Tauchsieder

Die Finanzkrise ist zurück

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Wachstum, Ausdehnung, Unbegrenztheit

So weit will es die britische Regierung (will es die EZB) nicht kommen lassen – und ihr genialer Schachzug besteht nicht etwa darin, die eklatante Deckungslücke des Papiergeldes zu verheimlichen, sondern sie zur offiziellen Geschäftsgrundlage der neuen Volkswirtschaft zu erklären: Das ganze Geheimnis des neuen Geldes liegt in der offiziellen Verzeitlichung der Einlösepflicht, das heißt: in dem frechen Versprechen, eine Kompensation der umlaufenden Schulden nicht etwa anzustreben, sondern vorerst auszuschließen!

Eben weil es als Schein-Haftes umläuft, kann das Geld, wenn man so will, zum schuldenfrisierten Hybridmotor der Wirtschaft aufsteigen. Nur weil alles Gold und Silber der Welt nicht ausreicht, die Ansprüche aller zu befriedigen, die dieses Gold und Silber auf einmal begehren würden, ist das Geld zugleich Ausgleich und dauernder Anspruch, Bargeld und ständige Forderung, Zahlungsmittel und ewiges Versprechen – zugleich Geld und beliebig verlängerbares Anti-Geld.

Anders gesagt: Wenn das neue Geld money und claim ist, ein monetärer Verschnitt seiner Geld-und Krediteigenschaften, ein zur Einheit aus Bonität und Zahlungsunfähigkeit verdichteter Widerspruch, dann räumt es seiner Zirkulation einen unendlichen Aufschub ein: Jede Zahlung eröffnet die Aussicht auf eine anschließende Zahlung; jedes Zahlungsversprechen hat immer weitere und das heißt: prinzipiell unabschließbar viele Zahlungsversprechen zur Folge. Eine Kompensation der umlaufenden Schulden ist dabei ausdrücklich nicht erwünscht – und die Stabilität der dadurch völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Geldzirkulation besteht einzig darin, dass jeder auf den anderen verwiesen ist, weil er weiß, dass das, was er (nicht) besitzt, immer auch von allen anderen (nicht) besessen wird.

Der kontrollierte Bankrott wird gleichsam mitlaufend zur Institution der neuen Scheinwirtschaft, die aufgeschobene Insolvenz zu ihrem konstitutiven Faktor – die systematische Verschuldung zu ihrem mitlaufenden Credo. Ganz so wie heute.

Der 26. Februar 1797 markiert daher den Beginn der ökonomischen Wertschöpfungslehre aus dem Geist des Kredits. Wachstum, Ausdehnung, Unbegrenztheit sind die neuen Zentralbegriffe der politischen Ökonomie; von Zirkulation, Ausgewogenheit und Rückfluss ist keine Rede mehr. Das Geld soll nicht mehr umlaufen, sondern sich neue Wege bahnen; nicht mehr kreisen, sondern ausbrechen, nicht mehr ausgleichen, sondern beschleunigen. Die vormals nüchtern aufgeklärte Wirtschaft wird romantisch, unvernünftig, libidinös – und der ökonomischen Theorie geht es nicht mehr um Zusammenhalt, Dichtigkeit und Kohärenz, um die Stabilisierung der Wirtschaft und die Vitalisierung des Staatskörpers, sondern um eine Berechnung der expansiven, uferlosen, zentrifugalen Kräfte, die mit dem neuen Geld in die Welt gekommen sind. 

Daran ist prinzipiell nichts falsch: Ein Kredit zaubert Potenziale der Zukunft ins Heute. Aber eben nur, solange sich mit ihm (auch) ein Versprechen auf Rückzahlung verbindet. Johann Wolfgang Goethe begreift es als einer der ersten. Als sich in „Faust II“ der klamme Kaiser an Mephistopheles wendet („Ich habe es satt das ewige Wie und Wenn; / Es fehlt an Geld, nun gut, so schaff es denn.“), flüstert der ihm ein, einfach frisches Papiergeld drucken zu lassen. Der Kaiser antwortet zunächst mit gezierter Ungläubigkeit: „Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug!“ – aber nur um wenig später konziliant seine Kapitulationsurkunde zu unterzeichnen: „Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold? / Dem Heer, dem Hofe genügt’s zu vollem Sold? / So sehr’s mich wundert, muss ich’s gelten lassen.“

Für den Wirtschaftsdramatiker Goethe beginnt die moderne Weltordnung eben nicht mit der Arbeitsteilung oder mit dem Tauschgeschäft, sondern mit der Schöpfung des Geldes, in dessen Zeichen sie künftig steht. Dieses Geld ist im Faust durch die (verborgenen) Edelmetallschätze des kaiserlichen Landes gedeckt – weshalb der Kaiser sich bei seiner Geld-und Kreditschöpfung sozusagen selbst beleiht, indem er eine Hypothek auf sein Land aufnimmt – und sich eben dadurch zugleich zum Vasallen des Geldes erniedrigt: König und Knecht in einer Person, ganz so, wie die EZB heute. Es ist Faust, der den Kaiser darauf aufmerksam macht: „Das Übermaß der Schätze, das, erstarrt, / In deinen Landen tief im Boden harrt / Liegt ungenutzt. Der weiteste Gedanke/ Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke; / Die Phantasie, in ihrem höchsten Flug, / Sie strengt sich an und tut sich nie genug. / Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen, / zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.“

Die Fantasie im höchsten Flug? Zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen – wer denkt da nicht an den dunklen, hohen EZB-Turm in Frankfurt? Doch der Mensch als Schöpfer einer neuen Geldglaubensordnung? Wenn das nicht frevelhaft ist! Als Mephistopheles und Faust mit der Eindeichung eines von der Flut regelmäßig heimgesuchten Küstenstreifens dem Schöpfer buchstäblich das Neuland einer wirtschaftlichen Ordnung abgewinnen, die auf dem Sand des Kreditgeldes aufbaut, ist Faust als unternehmerischer Geld-Schöpfer voll des Optimismus: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.“  Mephisto aber weiß, dass man im Ernstfall eines Dammbruchs nicht auf den „Gemeindrang“ von Menschen zählen sollte, die aller Haftungsfragen ledig sind. Er weiht das Unternehmen dem Untergang. Als Faust davon spricht, er wolle mit jedem Tag „Nachricht haben, / wie sich verlängt der unternommene Graben“, antwortet Mephisto nur lakonisch: „Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben, doch vom Grab.“

Lesetipp: Dieter Schnaas, Kleine Kulturgeschichte des Geldes, Wilhelm Fink Verlag, 2012, 21,90 Euro.

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