Im Prozess um die milliardenschwere Pleite des Finanzkonzerns Wirecard will sich der angeklagte Ex-Chef Markus Braun nicht darauf festlegen, wann er sich zu den Vorwürfen äußert. Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm forderte am Donnerstag in der Verhandlung vor dem Landgericht München, zunächst müssten die Richter über seinen im Dezember eingereichten Antrag zur Aussetzung des Prozesses entscheiden.
Dierlamm reagierte damit auf den Vorschlag des Vorsitzenden Richters Markus Födisch, bis zum 18. Januar die Befragung des mitangeklagten Oliver Bellenhaus fortzusetzen und anschließend fünf Tage für Äußerungen und eine Befragung von Braun vorzusehen.
„Wir warten erstmal ab, wie die Kammer über den Aussetzungsantrag entscheidet“, sagte Dierlamm. Erst danach werde er mit Braun über die Modalitäten von dessen Einlassung entscheiden. Der Verteidiger beschwerte sich erneut, die Staatsanwaltschaft schiebe seit Prozessbeginn im Dezember eine Flut zusätzlicher Akten nach, allein in den vergangenen Tagen tausende Seiten. „Wieder werden wir mit Unterlegen überhäuft, die kein Mensch auswerten kann“, schimpfte Dierlamm. Deswegen müsse das Gericht das Verfahren aussetzen.
Schneller schlau: Cum-ex-Geschäfte
Bei den auch „Dividendenstripping“ genannten Geschäften geht es um den raschen Kauf und Verkauf von Aktien rund um den Dividendenstichtag, um Kapitalertragssteuern mehrfach vom Fiskus erstattet zu bekommen. Am Tag vor der Dividendenzahlung ist diese im Aktienkurs mit eingepreist. An der Börse spricht man von einem Kurs „cum Dividende“.
Am Tag nach der Ausschüttung, in der Regel einen Tag nach Hauptversammlung, die die Dividendenzahlung beschließt, ziehen die Börsenbetreiber die Dividende vom Kurs ab, das heißt die Aktie wird „ex Dividende“ gehandelt. Von Banken bekamen die Aktienkäufer und -verkäufer eine Bestätigung, die Kapitalertragsteuer abgeführt zu haben, was sie beim Fiskus mehrfach steuerlich geltend machten - obwohl sie so nicht gezahlt hatten.
Ein Beispiel: Die Banken verkaufen die Aktien leer an einem „cum“-Tag, müssen sie aber wegen der Börsenregelungen erst nach zwei Tagen an den Käufer liefern. Sie beschaffen sich die Papiere also nach dem Dividendenstichtag zum „ex“-Preis – also ohne Dividende – von einem Dritten und liefern diese Aktien an den Käufer. Dabei parallel abgeschlossene Kurssicherungsgeschäfte, die Risiken ausschließen, sichern den Gewinn aus der Transaktion.
Papiere werden rund um den Dividendenstichtag – meist der Tag der Hauptversammlung – schnell hintereinander ge- und wieder verkauft. Leerverkäufer verdienen, wenn der Aktienkurs bis zum Liefertermin gefallen ist und sie so die Aktien billiger kaufen können, als sie sie verkauft haben.
Generell wird auf die gezahlte Dividende Kapitalertragssteuer fällig. Im geschilderten Konstrukt ließen sich sowohl der Käufer als auch der jeweilige Dritte, von dem sich die Banken die Aktien beschafft hatten, die Kapitalertragsteuer vom Finanzamt erstatten. Die Finanzämter zahlten so mehr Steuern zurück, als sie zuvor eingenommen hatten.
Im Wesentlichen nutzten Banken und Profianleger wie Fonds oder Börsenhändler den Steuertrick mittels Dividendenstripping.
Für Privatanleger sind Cum-ex-Geschäfte zu aufwendig, zumal es sich bei kleinen Anlagesummen kaum rechnet. Sie hätten nur geringe bis keine Chancen gehabt, an solchen Deals zu verdienen.
Banken und Investoren nutzten bestimmte Eigenheiten der Abwicklungssysteme an den Börsen, aber auch steuerrechtliche Besonderheiten – und das offensichtlich über Jahre hinweg und mit Wissen von Bund, Ländern und Finanzbehörden. So erklärte der Bundesfinanzhof das Dividendenstripping bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1999 für grundsätzlich rechtens. Geschlossen wurde das Schlupfloch aber erst 2012 durch eine Neuregelung der Nachweispflichten.
Die Verteidigerin des dritten Angeklagten Stephan von Erffa, Sabine Stetter, schlug in die selbe Kerbe. Sie sprach von einer „enormen Zumutung“, schloss sich aber Dierlamms Aussetzungsantrag nicht an.
Richter Födisch ließ offen, wann die Kammer über den Antrag entscheidet. Die Entscheidung und die erforderliche Begründung gelten als heikel, weil Verteidiger sich darauf berufen könnten, um Revision gegen ein späteres Urteil einzulegen.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor. Brauns und von Erffas Anwälte haben die Vorwürfe zurückgewiesen. Bellenhaus, der als Kronzeuge gilt, hat eine Tatbeteiligung gestanden. Der Dax-Konzern Wirecard war im Juni 2020 zusammengebrochen, als bekannt wurde, dass in der Kasse 1,9 Milliarden Euro fehlten. Die Wirecard-Pleite ist einer der größten Finanzskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte.
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