Der Fall Toyota Leichte Beute von Politik und Medien

Der Fall Toyota wird immer mehr zu einem bizarren Lehrstück. Die US-Behörden und in der Folge die Medien wie auch Politiker beschuldigten den Autobauer diverser, teilweise tödlicher Konstruktionsfehler. Bis heute fehlen handfeste Beweise für die Schuld von Toyota. Wie ein Weltkonzern dennoch zur leichten Beute von Medien und Politik wurde.

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US-Medien und Politiker attackierten Toyota heftig - nun will Konzernchef Akio Toyoda den Skandal nur noch abhaken. Quelle: ap

NEW YORK/TOKIO. Pokayoke, so nennen es die Japaner. Pokayoke, das heißt so viel wie "unglückliche Fehler vermeiden".

"Pokayoke", sagt die Dame mit dem auf Lieblichkeit trainierten hohen Stimmchen, während sie eine Besuchergruppe durch das Toyota-Werk im japanischen Motomachi führt, sei eines der wichtigsten Prinzipien ihres Arbeitgebers. Und dann zeigt sie auf einen Monitor. "Hier können Sie sehen, wie das Fließband sofort angehalten werden kann, wenn etwas nicht stimmt."

Hoch über der Fertigungsstraße, auf der verschiedene Modelle zusammengeschraubt werden, flimmert ein Demonstrationsfilm, in dem ein Arbeiter an einer langen Leine zieht. Dann herrscht Stillstand in Motomachi.

Toyota und die Reißleine. Lange sah es so aus, als habe sie der Konzern in der größten Rückrufaffäre der vergangenen Jahre viel zu spät gezogen - als habe Toyotas Pokayoke erstmals versagt.

Am Samstag jährt sich das Ereignis, das die Welt von Toyota auf den Kopf stellen sollte.

Es ist der 28. August 2009, als Mark Saylor verzweifelt den Notruf wählt. Der 45-jährige Autobahnpolizist ist nach Dienstschluss mit einem Lexus unterwegs - einem Luxusmodell von Toyota. Plötzlich klemmt das Bremspedal, der Wagen beschleunigt. Saylor kann ihn nicht stoppen. Mit 190 Stundenkilometern brettert er über die Route 125 im kalifornischen San Diego.

Mit im Wagen sind seine Frau, seine 13-jährige Tochter, sein Schwager. "Wir nähern uns der Kreuzung", ruft Saylor in sein Handy. Und schreit zu seiner Familie: "Haltet euch fest. Betet. Betet."

Was folgt, ist ein dumpfer Knall. Der Lexus rammt einen anderen Wagen, durchbricht eine Absperrung, überschlägt sich und geht in Flammen auf. Dann wird es still. Alle Insassen sind tot.

Das Gespräch wird wenige Tage später veröffentlicht, Amerika ist schockiert.

Der Konzernchef verbeugt sich ein Dutzend Mal öffentlich

Es sieht so aus, als habe der weltgrößte Autobauer seine eigenen Prinzipien missachtet, als habe er Pokayoke auf dem Altar schnellen Wachstums geopfert. Die US-Behörden und in der Folge die Medien wie auch Politiker beschuldigen den weltgrößten Autobauer diverser, teilweise tödlicher Konstruktionsfehler. Daraufhin erst reagierte Konzernchef Akio Toyoda, der Enkel des Firmengründers Kiichiro Toyoda. Mehr als 8,5 Millionen Fahrzeuge lässt er in die Werkstätten zurückbeordern; Toyoda verbeugte sich ein Dutzend Mal öffentlich, der Konzern zahlt eine Rekordstrafe von 16,4 Mio. Dollar für die verspäteten Meldungen von Fehlern an die US-Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA. So habe Toyota der Behörde angeblich nicht mitgeteilt, dass die von einem Zulieferer hergestellten Fußmatten das Bremspedal einklemmen können.

Die NHTSA befürchtet, dass auch Probleme in Toyotas Elektronik die ungewollte Beschleunigung verursachen - etwas, was viel schwieriger zu beheben sein könnte.

Die Beamten warnen, dass Japans wichtigstes Unternehmen, der Stolz vieler Japaner, mit rund 90 Unfalltoten in Verbindung gebracht werden könnte. Toyota, der Weltkonzern, der eigentlich für seine sicheren Autos bekannt ist, wird zum Buhmann der Nation. Aufgebaut wird eine Massenpanik, um die angeblich unsicheren, unkontrollierbaren Toyotas, die Leben kosten können. Keiner will jetzt mehr Toyota fahren, geschweige denn einen kaufen. Die Hetzjagd hat begonnen.

