Am 15. September 2008 musste die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz beantragen. Hier schildern Redakteure und Korrespondentinnen der WirtschaftsWoche, wie sie die heißeste Phase der Finanzkrise erlebten – und was sie daraus lernten.
Hauke Reimer - Stellvertretender Chefredakteur
Es ist der vorerst letzte große Auftritt eines „Master of the Universe“, eines Börsenhelden jener Art, wie sie US-Autor Tom Wolfe in seinem „Fegefeuer der Eitelkeiten“ genial beschrieben hat. Klar, es ist Main-, nicht Manhattan, aber auch hier gibt es hell beleuchtete Straßenschluchten. Der einstige Chefhändler einer Frankfurter Bank, der jetzt seinen eigenen Hedgefonds steuert, hat mich mit seinem neuen Wagen am Büro abgeholt. Ein silberner Aston Martin DBS, so wie ihn Daniel Craig im Bond-Film „Casino Royale“ gefahren hat. Auf der Mainzer Landstraße, die Bankentürme im Blick, beschleunigte er. Nicht auf 100 – der DBS schafft das in vier Sekunden – aber doch so, dass wir kampfjetmäßig in die Sitze gedrückt werden. Das Auto sei echt nicht teuer, sagt er, eher günstig, „die Leasingrate ist kaum höher als beim Porsche 911“.
Vor der Freitreppe einer Sandstein-Villa aus dem 19. Jahrhundert bremst er, wirft den Schlüssel einem Türsteher zu, der ihn einparken soll. Die „Kameha Suite“ liegt praktisch im Schatten der Deutsche-Bank-Türme, bis vor kurzem hat hier noch der Allianz-Vorstand residierte. Nebenan wird gebaut. In den Opernturm, damals der fünfthöchste Bürobau Deutschlands, soll demnächst die UBS einziehen. Ich denke an eine Grafik, die wir schon mehrfach gedruckt haben: Wolkenkratzer als Crash-Indikatoren. Rekordhohe Gebäude werden in Phasen wirtschaftlichen Übermuts geplant. Sind sie fertig, kracht es.
Oben in der Bar viele Banker, Analysten, Händler, Berater. Die meisten haben ihr Krawatten gelockert, die Hemdsärmel hochgekrempelt, wir trinken Beck´s aus grünen 0,3-Liter Flaschen. Locker-entspannt ist hier sonst gar nichts. Auf den Bildschirmen läuft CNBC und ntv ohne Ton, viele rote Zahlen in den Laufbändern am unteren Bildschirmrand. Ernste Gesichter, einige telefonieren, das iPhone 3 ist gerade neu auf dem Markt, die hier haben es schon, klar.
Lehman Brothers, eine der großen unter den von allen hier bewunderten US-Investmentbanken, ist pleite, der US-Finanzkapitalismus, der auch diese Frauen und Männer in Frankfurt so entscheidend geprägt hat, scheint am Ende, bis die Realwirtschaft mit nach unten gerissen wird, nur eine Frage der Zeit. „Finanzkrise: Jetzt geht´s erst richtig los“, hatte ich neun Monate zuvor geschrieben, und: „Die durch den strauchelnden US-Immobilienmarkt ausgelöste Finanzkrise ist noch längst nicht gegessen, im Gegenteil. Sie droht weitere Bereiche des Finanzsystems zu erfassen. Ein Dominostein nach dem anderen kann kippen, von platzenden US-Hypotheken gehen Bedrohungen in alle Richtungen aus.“
Jetzt war ein mächtiger Dominostein gekippt, und ein noch mächtigerer, der Versicherungsriese AIG, wackelte.
Die Banker hier in der Kameha Bar sind doppelt gekniffen: Ihre Institute und ihre Kunden verlieren Milliarden, so dass sie sich ihren Bonus abschminken können, und privat haben auch die meisten investiert, hier verlieren sie ebenfalls. Und die Bilder der gefeuerten Lehman-Banker, die ihre Kartons aus der Bank tragen, machen auch nicht fröhlich. Einen Jahrhundertcrash, haben viele hier schon mal mitgemacht, den vom März 2000. Dass Aktien stark fallen können, wussten sie, dann kauften sie eben Anleihen oder hielten Cash.
