Wie erklären Sie, dass die Franzosen sich nicht ähnlich über die EZB aufregen wie viele Deutsche?
Möglicherweise ist das Geschichtsbewusstsein ein anderes. Im Bewusstsein der Deutschen sind die Zeiten der Hyperinflation noch sehr präsent. In anderen Ländern hingegen, den USA, aber auch in einigen Ländern der EU, ist die Deflationserfahrung mit ihren schweren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft durch die Massenarbeitslosigkeit noch nah. Es ist legitim, über die Geldpolitik zu diskutieren. Was nicht geht, ist die Unabhängigkeit der EZB in Frage zu stellen. Für Deutschland und Europa gilt, dass eine Deflation die Wirtschaft und die Bürger bedroht. Es wäre schlimm, wenn wir sie davor nicht schützen würden. Im Übrigen ist Deutschland nicht nur ein Land der Sparer, sondern auch der Unternehmer, Immobilienkäufer und Konsumenten. Wir müssen alle schützen, nicht nur eine Kategorie.
Nach Staatsanleihen kauft die EZB nun auch Unternehmensanleihen. Da sind überraschend viele bonitätsschwächere Schuldtitel dabei. Kann das nicht großes Risiko für den Steuerzahler werden?
Vorsicht, diese Rechnung bezieht sich auf die Zahl der zugelassenen Titel, nicht auf das Volumen. Über die Volumen mache ich keine Angaben. Wir haben uns die Regel auferlegt, nur Titel mit Investment Grade zu kaufen, also solche mit einer entsprechenden Sicherheit. Die Diversifizierung der Titel ist der beste Schutz.
Es sind auch Anleihen von Telecom Italia, K+S oder RWE dabei. Die haben nicht unbedingt das beste Rating.
Keine verstößt gegen die Regeln, die ich erwähnt habe. Auch hier behalten wir unser Ziel im Auge: Wir wollen die Realwirtschaft, die Unternehmen und ihre Investitionen vor der Volatilität der Finanzmärkte schützen.
Anleihen sind charakteristisch für Großunternehmen. Der Mittelstand und Startups gehen leer aus. Letzteres ist gerade für Frankreich ein Problem, das viele Startups an die USA verliert.
Deshalb ist TLTRO II so wichtig. Kleine und mittlere Betriebe finanzieren sich über Banken. Das Problem der Startups liegt eher am Mangel an Eigenmitteln. Dafür ist die EZB nicht zuständig. Es gibt auf europäischer Ebene ein wichtiges Projekt zur Stimulierung von Investitionen in Risikokapital: das der Kapitalmarktunion. Ich habe zusammen mit Jens Weidmann vorgeschlagen, ein grenzüberschreitendes Equity Financing zu entwickeln. Dieser Vorschlag bleibt aktuell. Nach dem Brexit noch mehr.
Sehen Sie kein Risiko, dass Unternehmen das billige Geld der EZB für Aktienrückkäufe oder hohe Boni verwenden?
Diese Debatte wird in den USA geführt. Ich halte das Risiko in Europa für geringer. Es kann nicht Aufgabe der EZB sein, die Strategie einzelner Unternehmen zu überprüfen. Das wäre eine zu interventionistische Politik.
Frankreichs Wirtschaftsminister Emmanuel Macron fordert ein gemeinsames Budget für den Euro-Raum. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin nicht an politische Funktionsträger gebunden und stelle die Dinge etwas anders dar. Vor 25 Jahren haben wir von einer Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen. Die Währungsunion haben erreicht, und sie ist ein Erfolg. Man kann über die Geldpolitik streiten, aber niemand stellt in Abrede, dass der Euro von zwei Dritteln der EU-Bürger gut geheißen wird, dass die EZB eine international anerkannte Institution ist. Ich komme gerade vom G20-Treffen in Chengdu, und ich kann Ihnen sagen: Wenn die EZB spricht, hören alle zu. Wir haben die Bankenunion beschlossen, was gut ist. Wenn wir die Probleme der EU lösen wollen, müssen wir den Weg zu einer Wirtschaftsunion zu Ende gehen. Die Geldpolitik ist richtig, aber sie kann nicht alles lösen. Deshalb habe ich einen eigenen Finanzminister für die Euro-Zone vorgeschlagen.
Was soll der ausrichten?
Priorität hat meinem Vorschlag zu Folge nicht ein gemeinsames Budget der Euro-Länder. Das kann zu einem späteren Zeitpunkt kommen. Der Finanzminister an der Spitze der Euro-Gruppe sollte mit den Ministern der Mitgliedsländer eine gemeinsame wirtschafts- und finanzpolitische Strategie ausarbeiten. Daran mangelt es uns heute, um mehr Wachstum und Arbeitsplätze in Europa zu schaffen.