Dass es vereinzelt zu Problemen mit dem Gaspedal kommen kann, das räumt der Autobauer ein. Hinweise auf Probleme mit der Elektronik kann Toyota aber nicht finden. Doch das ist irrelevant. Die Anwälte sind bereits in Stellung. Mittlerweile sind mehr als 300 Klagen in den USA anhängig. Die Geschädigten und ihre Angehörigen verlangen Milliarden von dem Konzern. Aber auch geprellte Aktionäre wollen von den Japanern Geld erstreiten.

Tatsächlich fehlen jedoch bis heute schlagkräftige Beweise für die Schuld Toyotas. Stattdessen mehren sich die Anzeichen, dass die Geschichte vom schlampigen Autobauer, der auf Teufel komm raus der Größte werden wollte und dabei seine Zulieferer nicht mehr kontrollierte, in sich zusammenbrechen könnte.

Fahrer müssen Gas und Bremse verwechselt haben

Fünf Monate nach Beginn einer großangelegten Untersuchung über die Sicherheit der Fahrzeuge steht die NHTSA ziemlich blank da. Das zeigen vorläufige Ergebnisse, die die Aufsichtsbehörde Mitte August den Kongress-Abgeordneten vorlegte: 58 Fahrzeuge wurden untersucht. Und nur in einem ist der Unfall auf eine klemmende Fußmatte zurückzuführen. In den meisten Fällen haben die Fahrer die Bremse gar nicht benutzt, wie die Auswertungen der Unfalldatenschreiber zeigen. Die Fahrer müssen stattdessen Gas und Bremse verwechselt haben.

Ein Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde räumte ein, dass die anfangs so aggressive Behörde bislang keinerlei Defekte im elektronischen Bremskontrollsystem gefunden habe. Ein anderer langjähriger NHTSA-Mitarbeiter, der Anfang Juli in Rente ging, behauptet sogar, sein ehemaliger Arbeitgeber halte entlastende Berichte zurück - was die Aufsichtsbehörde jedoch bestreitet, und verweist auf laufende Untersuchungen verweist.

Der Fall Toyota wird damit immer mehr zu einem bizarren Lehrstück: Wie ein Weltkonzern zu leichter Beute von Medien und Politik wurde, warum nun der vermeintliche Täter zum Märtyrer werden könnte - und warum auch diese Rolle nicht ganz den Tatsachen entspricht.

In der Toyota-Affäre treffen auf fatale Weise kulturell entwickelte Macht- und Ohnmachts-Fantasien aufeinander: Hier Amerika, eine Nation, die sich stets im Recht fühlt, ihre Interessen mit aller Macht durchsetzt - dort Japan, das über die Jahre genügend politische und wirtschaftliche Niederlagen einstecken musste, um die Kraft zur Gegenwehr zu verlieren. All das vor dem Hintergrund einer der größten Wirtschaftskrisen des Jahrhunderts. Ein explosives Gemisch.

Rückblick. Es ist der 4. Dezember 2008. Die amerikanische Automobilindustrie liegt am Boden. Die Chefs der "Big Three", General Motors (GM), Ford und Chrysler sind nach Washington gereist, um ihre Restrukturierungspläne vorzulegen. Im Gegenzug verlangen sie 34 Milliarden Dollar an Staatshilfen. Sonst könnten GM und Chrysler schon in wenigen Wochen pleite sein.

Als der neue US-Präsident Barack Obama im Januar 2009 sein Amt antritt, steht die Autoindustrie weit oben auf seiner To-do-Liste. Er ruft eine "Auto-Task-Force" ins Leben, die eine Rettung der traditionsreichen Konzerne ausarbeiten soll. Das Finanzsystem hat sich von dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers noch längst nicht wieder erholt. Ein Zusammenbruch der für die amerikanische Wirtschaft so bedeutenden Autoindustrie wäre jetzt fatal.

Toyota schreibt erstmals rote Zahlen

Auf der anderen Seite Toyota und Japan: Ein Autobauer, grundsätzlich im Aufwind, mit seinen Hybrid-Motoren gut gerüstet für eine ökologische Zukunft. Doch auch in Japan geht die Finanzkrise nicht ganz spurlos an dem Konzern vorbei. Erstmals schreibt Toyota rote Zahlen, erstmals müssen Mitarbeiter entlassen werden. In dieser Phase passiert etwas für das Land sehr Typisches.