Aber dieses mal ist es anders. Aktien, Anleihen, Rohstoffe, selbst Gold: Alles fällt, alles wird zu Geld gemacht. Und selbst Kasse halten scheint nicht mehr sicher. Wo soll das Geld denn hin – das Risiko, es bei einer Bank zu parken, die noch unentdeckte Bomben in den Bilanzen hatte und pleite gehen würde, ist nur allzu real.
„Wie sicher ist der Einlagensicherungsfonds?“ habe ich in dieser Woche in der WirtschaftsWoche gefragt. Die Antwort war einfach: „Den Ausfall einer großen Bank würde der Fonds niemals überstehen. Dann müsste – wie in Großbritannien bei Northern Rock geschehen – der Staat einspringen, will heißen: der Steuerzahler, also wir alle.“
Zwei Wochen später muss der Staat die Hypo Real Estate retten. Ansonsten wäre der Geschäftsverkehr der Banken untereinander zusammengebrochen, sagt der damalige Bundesbankpräsident und heutige UBS-Verwaltungsratschef Axel Weber. Dreieinhalb Monate später ist dann die Commerzbank an der Reihe.
Der Dax, vor Lehman noch satt über 6000 Punkten, rutscht im März 2009 unter 4000. Wenig später geht auch der Aston Martin zurück zum Händler. Jetzt, zehn Jahre später, hat sich der Ex-Banker einen 911er bestellt. Und Aston Martin soll in London an die Börse.
Zehn Jahre Finanzkrise
Der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers gilt als Höhepunkt der Finanzkrise und jährt sich am 15. September zum zehnten Mal. Er hatte 2008 ein Beben in der Finanzwirtschaft ausgelöst, dessen Wellen sich mit rasender Geschwindigkeit rund um den Globus innerhalb der Branche ausbreiteten und zu einem weltweiten Konjunktureinbruch fast beispiellosen Ausmaßes führten. Staatsfinanzen zahlreicher Länder gerieten in Turbulenzen, der Euro und die europäische Währungsunion erlebten in der Folge in eine tiefgreifende Vertrauenskrise. Eine Chronik über die wichtigsten Ereignisse in den vergangenen zehn Jahren.
Quelle: Reuters
Die US-Investmentbank Lehman Brothers muss Insolvenzantrag stellen. Es kommt zu heftigen Turbulenzen an den Börsen, das Misstrauen steigt und breitet sich rasant über den Globus aus. Der Welthandel bricht ein, und in vielen Ländern stürzt die Wirtschaft in eine tiefe Rezession.
Die US-Regierung muss den weltgrößten Versicherer AIG mit Staatshilfen über 85 Milliarden Dollar vor der Pleite bewahren.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück garantieren vor laufenden Kameras die Sicherheit der Einlagen der deutschen Sparer bei den heimischen Kreditinstituten. Vorausgegangen war ein starker Anstieg der Abhebungen von 500-Euro-Scheinen in Deutschland - ein deutliches Zeichen des Vertrauensverlustes in das Finanzsystem.
Die wichtigsten Notenbanken der Welt, darunter die Europäische Zentralbank (EZB) und die Federal Reserve, senken in einer konzertierten Aktion ihre Leitzinsen - ein historischer und noch nie dagewesener Schritt.
Als Reaktion auf die rasch um sich greifende Finanzkrise trifft sich erstmals die G20-Gruppe aus Staats- und Regierungschefs der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer in Washington. Verabschiedet wird ein umfangreiches Aufgabenpaket, mit dem man einen Absturz der Weltwirtschaft verhindern und das globale Finanzsystem stabilisieren will. Die G20 gilt fortan als das zentrale Koordinationsforum der weltweiten Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Die Commerzbank rettet sich schwer angeschlagen in die Hände des Staates, der 25 Prozent plus eine Aktie an der damals zweitgrößten deutschen Bank übernimmt. Der Bund ist bis heute an der Commerzbank beteiligt.
