möglich und mehr als zehn Prozent Flächeneinsparung. „Wir entwickeln das Gesamtkonzept weiter“, sagt Korte. „Zunächst versuchen wir, dieses Prinzip bei ausgewählten Vormontagen zu realisieren. Auf diesem Weg gibt es für uns noch viel zu lernen.“

Seit Ende 2017 partizipiert auch Audis italienischer Sportwagenbauer Lamborghini (Umsatz: 1,4 Milliarden Euro) an der neuen Fertigungstechnik: In der neu eröffneten Lamborghini-Fabrik in Sant'Agata Bolognese, nordwestlich von Bologna gelegen, wird seitdem der Lamborghini-SUV namens Urus mithilfe der fahrerlosen Transportsysteme gefertigt. Die kleinen Transporter bringen den Monteuren etwa selbständig die Reifen. Lamborghinis Produktionschef Ranieri Niccoli sagt: „Die wesentlichen Vorteile dieses Modells liegen in einer höheren Flexibilität der Produktion, in verbessertem Zugang zu Informationen und in der Vernetzung der Systeme.“

Die Autoindustrie ist vergleichsweise spät dran mit der flexiblen Zellfertigung

Auch im Auto-Bundesland Baden-Württemberg wird flexibel gefertigt. Audis Wettbewerber Daimler (Umsatz: 167,4 Milliarden Euro) und Porsche (Umsatz: 25,8 Milliarden Euro) sehen offenbar Vorteile jenseits des Förderbands. Seit September wird der Elektro-Porsche Taycan in der neuen Fabrik in Zuffenhausen mithilfe flexibler, fahrerloser Transportsysteme gebaut. Auch dort gibt es kein Förderband mehr, die Produktion geht auf selbstfahrende Fahrzeuge. Porsche-Vorstand Albrecht Reimold spricht von 30 Prozent Einsparung bei Investitionskosten. Und Daimler plant für seine neue „Factory 56“ in Sindelfingen (Grundsteinlegung: Frühjahr 2018) mit fahrerlosen Transportsystemen – allerdings zunächst nur „in ausgewählten Fertigungsbereichen“, etwa „zu Beginn des Inneneinbaus“, wie Daimler mitteilt.

50 Kilometer nordöstlich von Sindelfingen, in der Gemeinde Affalterbach, baut die Daimler-Unternehmung Mercedes-AMG bereits seit April nach diesem Prinzip. Die Firma wurde 1967 gegründet. Die Anfangsbuchstaben des Firmennamens stehen für die beiden Firmengründer Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher sowie – warum auch immer – für Großaspach, Aufrechts Geburtsort. Die Firma entwickelt Rennmotoren und baut auch teilweise selbst: veredelte Mercedes-Geschosse. Im Frühjahr startete in Affalterbach die Produktion des Vierzylindermotors M139 in einer „Kombination aus einer hoch flexiblen Linienmontage mit einem vorkonfigurierten Warenkorb und fahrerlosen Transportsystemen“, wie Daimler es formuliert. Autonom fahrende Montagewagen transportieren Werkzeuge zu den Arbeitskräften, von der Decke baumeln keine kabelgebundenen Werkzeuge mehr. Vor kurzem gewann die AMG-Motorenmanufaktur den Industriewettbewerb „Fabrik des Jahres“ 2019 von der Unternehmensberatung A.T. Kearney, der Fachzeitschrift „Produktion“ und SV Veranstaltungen.

SAP hilft bei der Umsetzung

Christoph Sieben von der Boston Consulting Group sieht durch die Praxisbeispiele seine Theorie bestätigt: Bislang wagen vor allem Hersteller hochpreisiger und damit individualisierter Autos den Teil-Umstieg auf eine flexible Zellenfertigung. Lamborghini lieferte 2018 bloß 2565 Exemplare des Urus aus. Audi baute von Januar bis November 2019 vom Sportwagen R8 rund 2000 Stück. Da wirkt die von Porsche anvisierte Zahl, 40.000 Stück des Elektroautos Taycans pro Jahr bauen zu wollen, schon vergleichsweise massig. „Die Grundvoraussetzung, um die flexible Zellenfertigung in einer Fabrik zu installieren, ist ein vernetztes Steuerungssystem“, sagt Sieben. Wenn das vorhanden sei, sei die Zellenfertigung nicht teurer als ein Fließband. „Aber die Folgekosten sind dafür weitaus geringer.“