Die überforderten Manager setzen auf die Macht der Seilschaft, der Netzwerke, der Blutsverwandtschaft. Darauf, dass nur Japaner Japan verstehen und retten können. Anfang 2009 befördern sie Akio Toyoda, den mit 52 Jahren für japanische Verhältnisse eigentlich zu jungen Gründerenkel, an die Konzernspitze. Ein kleiner, schüchterner, Motorrennen fahrender Mann, der mit echten Krisen keinerlei Erfahrung hat.

In Amerika wird am 28. August 2009, nach dem tödlichen Unfall, ein Räderwerk in Gang gesetzt, in dem Politik, Konzerne, Juristen und Medien ineinandergreifen.

Verkehrsminister wird zum Chefantreiber der Hetzjagd

Verkehrsminister Ray LaHood wird zum Chefantreiber der Hetzjagd auf Toyota. "Ich glaube, sie waren taub, wenn es um die Sicherheit ging", sagt er in einer Anhörung vor dem US-Kongress und vor laufenden Kameras. Er rät den von den Rückrufen betroffenen Kunden, ihre Autos stehen zu lassen - eine Aussage, die er später relativieren muss.

Die Medien spielen mit, sie geben der Affäre einen Namen: "Pedal-Gate". "Was Toyota getan hat, war aus meiner Sicht kriminell, absolut abscheulich", wettert der renommierte US-Anwalt Mark Lanier im Fernsehen. Die Japaner hätten Leben riskiert, um noch mehr Geld zu verdienen, lautet der generelle Vorwurf. Eine Klagewelle rollt auf den Konzern zu. Trittbrettfahrer springen auf.

Wurde der Rückruf letztlich gar zu einem Instrument, um den unliebsamen Konkurrenten zu schwächen? Kamen die Unfälle mit Toyota-Autos den amerikanischen Politikern zumindest recht, um verlorengegangenes Terrain der heimischen Industrie zurückzuerobern?

Einer der wenigen Zweifler im eigenen Land, der US-Politikwissenschaftler Kevin Hassett vom American Enterprise Institute in Washington, schreibt schon früh - im März 2010 - in einer japanischen Zeitung: "Machen Sie eine Google-Recherche zu ,Toyota-Rückruf?, und zählen Sie die Werbung für Rechtsberatung." Und: "Die US-Regierung hält 61 Prozent an General Motors und zehn Prozent an Chrysler."

Es gibt Stimmen in Japan, die das "Toyota-Bashing" als Revanche-Foul sehen. Japan hatte kurz zuvor die amerikanischen Hersteller verärgert, weil es den staatlichen Förderrahmen für Käufer umweltfreundlicher Pkws so eng setzte, dass keine ausländischen Autos in den Genuss von Kaufanreizen gelangten.

Manch ein Experte sieht hinter vorgehaltener Hand sogar ein Ablenkungsmanöver der amerikanischen Regierung. "Das Ganze war auch dazu da, den Fokus der Öffentlichkeit von den Problemen der Obama-Administration abzulenken", sagt der Auto-Analyst einer japanischen Bank.

Warum aber wehrte sich Toyota nicht - zumal Audi, 24 Jahre zuvor, einer ähnlichen Hetzjagd ausgesetzt war?

Medien machen Audi zum Schrecken der Straße

Auch Audi musste sich 1986 in den USA Vorwürfe gefallen lassen, der Audi 5000, baugleich mit dem Audi 100, würde unkontrolliert beschleunigen. "Unintended acceleration" - der auch sprachlich exakt gleiche Vorwurf trifft Toyota 24 Jahre später. Audi führt Tests durch, US-Politiker fordern die Verbannung des Wagens, die Medien machen Audi zum Schrecken der Straße. Tatsächlich bleibt die Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA am Ende den Beweis schuldig, dass Fehler des Wagens vorgelegen haben.

Der deutsche Autobauer, der Fahrfehler vermutet, erholt sich lange nicht mehr von der Aktion. Die Absätze in Amerika brechen teilweise um mehr als 80 Prozent ein, heute liegt Audi mit seinen Verkaufszahlen auf dem US-Markt noch immer abgeschlagen hinter Mercedes und BMW.

