Lehman-Brothers-Insolvenz Der Moment, in dem der mächtige Dominostein kippte

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„Eine Zeit nah am Abgrund“

Cornelius Welp - Ressortleiter Unternehmen
Mit Lehman Brothers kam ich das erste Mal bei einem Abendessen in Kontakt. Da präsentierten ein paar äußerst selbstbewusste Banker ihre Wachstumspläne. Am Schluss drückten sie jedem Journalisten eine Tasche mit Firmenlogo in die Hand. Schön war die nicht, aufgehoben habe ich sie trotzdem. Vielleicht wird sie mal richtig viel wert.

Mitte September 2008 erklärte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann die Krise bei einer Konferenz für beendet. Um Lehman, so sagte er, müsse man sich keine Sorgen machen. Im Zweifel wisse die US-Regierung, was zu tun sei.

Am Montag danach war Lehman pleite. Was folgte, war erst mal große Ratlosigkeit. Am Morgen stellte sich der neue Chef einer deutschen Bank in der Frankfurter Redaktion vor. Er erzählte uns, dass der Einlagensicherungsfonds nun wohl leer sei. Schon das schien uns unglaublich.

Am Abend in der S-Bahn saß mir ein Banker gegenüber. Völlig aufgelöst erzählte er seinem Gesprächspartner über Handy, wie er und seine Kollegen im Frankfurter Lehman-Büro von der Pleite erfahren hatten. Dass er nun Teil der größten Insolvenz aller Zeiten sei. Vermutlich ahnte auch mein aufgebrachter Mitfahrer nicht mal ansatzweise, was nun folgen sollte: eine Zeit nahe am Abgrund. Damals hatten wir in der Redaktion noch keine Smartphones und waren deshalb nicht immer auf dem ganz neuesten Stand. Ich war schon beruhigt, wenn ich morgens der U-Bahn-Station vor dem Verlagsgebäude entstieg und vor der Filiale der Dresdner Bank keine Schlange vor dem Geldautomaten wartete.

Den Scoop meines Lebens habe ich verpasst. An einem Freitagnachmittag Ende September 2008 telefonierte ich mit einem Frankfurter Anwalt. Ich weiß nicht mehr, worum es eigentlich ging, aber schnell sagte er mir, dass ich mich mit dem falschen Thema befasse. Der Münchner Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate sei in ernsten Schwierigkeiten. Wir sollten mal hinschauen.

Eine Kollegin rief in der Pressestelle an, niemand ging mehr ans Telefon. Wir waren erschöpft von der anstrengenden Woche und vertagten das Ganze auf Montag. Da hatte sich das Thema dann erledigt, am Wochenende fand die dramatischste Rettungsaktion der deutschen Bankengeschichte statt.
Manchmal ärgere ich mich heute noch darüber, dass wir damals nicht hartnäckiger waren. Dann male ich mir aus, wie nach unserem Anruf in München Panik ausbricht, wie die Finanzmärkte zusammengebrochen wären, wie Politik und Finanzwelt überlegen, wie sie uns ruhigstellen können. Und schließlich Peer Steinbrück anruft, um Zurückhaltung bettelt und uns lebenslange Steuerverschonung verspricht. Das wäre schon was gewesen.

Andererseits haben wir so vielleicht das weltweite Finanzsystem vor einem neuen Crash-Schub bewahrt. Das ist doch auch was.

Saskia Littmann - Korrespondentin in Frankfurt

So ein Volkswirtschafts-Studium im Jahr 2008 war eine skurrile Mischung aus heiler Welt und Illusion. In Lüneburg, einem idyllischen Städtchen im Süden Hamburgs, ist der US-Häusermarkt mit seinen haarsträubenden Kreditkonstrukten gedanklich mindestens so weit weg wie Klausuren bei der Semesteranfangsparty. Das Zimmer im Studentenwohnheim kostet gerade mal 186 Euro, die Professoren referieren über funktionierende Märkte im Gleichgewicht, und wenn die persönliche Einnahmen-Ausgaben-Situation dann doch mal ins Ungleichgewicht gerät, wird eben Ende des Monats ein Bier weniger getrunken.

Dass die Märkte vielleicht doch nicht ganz so gleichgewichtig sind, wie ich dachte, erahnte ich, als ich Anfang 2008 ein Praktikum bei der „Financial Times Deutschland“ in Berlin mache. In meinem Ressort Politik und Weltwirtschaft spielen vor allem Konjunkturindikatoren eine große Rolle.

Regelmäßig kommt um mich herum um 14.30 Uhr große Unruhe auf, wenn die Zeitung umgebaut werden muss, weil in den USA mal wieder die Arbeitsmarktzahlen schlechter sind als erwartet oder der Philly-Fed Index in den Keller gerauscht ist.

Welcher Illusion meine gleichgewichtigen Märkte aber tatsächlich sind, das wird mir erst an einem Sonntagabend im Oktober endgültig klar. Es war der Abend, an dem Kanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück zur besten Sendezeit vor die Fernsehkameras traten, um den Bürgern zu versichern, dass ihre Spareinlagen bei Banken und Sparkassen sicher seien.

Erspartes habe ich zwar nicht viel, aber in meinen Vorlesungen dann doch genug gelernt, um die Tragweite des Gesagten zu erkennen. Statt wie geplant den Tatort zu schauen, diskutieren mein Kommilitone und ich, wie ungleichgewichtig das alles sein muss, wenn die Bundeskanzlerin schon zu solchen Mitteln greifen muss.

Meine Bachelorarbeit habe ich am nächsten Tag trotzdem weitergeschrieben. Über Multiplikatoreffekte – und Volkswirtschaften im Gleichgewicht.

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