Als wegen der Schuldenkrise in Griechenland und anderen Euro-Ländern die Refinanzierungskosten für Frankreich kräftig steigen, ist die Krise endgültig im Zentrum der Währungsunion angekommen. Um die Lage zu stabilisieren, beginnt die EZB erstmals mit dem Kauf von Staatsanleihen einzelner Länder - ein vor allem in Deutschland als verbotene Staatsfinanzierung durch die Notenbank heftig kritisierter Schritt.
Die EZB startet den Aufkauf von Staatsanleihen Italiens und Spaniens. Beide Länder waren an den Finanzmärkten ins Visier von Spekulanten geraten.
Der deutsche EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark tritt aus Protest gegen die Geldpolitik der Notenbank zurück - der Euro stürzt darauf am Devisenmarkt ab.
Nach einer kurzen Beruhigungsphase nehmen die Turbulenzen an den Märkten im Frühsommer 2012 wieder zu. Der neue EZB-Präsident Mario Draghi erklärt in London in einer mittlerweile berühmt gewordenen Rede, die Zentralbank werde "alles tun, was nötig ist, um den Euro zu retten". Dieses Versprechen gilt bis heute vielen Experten als Wendepunkt der Krise. Seitdem haben die Schwankungen an den Finanzmärkten deutlich abgenommen und viele Länder können sich wieder günstiger verschulden.
Der EZB-Rat beschließt gegen den Widerstand der Bundesbank neue umfangreiche Staatsanleihekäufe, mit denen die Zukunft des Euro in der Schuldenkrise abgesichert werden sollen. Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof gehen das sogenannte OMT-Programm bleiben erfolglos. Tatsächlich bleibt der Praxistest aus: OMT wurde von der EZB bis heute nicht eingesetzt, und sie hat keine Staatsanleihe über dieses Programm erworben.
Die EZB beschließt Strafzinsen für Banken, die bei ihr Geld parken, statt es als Kredit an Unternehmen und Haushalte weiterzugeben. Der Strafzins gilt bis heute - die Kreditvergabe der Institute hat zugenommen.
Die EZB übernimmt die direkte Aufsicht über die damals 125 größten Banken in der Euro-Zone von den nationalen Behörden. Diese bleiben für die Kontrolle der kleineren Banken in ihren Ländern verantwortlich. Vorher hatte die EZB die großen Banken in einem beispiellosen Test erstmals auf Herz und Nieren geprüft, um Altlasten in den Bilanzen aufzuspüren und Probleme aufzudecken.
Mit dem neuen Jahr nimmt eine neue EU-Behörde für die Sanierung und geordnete Abwicklung von maroden Banken ihre Arbeit auf: der Single Resolution Mechanism (einheitlicher Abwicklungsmechanismus).
Um die schwache Teuerung und damit indirekt die maue Konjunktur in der Währungsunion anzuheizen, beschließt die EZB den Aufkauf von Staatsanleihen für monatlich 60 Milliarden Euro. Das Programm wurde danach noch mehrmals verändert.
Nach drei Wochen Schließung öffnen die griechischen Banken wieder. Zuvor war es wegen der drohenden Pleite des überschuldeten Landes zu massenhaften Abhebungen an den Geldautomaten und Kapitalverkehrskontrollen gekommen.
Die US-Notenbank Fed wagt nach Jahren der Minizinsen die Wende und erhöht erstmals wieder ihre Leitzinsen. Sie hebt ihren Schlüsselsatz um 0,25 Prozentpunkte auf die Spanne von 0,25 bis 0,5 Prozent an. Seitdem fährt sie einen Kurs der behutsamen Zinserhöhungen. Aktuell liegt der Schlüsselsatz in der Spanne von 1,75 bis 2,00 Prozent.
