Geldtransfer Deutsche Auswanderer überweisen Milliarden in die Heimat

17,4 Milliarden US-Dollar überwiesen deutsche Auswanderer laut Weltbank im vorigen Jahr in ihre Heimat.

In Deutschland lebende Migranten helfen ihren Familien mit Geldtransfers in Milliardenhöhe. Umgekehrt überwiesen aber auch deutsche Auswanderer 2018 eine Rekordsumme in ihre Heimat. Doch sie machen das aus ganz anderen Gründen.

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Seit dem 4. Februar steht Martin Webers Leben kopf. Wie Hunderte Kollegen verlor Weber, der eigentlich anders heißt, an jenem Montag seinen Job. Sein Arbeitgeber, die Fluggesellschaft Germania, meldete Insolvenz an. Nun hat der Pilot bei der türkischen Airline Pegasus angeheuert. Künftig wird Weber im Zwei-Wochen-Rhythmus in die Türkei pendeln, in Lira entlohnt – und damit zum Fall für Rainer Elsmann.

Elsmann leitet den Vertrieb von Dr-Walter. Das Versicherungsunternehmen aus Neunkirchen-Seelscheid bei Köln ist spezialisiert auf Deutsche, die beruflich ins Ausland ziehen. Es ist ein einträgliches Geschäft. Denn angesichts der Debatten um Willkommenskultur, Asyl und Integration gerät häufig aus dem Blick: Deutschland ist nicht nur eines der Hauptzielländer von Migranten aus aller Welt, sondern auch ein klassisches Auswanderungsland.

Deutlich wird das nicht zuletzt an einer Zahl, die die Weltbank Jahr für Jahr ermittelt. 17,4 Milliarden Dollar überwiesen ausgewanderte Deutsche 2018 in ihre Heimat, ergaben erste Schätzungen der Organisation mit Sitz in Washington. Das sind umgerechnet 15,5 Milliarden Euro – so viel wie nie.



Damit halten sich Geldtransfers von Aus- und Einwanderern der Weltbank zufolge in etwa die Waage. So schickten in Deutschland lebende Migranten 2017 – neuere Daten liegen noch nicht vor – rund 22 Milliarden Dollar (19,6 Milliarden Euro) in ihre Herkunftsländer. Die von der Bundesbank ermittelte Summe der Heimatüberweisungen aus Deutschland liegt mit 5,1 Milliarden Euro für 2018 deutlich darunter. Die Werte sind aber nicht vergleichbar, was im Wesentlichen statistische Gründe hat.

Die Bundesbank schätzt konservativ, weil Überweisungen in der Regel unter der Meldegrenze von 12.500 Euro liegen und die von Banken und Finanzdienstleistern übermittelten Daten daher bruchstückhaft sind. Hingegen arbeitet die Weltbank mit Daten des Internationalen Währungsfonds, an den sämtliche Notenbanken ihre Zahlungsbilanzen melden. Einige nationale Zentralbanken versuchen zunehmend auch informelle Transfers wie Gütersendungen zu erfassen. Zudem berücksichtigt die Weltbank grenzüberschreitende Lohnzahlungen.

Rainer Elsmann hält die Summe von 17,4 Milliarden Dollar jedenfalls für plausibel. Von arbeitslosen Piloten über expansionsfreudige Unternehmer bis zu abenteuerlustigen Au-Pairs wenden sich jedes Jahr Tausende Abwanderungswillige an ihn und seine 100 Kollegen. Dabei zeigt sich: Sie senden oftmals aus ganz anderen Gründen Geld in die Heimat als Einwanderer in Deutschland.

Deren Hauptmotiv ist, mit den Transfers Verwandte zu unterstützen. Nicht selten hilft den Familien wegen der Kaufkraftunterschiede schon eine kleine Summe, um der Armut zu entfliehen oder den Nachwuchs zur Schule zu schicken.

Dagegen finanzieren Elsmanns Kunden nur hier und da ihren Kindern das Studium. Ihnen geht es um andere Dinge. Dem Piloten Martin Weber etwa hat Elsmann eine Auslandskrankenversicherung vermittelt. Auch bestehende Verträge wollen weiter bedient werden, schließlich laufen Haftpflicht- oder Berufsunfähigkeitsversicherung parallel zum Auslandsaufenthalt häufig weiter. Auch die Kosten für die Wohnung im Rheinland gehen jeden Monat vom Konto des 38-Jährigen ab.

Andere vermieten ihr Haus unter, müssen Kredite bedienen oder die Rechnung für den Schornsteinfeger bezahlen. Und die Altersvorsorge wandert in den seltensten Fällen mit ins Ausland ab. „Da kommt schnell ein Tausender im Monat zusammen“, sagt Elsmann.

Seit Jahren ziehen mehr Deutsche fort, als Landsleute aus dem Ausland zurückkommen. 2017 lag dieser Wanderungssaldo, wie es im Statistiker-Sprech heißt, bei circa 82.000 deutschen Staatsangehörigen. Mittlerweile leben laut Weltbank mehr als vier Millionen Deutsche im Ausland.

Einer Studie der Industrieländervereinigung OECD zufolge sind mehr als drei Viertel von ihnen zwischen 15 und 64 Jahre alt und damit im „erwerbsfähigen Alter“. Immer wieder warnen Kritiker, Menschen mit geringer Qualifikation strömten ins Land, während Hochgebildete abwanderten. Wahr ist: Im Durchschnitt sind Auswanderer höher gebildet als die Gesamtbevölkerung. Doch die These vom doppelten Migrationsproblem greift zu kurz.



Experten mehrerer Institute, darunter der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen zu Integration und Migration sowie das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, haben vor einigen Jahren Aus- und Rückwanderer befragt. Die Forscher fanden „keine Anhaltspunkte dafür, dass Hochqualifizierte in großem Umfang dauerhaft ins Ausland ,abfließen‘.“ Der simple Grund: Viele kommen spätestens nach einigen Jahren zurück, oft um wichtige Kenntnisse und Qualifikationen reicher. Mit dem Gedanken, den Ruhestand im Ausland zu verbringen, trägt sich laut OECD nur jeder vierte Auswanderungswillige.

Der Historiker und Journalist Jan Philipp Sternberg hat zur deutschen Auswanderungsgeschichte promoviert. Er beobachtet einen über zwei Jahrhunderte wiederkehrenden „Primat der Furcht, dass die Falschen das Land verlassen (also je nach zeitgenössischem Schwerpunkt der Diskussion die Kinderreichen, die Facharbeitskräfte, die Hochqualifizierten)“. Die These vom doppelten Migrationsproblem ist also nicht neu, und sie lässt den gesellschaftlichen Kontext außer Acht – bei Geflüchteten etwa humanitäre Katastrophen oder das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Asyl für politisch Verfolgte.

Auch über den Schreibtisch von Versicherungsmakler Elsmann wandern mit den Policen gewisse Trends. Firmen aus der Autozulieferindustrie etwa, so seine Beobachtung, entsenden zunehmend Führungskraft und Vorarbeiter am Fließband. Und Martin Weber ist nicht der einzige Pilot, der sein berufliches Glück neuerdings am Bosporus sucht.

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