
"Mr. Diamond, leben Sie in einem anderen Universum?" entfuhr es der konservativen Abgeordneten Andrea Leadsome irgendwann während der dreistündigen Vernehmung des ehemaligen Chefs der Barclays Bank vor dem Finanzausschuss des britischen Unterhauses.
Der hatte den Parlamentariern vorher wortreich eine unglaubliche Geschichte nach der anderen aufgetischt: Obwohl Händler bei der Barclays Bank schon seit 2005 - also jahrelang - den sogenannten Libor-Satz manipuliert hatten, obwohl der stellvertretende Notenbankchef Paul Tucker ihm gegenüber persönlich am Telefon Bedenken über die Höhe von Barclays Refinanzierungssätzen geäußert hatte und obwohl die Finanzaufsicht FSA längst ermittelte, wollte Diamond selbst erst im Juni, kurz bevor die FSA und die US-Behörden eine Rekordstrafe in Höhe von 360 Millionen Euro gegen Barclays verhängt hatten, das volle Ausmaß der fragwürdigen Machenschaften im eigenen Haus erkannt haben.
Was den Libor so wichtig macht
Grundsätzlich gilt der Libor für alle Kreditnehmer aus den folgenden Währungsräumen:
- Australischer Dollar
- Kanadischer Dollar
- Neuseeland-Dollar
- US-Dollar
- Schweizer Franken
- Dänische Krone
- Schwedische Krone
- Euro
- Pfund Sterling
- Yen
Der Libor ist ein Angebotszins, also der Satz, zu dem Banken Geld verleihen können. Grundsätzlich gilt der Libor nur für Kredite mit einer Laufzeit von einem Tag bis zu zwölf Monaten. Das heißt, er betrifft Optionen, Derivate und Termingeschäfte, aber auch den Kredit fürs neue Auto oder die Eigentumswohnung.
Grundsätzlich legt die British Banker's Association (BBA) den Libor (London Interbank Offered Rate) jeden Tag aufs Neue fest. Die BBA saugt sich den Satz allerdings nicht einfach so aus den Fingern, sondern ermittelt einen Durchschnittssatz aus den Angaben verschiedener Banken. 19 Institute melden der BBA täglich, zu welchem Zinssatz sie sich untereinander Geld leihen.
Grundsätzlich gibt es derzeit einen Verdacht gegen alle 19 Banken, die ihre Zinssätze der BBA mitteilen. Barclays hat die Manipulationen bereits zugegeben, ermittelt wird des Weiteren gegen die Royal Bank of Scotland, die Deutsche Bank, die HSBC, die UBS, Citigroup und Lloyds.
"Was wollen Sie, wir beschäftigen mehrere tausend Händler - in diese verwerfliche Sache waren aber nur 14 von ihnen involviert", konterte er mit kaum unterdrückter Arroganz. Das alte Argument also: Ein paar schwarze Schafe haben die Bank ins Verderben gestürzt. Dann beeilte sich der geschasste Barclays-Chef aber doch noch nachzuschieben, was er schon vorher gebetsmühlenartige wiederholt hatte: "Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich die Angelegenheit bedauere, wie enttäuscht und wütend ich bin. Barclays ist eine wunderbare Institution, die ich sehr liebe". Ein Schuldeingeständnis sieht anders aus.
Intransparent und altertümlich
Nicht zuletzt versuchte Diamond die Schuld auf andere abzuwälzen und klarzustellen, dass seine Bank nicht alleine verantwortlich war. Es sei ein offenes Geheimnis gewesen, dass andere Geldhäuser ihre Refinanzierungssätze zu niedrig angegeben hätten, sagt er. 16 Banken sind täglich dabei, wenn in London der Interbankensatz festgelegt wird - ein Vorgang, der wegen seines intransparenten und altertümlichen Ablaufs den Manipulationen wohl Vorschub leistete.
Eine ganze Reihe von Banken werden nun ebenfalls von der FSA untersucht. Händler der Deutschen Bank stehen ebenso unter dem Verdacht der Zinsmanipulation wie Mitarbeiter der UBS, der Citigroup, der JP. Morgan und der HSBC. Aus dem Umfeld der Deutschen Bank hieß es dazu schon vor einigen Wochen, gegen drei oder vier Mitarbeiter seien "disziplinarische Maßnahmen ergriffen worden", die Bank habe sich aber nichts vorzuwerfen, es habe sich um die Aktionen von Individuen gehandelt - schwarze Schafe also?
Filz in der Finanzelite
Der Fall wirft noch viele andere Fragen auf und offenbart gleichzeitig, wie ungesund eng und verfilzt das Verhältnis der Londoner Finanzelite, zu der nicht nur die Banken, sondern auch die Notenbank, die FSA und das Finanzministerium gehören, gewebt ist. Vertrauliche Telefongespräche, augenzwinkernde Missbilligung, der Austausch von hochbrisanten Informationen, all das geschah 2008 hinter den Kulissen zu einer Zeit als dem britischen Steuerzahler die Rettung des einheimischen Bankensystem aufgebürdet wurde.
Die nun veröffentlichen Berichte über die E-Mail-Kontakte und Telefongespräche vermitteln den Eindruck, als seien alle Beteiligten stillschweigend davon ausgegangen, dass es sich bei der Manipulation der Interbanken-Zinssätze eigentlich um ein Kavaliersdelikt handelte oder sogar um eine Maßnahme, die der Stabilität des Finanzsystems förderlich war.
So jedenfalls lässt sich die E-Mail-Notiz deuten, die Diamond über ein Telefongespräch mit dem stellvertretenden Notenbankchef Paul Tucker veröffentlichte: Tucker soll angeblich gesagt haben, dass sich hochrangige Vertreter der damaligen Labour-Regierung Sorgen wegen Barclays hoher Refinanzierungssätze machten. Dies habe er selbst zwar nicht als Aufforderung verstanden zu niedrige Werte anzugeben, sagte Diamond. Wohl aber habe es sein Stellvertreter Jerry del Missier es so verstanden und eine entsprechende Botschaft an die Händler geschickt - so Diamond, der damals noch Chef der Investmentbank Barclays Capital war.