Die größten Banken der USA bestehen erstmals seit der Krise alle einen Stresstest der Zentralbank - damit scheint die Krise nach zehn Jahren wenigstens in den USA überstanden zu sein.
Die EZB stellt das Ende ihrer jahrelangen Krisenpolitik in Aussicht. Sie kündigt an, ihre Anleihenkäufe bis Ende 2018 einzustellen, sollte die Wirtschaft weiter mitspielen. Dann werden sie ein Gesamtvolumen von 2,6 Billionen Euro erreicht haben. Zudem erklärt sie, dass ihre Zinsen noch bis mindestens "über den Sommer" 2019 nicht angetastet werden. Der Leitsatz zur Versorgung der Geschäftsbanken mit Geld liegt seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent.
Die Deutsche Bank ist noch nicht über den Berg. Beim zweiten Teil des US-Stresstests der großen Geldhäuser fällt sie als einziges Institut durch. Die erste Runde der Belastungsprobe hatte die Bank noch bestanden.
Das dritte Rettungspaket für Griechenland läuft aus. Künftig will sich die Regierung in Athen wieder auf eigenen Beinen stehen und sich selbstständig Geld am Finanzmarkt leihen. Insgesamt hat der schuldengeplagte Ägäis-Staat laut dem Euro-Rettungsschirm ESM 288,7 Milliarden Euro an Krediten erhalten.
Mark Fehr - Korrespondent in Frankfurt
München, Käfer-Schänke, Oktober 2008: Mietwagen-König Erich Sixt und Sohn Konstantin stellen bei Häppchen und Sekt das neueste Pflänzchen der Internet-Tochter des Familienunternehmens vor. Stockflock hieß es, und sollte eine Art Facebook für Privatanleger werden. Das fröhliche Start-up-Event jedoch steht ganz im Schatten der Finanzkrise. Zwei Wochen zuvor musste Kanzlerin Angela Merkel beteuern, dass die Spareinlagen der Bürger sicher seien und Rettungsmilliarden für schwankende Banken bereitstellen.
Äußerlich unbeeindruckt nutzt Sixt Senior die Gunst der Stunde, sein Unternehmen als Krisengewinner in Szene zu setzen, weil jetzt alle Geschäftskunden sparen müssten und nur noch die ach so billigen Sixt-Autos leihen. Zudem teilt der damals noch zarte 64 Jahre alte Sixt-Chef gegen die Banken aus: „Jetzt beginnt der Eiertanz, wer sich als erster aus der Deckung wagt und Hilfe in Anspruch nimmt“, prophezeite er – und behielt recht. Auch Geldhäuser, die sich wie die Deutsche Bank rühmten, keine direkten Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen, profitierten von der Rettung der schwächsten Mitglieder ihrer Branche, wie der immer noch teilverstaatlichten Commerzbank oder der aus Steuerzahlerkosten abgewickelte Hypo Real Estate.
Mittelständler haben keine Ahnung von Politik und Finanzwelt? Sixts Weitblick hat gezeigt, dass das ein Klischee ist. Und wie zur historischen Bestätigung der Sixt-These stellt der ehemalige Deutsche-Bank-Co-Chef Jürgen Fitschen zehn Jahre später fest, dass sein Institut lieber Staatshilfe hätte nehmen sollen. „Es wären Vorteile damit verbunden gewesen.
Sixts These zur Bankenrettung ist bei den anwesenden Medien jedenfalls hängen geblieben, ganz anders übrigens als das, was an diesem Tag ein gar nicht so unprominenter Vertreter der Politik und Bankenbranche zu sagen hatte, der auch zum Stockflock-Start ins Käfer geladen war. Es handelte sich um einen gewissen Georg Fahrenschon, damals noch recht unauffälliger Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium, später Finanzminister im Freistaat und von 2011 bis 2017 sogar Präsident des mächtigen Sparkassenverbands. Die Welt ist klein.
Dass aus Stockflock nichts wurde, ist da nur eine historische Fußnote.