Jörg Minge trägt seit drei Jahren den Titel Chief Operating Officer für die Entwicklungseinheit „Digital Manufacturing“ des Walldorfer Softwareentwicklers SAP (Umsatz: 24,7 Milliarden Euro). Minges Einheit ermöglicht den SAP-Kunden, Fertigungsprozesse zu modellieren und in eine Produktion einzubauen. Er sagt: „Das Thema digitale Fertigung hat in den vergangenen Jahren massiv an Dynamik gewonnen.“ Die meisten seiner Kunden, erzählt er, haben jedoch bereits Fertigungsanlagen, die sich nicht einfach über Nacht umstellen lassen auf flexible Zellenfertigung. Diese versuchen also zunächst nur einen Teil der Produktion entsprechend umzustellen. Die Beispiele, die Minge nennt, stammen jedoch längst nicht nur aus der Autoindustrie. Da ist zum Beispiel der Abfüllanlagenhersteller, der eine vom Kunden gewünschte Charge an besonders eingefärbten Flaschen produziert. Oder ein Reifenhersteller, der auf eine Charge seiner Reifen ein Logo oder einen Namen drucken möchte, auf die nächste Charge aber eben nicht. „Wir registrieren einen wachsenden Wunsch des Kunden nach Individualität. Hier bietet die digitale, flexible Fertigung große Potenziale, auch in der Prozessindustrie.“ 

Seit 100 Jahren gibt das Fließband in der Autoindustrie den Takt an. Aber der Ablauf ist mittlerweile zu starr. Selbstfahrende Autos und die Warteschlange an der Supermarkt-Kasse haben Audi auf eine neue Idee gebracht.

Durch E-Autos ein „extremer Anstieg an Komplexität“

Die Autoindustrie, sagt Minge, sei da vergleichsweise spät dran mit der flexiblen Zellenfertigung. Dieser Transformationsprozess sei „auch nicht uneingeschränkt empfehlenswert, weil es zum Beispiel betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Wir sehen hybride Modelle, wo Teile der Fertigung hoch flexibilisiert sind und andere nicht.“

Doch die Autoindustrie wird kaum an dieser Neuerung vorbeikommen, befindet Christoph Sieben von BCG. „Wir erleben nun eine relativ lange Phase, in der Elektroautos und Verbrenner parallel gebaut werden. Für Autobauer und Zulieferer bedeutet das einen extremen Anstieg an Komplexität. Die flexible Zellenfertigung ist ideal für diese Phase.“ Auch Audi scheint darin mehr Potenziale als Risiken zu erkennen. Manager Michael Korte sagt: „Für den Wandel hin zur Elektromobilität hilft das Prinzip der Modularen Montage, die zunehmende Komplexität in den Werken besser zu beherrschen auf jeden Fall.“ Die Ingolstädter sind auch Teil einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Verbandes der Automobilindustrie, die an einer herstellerübergreifenden Schnittstellen-Standardisierung für Fahrerlose Transportsysteme arbeiten. Ziel ist es, dass verschiedene Fahrzeuge, unabhängig von Typ, Fähigkeiten oder genutzter Technologie, in einem gemeinsamen System zusammenarbeiten können. Solche selbstfahrenden Transportsysteme bauen unter anderem SEW Eurodrive aus Bruchsal, die Bär Automation aus Gemmingen bei Heilbronn und Serva aus Rosenheim.

Bei der Produktion von Autos fällt Deutschland laut einer Studie zurück. Weniger als sechs Prozent der Neuwagen weltweit kommen demnach aus hiesigen Werken.

Auch chinesische Hersteller sind interessiert

Unter den Pionieren ist auch ein ehemaliger Audi-Mitarbeiter: Der Ingenieur Fabian Rusitschka gründete 2016 eine eigene Firma für modulare Produktion, genannt: Arculus. Die Firma baut sowohl Software als auch Robotik für die Modulare Montage. Für Audi-Manager Korte soll es nicht dabei bleiben, bloß einzelne Komponenten jenseits des Fließbands zu fertigen. Er sagt: „Eine Vision ist, eine komplette Fahrzeugfertigung nach dem Prinzip der Modularen Montage durchzuführen. Aber das ist ein sehr langfristiges Szenario.“

In diesem langfristigen Szenario sollte ein Akteur nicht fehlen: China. BCG-Experte Christoph Sieben registriert reges Interesse von chinesischen Großkonzernen bezüglich seiner Studie. Der Anspruch laute nicht selten: Wenn ein chinesischer Automobilkonzern heute eine neue Fabrik baue, müsse sie auch noch in fünf Jahren die modernste der Welt sein. Es handele sich dabei um neue Spieler auf dem Markt, meint Sieben, die neben Fahrzeugkonzepten auch die Produktion „neu denken“ wollen – und noch einmal ganz andere Ambitionen hegten.

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