Europäische Zentralbank EZB bleibt „bereit, willig und fähig“

EZB-Chef Draghi will sich nach dem Brexit noch nicht auf weitere Geldspritzen festlegen. Sorgen bereiten den Notenbankern Europas Banken, Draghi bringt sogar eine öffentliche Absicherung der notleidenden Kredite ins Spiel.

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Mario Draghi, Präsident der EZB, auf der Pressekonferenz in Frankfurt am Main (21.07.2016). Quelle: AP

Erstmals nach dem Brexit-Referendum musste Mario Draghi am Donnerstag Position beziehen. Im Vorfeld des Zinsentscheids war spekuliert worden, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) könnte den Knall aus Großbritannien zum Anlass nehmen, erneut an der Zinsschraube zu drehen. Der Blick auf den Dax zeigt, dass das wohl eine Fehlspekulation war.

Der Leitindex pendelte um die Marke von 10.150 Punkten und auch Mario Draghi, der die Sprache der Märkte nahezu perfekt spricht, konnte dem Index kaum Phantasie einhauchen. Das ist, nach einem derart einschneidenden Ereignis wie dem Referendum, zumindest eine kleine Überraschung.

Die EZB beließ den Leitzins auf seinem Rekordtief von null Prozent. Der Einlagezins, den Banken zahlen, wenn sie kurzfristig Geld bei der EZB parken, bleibt bei minus 0,4 Prozent. Auch an den Details ihres monatlich 80 Milliarden Euro schweren Anleihekaufprogramms schraubten die Währungshüter nicht. „Wir waren etwas über die relativ positive Einschätzung der gegenwärtigen Ereignisse und deren Auswirkung auf die Inflation und Inflationserwartungen überrascht“, sagt Tim Graf, Europa-Chefstratege bei State Street Global Markets im Hinblick auf Draghis zurückhaltende Äußerungen in punkto Brexit.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

„Die Finanzmärkte der Euro-Zone haben diese Spitze der Unsicherheit und Volatilität abgewettert“, lobte Draghi die Widerstandsfähigkeit der Märkte. Der Italiener räumte zwar ein, dass die Phase der Unsicherheit bleiben werde und der Brexit auch das Wachstum der Euro-Zone beeinflusse – der EZB-Chef hatte diesen Einfluss in einer früheren Rede mit 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte innerhalb der nächsten drei Jahre beziffert.

Einen großen Einfluss auf die Inflationsraten der Euro-Zone wollte Draghi dem Brexit aber nicht zuschreiben. Die EZB versucht weiterhin, ihr Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent zu erreichen.

Deutlich problematischer bewertet die EZB die Situation der europäischen Banken. Auch das lässt sich leicht an Börsenkursen erkennen. Auf die Situation der Banken und deren notleidenden Krediten angesprochen, erklärte Draghi, eine staatliche Kreditlinie zur Absicherung notleidender Kredite von Banken sei unter Umständen „möglich“ und könnte helfen, wenn andere Lösungen scheitern. Bankaktien in Europa gehörten seit dem zu den großen Gewinnern.

Banken als Problemfall

Bankaktien in Europa gehörten seit dem zu den großen Gewinnern. Klar, dass die notleidenden Kredite, die sich vor allem in den Bilanzen der italienischen Banken tummeln, den Zentralbankern nicht in den Kram passen. „Das macht Banken angreifbar“, sagte Draghi.

Zudem sorgen die faulen Kredite dafür, dass die Geldpolitik nicht so gut wirkt, wie sie möglicherweise wirken könnte. „Banken sind für die Euro-Zone sehr wichtig“, räumt Draghi ein und betont, wie wichtig der Kreditkanal für die Wirkung seiner Geldpolitik sei.

Denn: Je mehr faule Kredite Banken in ihren Büchern haben, desto weniger Darlehen vergeben die Institute in der Regel. Mehr vergebene Kredite ist allerdings genau das, was die EZB mit ihrer ultra-expansiven Geldpolitik erreichen will. Deswegen, so Draghi, seien der Notenbank auch die fallenden Preise der Bankaktien bei weitem nicht egal, vor allem die schwache Profitabilität bereite Sorge.

Auf noch härtere Kritik an den Instituten wollte sich Draghi aber nicht festlegen und verwies statt dessen auf den nächsten Stresstest von EZB und Europas Bankenaufsicht EBA, dessen Ergebnisse am kommenden Freitagabend veröffentlicht werden.

Keine Änderungen bei Anleihekäufen

Viele Beobachter hatten erwartet, die EZB könnte an den Details des Anleihekaufprogramms schrauben, um den Horizont der kaufbaren Anleihen zu erweitern. Immer mehr Anleihen rentieren im negativen Bereich unter dem Einlagezins und sind deshalb für die EZB nicht mehr kaufbar.

Diese Unternehmen spüren schon den Brexit
Vodafone Quelle: REUTERS
Ryanair Quelle: dpa
Easyjet Quelle: REUTERS
IAG Quelle: REUTERS
Virgin Quelle: dpa
Airbus Quelle: dpa
Siemens Quelle: REUTERS

Spekuliert worden war unter anderem, ob die Notenbanker Anleihen nicht mehr wie bisher nach dem Kapitalschlüssel kaufen könnten oder ob das Anleihekaufprogramm, welches bisher bis März 2017 läuft, bereits verlängert wird. Laut Draghi seien derartige Ideen aber nicht im EZB-Rat diskutiert worden. Statt dessen verwies der Italiener auf den nächsten Zinsentscheid im September. „Wir sind bereit, gewillt und fähig, zu handeln“, betonte der EZB-Chef. In den nächsten Monaten habe die EZB mehr Informationen und Daten zur Verfügung, um über die weitere Geldpolitik zu entscheiden. Im September stehen der EZB auch neue Inflations- und Wachstumsprognosen zur Verfügung – sollten diese schwächer ausfallen, dürfte die Notenbank nicht vor weiteren Geldspritzen zurückschrecken.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die EZB sich mit einem Paukenschlag aus der Sommerpause zurückmeldet.

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