China Olympia: Milliarden schauen auf die Randsportarten

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Beach-Volleyball (hier: Kerry Quelle: REUTERS

Selbst wer sich nicht für Sport interessiert, kann sich den olympischen Körperinszenierungen kaum entziehen: Ob beim Delphinschwimmen oder beim Beach-Volleyball – in den Sportlerkörpern erkennt er unweigerlich sein besseres Selbst, den Supermann, der er selber gern wäre.

Doch erklärt die erotische Ausstrahlung gut gebauter Körper und ihre perfekte olympische Inszenierung allein schon die Faszination des Sports? Der in Stanford lehrende Romanist Hans Ulrich Gumbrecht hat in seinem fulminanten Essayband „Lob des Sports“ gleich mehrere gleichsam denksportliche Anläufe unternommen, um das Phänomen der Massenattraktion des Sports zu verstehen.

Eine seiner Antworten: Im plötzlichen Erlebnis von „realer Präsenz“ bannt der Sport unsere Blicke, und diese selbstvergessenen Augenblicke erleben wir als „Momente vollkommenen Glücks“. Anders als Kunst und Religion drückt der Sport nichts aus, stellt er nichts dar, schenkt er uns vielmehr den Thrill reiner Gegenwärtigkeit: „Jetzt oder nie.“ Die Zeit scheint angehalten im entscheidenden Moment, wenn sich durch einen genialen Griff der Ausgang eines Judokampfs wendet oder durch einen brillanten Spielzug das Basketballspiel kippt.

Während des Wettkampfs in fokussierte Intensität versunken

Als Kronzeugen zitiert Gumbrecht den US-Schwimmer und dreifachen Goldmedaillengewinner von 1984 und 1992, Pablo Morales, der am Fernsehschirm die Schlussläuferin der amerikanischen 4 x 100-Meter-Staffel der Frauen in Seoul 1988 verfolgte und dabei an seine eigenen Erlebnisse als Sportler erinnert wurde: „Nach dem Rennen wurde eine Wiederholung gezeigt, die sich auf Ashfords Gesicht unmittelbar vor, während und nach dem Lauf konzentrierte. Ihre Blicke folgten zuerst dem Oval der Laufbahn, fixierten dann das Staffelholz und danach die vor ihr liegende Kurve. Sie schien weder ein Bewusstsein der Menge im Stadion noch ein Bewusstsein des stattfindenden Wettkampfs zu besitzen, und ich bemerkte, wie sie in fokussierter Intensität versunken war.“

Für den Sportler wie den Zuschauer, gleich ob im Stadion oder vorm Fernseher, versinkt für die Dauer des Wettkampfs die Welt in Bedeutungslosigkeit, so die Pointe des Olympiasiegers Morales. Seltsam entrückt wirkt in Phasen höchster Anspannung daher die Staffelläuferin, die dem Ziel entgegengetragen wird. „Wie von selbst“ gelingen dem Fechter, der im Kampf ein ganzes Repertoire von Stößen und Paraden abrufen kann, in der Ausnahmesituation des Finales die schwierigsten Attacken. Automatisch glückt den Handballern in der Verlängerung die riskanteste Kombination. Die Sportler sprechen in solchen Fällen gern vom „Flow“: Sie überlassen sich der Eigendynamik des Körpers und folgen ihm, wohin er von sich aus will. Sie vertrauen der Intelligenz ihres Armgelenks, der puren Geistesgegenwart des Körpers, die über Sieg oder Niederlage entscheidet.

Oder sie verlassen sich auf ihren Partner. Ein Musterbeispiel dafür hat – unfreiwillig – der Springreiter Hans Günter Winkler gegeben, als er sich 1956 in Stockholm beim Finale verletzte und seine „Wunderstute“ Halla im zweiten Umlauf ohne Abwurf, von allein und mit der größten Leichtigkeit zum Olympiasieg eilte. Es ist der berühmteste Ritt der Sportgeschichte, der von einem utopischen Versprechen des Sports erzählt: dass die aus der Souveränität des Geistes entlassene Natur von sich aus ans Ziel kommt. Oder, wie es Hans Ulrich Gumbrecht formuliert: „Was uns an Sportereignissen begeistert und was wir an großen Sportlern bewundern, ist deren Fähigkeit, die Dinge geschehen zu lassen.“

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