Die Antwort, warum Toyota sich Ähnliches gefallen lässt, liegt in der Kultur Japans, in der Seele des Inselstaates, der seine Waren seit Jahrhunderten in alle Welt verkauft. Doch innerlich sind die Japaner nicht bereit, sich dieser Außen-Welt zu öffnen: Japan ist eine unglobalisierte Insel, und Toyota ist eine kleine, abgeschiedene Burg darauf.

Das Krisenmanagement versagte zwangsläufig

Pokayoke ist Teil der Philosophie in dieser Burg - und es mag bis heute bei der Produktion sehr gut funktionieren. Im kommunikativen Krisenmanagement aber versagte es zwangsläufig, weil die Strukturen dieses im Inneren völlig unglobalisierten Konzerns ein schnelles Reagieren unmöglich machten.

Unfähig zu Gegenwehr, ängstlich, völlig unerprobt mit amerikanischem Dominanzstreben, trat Konzernchef Akio Toyoda viel zu spät vor die Presse, offenbar schlecht beraten von seinen älteren Managern. Die sollen ihm, so ist zu hören, geraten haben, die Affäre japanisch zu lösen - jemanden vorschicken und den Sturm am Chef vorüberziehen lassen.

In der Öffentlichkeit entstand dadurch jedoch schnell der Eindruck, dass der Automobilkonzern etwas zu verbergen hatte. Und Experten rund um den Globus glaubten bereits genau zu wissen, was: Toyota arbeitet schlampig.

Dabei kommen Fehler bei Autos auf der ganzen Welt vor. So musste GM zum Beispiel in den USA in diesem Jahr 1,5 Millionen Wagen wegen Problemen mit dem Heizsystem des Scheibenwischwassers in die Werkstätten beordern. Nissan musste dort vor wenigen Tagen auf Probleme mit dem Austritt von Sprit reagieren. In Deutschland wurden Golf und Opel-Modelle gestoppt, in Japan meldete Honda wegen defekter Airbags einen Rückruf an .

Der Imageschaden bleibt

Japans Verkehrsminister Seiji Maehara verwies auf dem Höhepunkt der Rückrufaffäre darauf, dass es in Japan zwischen 2007 und 2009 insgesamt 134 Reklamationen wegen ungewöhnlichen Beschleunigens gegeben habe, Toyota sei aber nur 38-mal, also in 28,3 Prozent der Fälle, betroffen gewesen. "Dieses Verhältnis", so Maeharas Schlussfolgerung, "entspricht dem Marktverhältnis der Autohersteller."

Doch all das passte nicht ins Bild vom japanischen Autobauer, der seine lebensgefährlichen Wagen auf amerikanische Bürger loslässt. Und so konnte Ray LaHood noch vergangenen Monat in Toyota-City bei einer gemeinsamen Pressekonferenz einen denkwürdig arroganten Auftritt hinlegen, auf den drei Köpfe kleineren Akio Toyoda herabschauen und martialisch verkünden: "Wir machen keine Kompromisse, wir werden nicht schlafen, wir werden 24 Stunden am Tag arbeiten, bis wir sichergestellt haben, dass alle Toyota-Autos in den USA sicher sind."

Heute ist Ray LaHood deutlich stiller geworden, wie überhaupt der Fall Toyota in den USA kein großes Gesprächsthema mehr ist. Einzig US-Kongressabgeordnete, die gerade ein Gesetz zur Verschärfung der Rückruf-Richtlinien erarbeiten, das auch die heimischen Autobauer treffen würde, sind nervös geworden und fordern nun Aufklärung von LaHoods Behörde.

Der Imageschaden aber bleibt, und die Produkthaftungsklagen stehen noch aus. Sie können nicht nur teuer sein, sondern auch langwierig. Wohl auch deshalb wehrte sich Toyota nicht offensiv gegen die Vorwürfe, sondern legte lieber zwei Milliarden Euro an Rücklagen für Prozesskosten an und zahlte zudem eine Millionen-Strafe an die NHTSA - in der Hoffnung, einer jahrelangen Rufmord-Kampagne zu entgehen.

Anfragen, ob der Konzern daran denke, jetzt seinerseits die Aufsichtsbehörde zu verklagen, werden von der Presseabteilung mit inhaltsleeren Formeln beantwortet. Toyota hält still und hofft, dass der Sturm bald vorüberzieht.

Vor kurzem strahlte Toyoda in die Kameras, als er den jüngsten Deal mit dem US-Elektroauto-Hersteller Tesla unterzeichnete, der Toyota noch ein Stück weiter wegbringen könnte im Kampf um das Öko-Auto von morgen.

Pokayoke?

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