Lehman-Brothers-Insolvenz Der Moment, in dem der mächtige Dominostein kippte

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„Krisenangst machte Horten von Ravioli salonfähig“

Anton Riedl - Redakteur Geld:

In den Tagen der akuten Finanzkrise war die Angst unter Anlegern vor einem Systemzusammenbruch von Börsen, Wirtschaft und Gesellschaft so groß, dass das Horten von Ravioli in Dosen salonfähig wurde. Auf der Stuttgarter Anlegermesse Invest im Frühjahr 2009, fast punktgenau mit dem Tiefpunkt im Dax, wurde 2008/09 als zweite Weltwirtschaftskrise nach der von 1929 eingestuft.

Vermögensverwalter Jens Ehrhardt wies in seinem Börsenbrief darauf hin, dass die Krise 2008/09 direkt sogar mehr Anleger betroffen habe als die Weltwirtschaftskrise von 1929, da Aktien als Anlage in den Zwanzigerjahren weniger verbreitet waren als heute. Um für einige Urlaubswochen auf Nummer sicher zu gehen, habe ich persönlich Geld vom laufenden Konto einer Bank in Anleihen und Schuldverschreibungen verschiedener Emittenten geparkt, darunter auch Bundesanleihen, also die Risiken auf mehrere Schultern verteilt.

Die Finanzkrise kam nicht aus heiterem Himmel, das spürten wir in der Redaktion. Der Zusammenbruch der Unternehmensbank IKB Mitte 2007 und der Crash der Aktienmärkte Anfang 2008 nach den Milliardenverlusten von Jerome Kerviel, Händler der Société Générale, waren ernsthafte Vorboten einer großen Krise. In der WirtschaftsWoche haben wir deshalb mehrmals Absicherungsstrategien gegen Kursverluste vorgestellt. Die Derivate, Put-Optionsscheine auf einen fallenden Dax, haben sich dann im Zuge der Finanzkrise vervielfacht. Am stärksten liefen die Anfang September 2008 in WirtschaftsWoche 36 vorgestellten Dax-Puts, die in der Spitze um nahezu 700 Prozent zulegten.

Die Wirkung von Dax-Puts auf dem Papier zu beschreiben, war aber etwas ganz anderes als Puts in den hektischen Tagen der Finanzkrise real zu handeln und vor allem durchzuhalten. Trotz allgemeiner Baisse-Tendenz gab es zwischendurch immer wieder massive Kurserholungen. Am heftigsten war der Kurssprung, als der damals designierte US-Präsident Barack Obama nach der Lehman-Pleite ein Konjunkturpaket von vielen hundert Milliarden Dollar vorstellte. Den Dow Jones katapultierte das innerhalb kürzester Zeit um 1000 Punkte nach oben – und Puts gaben ihre Gewinne komplett ab, wenn sie sich nicht sogar in Luft auflösten. Wenn man das erlebte, hatte man keine Lust mehr auf eine zweite Runde.

Unterm Strich war die Finanzkrisen-Baisse eine Jahrhundert-Chance für alle Arten von Absicherungen und Baisse-Spekulationen. Nur hatten damals selbst alte Hasen kaum den Mut, diese Spekulationen auch mit aller Konsequenz durchzuziehen. Umso mehr, da die Angst einer Systemkrise umging. Verschärft wurde das mit dem teilweisen Verbot von Baisse-Spekulationen. In der Praxis hieß das: Selbst diejenigen, die etwa mit Puts auf Banken gut im Gewinn standen, hatten Angst, dass sie am Ende trotz richtiger Einschätzung ihr Geld doch nicht wiedersehen würden, weil der Handel mit den Derivaten unterbunden werden könnte.

Als große Gewinner erwiesen sich im Nachhinein diejenigen, die den Mut fanden, in den schwarzen Tagen 2008/ 2009 Aktien zu kaufen. Und wer schon nicht Aktien kaufte, der konnte sich wenigstens am Anleihemarkt hohe Zinsen holen. Doch auch da ging die Angst um. „Wollen Sie wirklich jetzt auf Unternehmensanleihen setzen?“ fragte mich mein örtlicher Bankberater bei einem Termin im Herbst 2008. Selbst Jahresrenditen von sieben bis acht Prozent konnten ihn kaum umstimmen. Hellhörig wurde er erst, als ich ihm mit einer Gegenfrage kam: „Glauben Sie wirklich, dass Unternehmen wie Daimler, BASF oder BMW pleitegehen?“ – Selbst wer sich in der Hektik der Finanzkrise nicht an Aktien wagte, konnte mit Anleihen großer Unternehmen auf Jahre hinaus gute Renditen erzielen.

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