Deutsche Bahn Die Schonfrist für den Bahnchef ist vorbei

Das S-Bahn-Chaos in Berlin und teure Großprojekte machen der Deutschen Bahn zu schaffen. Geheime interne Zahlen zeigen, welche Zeitbomben sein Vorgänger Hartmut Mehdorn dem neuen Chef Rüdiger Grube noch hinterlassen hat.

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Bahn-Chef Rüdiger Grube: Der Quelle: AP

Die Lippen zusammengepresst, die Hände fest am Rednerpult, kein Lächeln, keine Scherze. Dies ist kein Wohlfühl-Termin für den Mann neben Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit. „Ich möchte mich bei den Kunden, der Stadt und dem Land entschuldigen“, sagt Rüdiger Grube. Es ist Tag 15 der Berliner S-Bahn-Chaostage, als der neue Bahn-Chef vergangenen Montag den Hauptstadtjournalisten Rede und Antwort steht. Viele Zuhörer leiden persönlich an den zermürbenden Zuständen: Züge fallen aus, oft gibt es nur Stehplätze, auf Bahnsteigen knubbeln sich Menschen und Fahrräder, stolpern Pendler und Touristen über Koffer und Kinderwagen.

Weil die von Grube inzwischen entlassene S-Bahn-Führung Kontrollen an Zugrädern verschleppt hatte, wurden jetzt viele Fahrzeuge vorübergehend aus dem Verkehr gezogen. Wann das Chaos ende, wisse er leider nicht, sagt Grube, beteuert aber: „Wir arbeiten hart daran.“ Die Zeit drängt. Am 8. August ist Bundesliga-Saisonauftakt für Hertha BSC, eine Woche später beginnt die Leichtathletik-WM – beides Termine, zu denen Berlin viele Besucher erwartet.

Grube ist in der Realität angekommen

Mit seinem ersten unangenehmen Auftritt nach fast 80 Tagen im Amt ist Grube in der Realität der Eisenbahnwelt angekommen. Er weiß, dass die Bahn in der Metropole ein desaströses Bild abgibt, und will „nichts versprechen, was ich nicht halten kann“, wie er ein wenig kleinlaut sagt.

Das ist neu. Denn in den Wochen zuvor reiste er durch die Republik und versprach allen alles. Er hätschelte die durch den Datenskandal erregten Gewerkschaften mit der Aussicht auf Beschäftigungssicherung. Regierungsvertreter hielt er bei Laune, indem er ihnen die Nachholung des 2008 abgesagten Börsengangs versprach. Und seinen Kunden machte er Hoffnung mit der Zusage, die Bahn werde pünktlicher, sympathischer und freundlicher. Doch Grubes Roadshow der Kuscheleien findet in der Hauptstadt, wo die Deutsche Bahn auch ihre Zentrale hat, ein jähes Ende: Der Schmusekurs ist vorbei.

Die Schonfrist für den Bahnchef ist vorbei

Die Bahn hat Probleme – viel mehr, als es Grube lieb sein kann. Die Zeitbomben, die sein Vorgänger Hartmut Mehdorn hinterlassen hat, werden eine nach der anderen in den kommenden Monaten und Jahren hochgehen. Das zeigen die geheimen Zahlen der internen Mittelfristplanung, die die Bahn streng unter Verschluss hält – und die der WirtschaftsWoche vorliegen. Nur Vorstände und Aufsichtsräte haben Einblick.

Jeder, der die Zahlen kennt, weiß, was auf Grube zukommt: Irrwitzige Großprojekte bei Bahnhöfen und Schienennetz belasten die Konzernbilanz noch jahrelang. Qualitätsprobleme bei Regional- und Schnellzügen verschlechtern die Chancen im Wettbewerb. Und der Investitionsstau der vergangenen Jahre verhinderte die Runderneuerung des Schienennetzes. Zudem trifft die Krise den Konzern im Güterverkehr viel stärker als die Wettbewerber.

Die Schonfrist für Grube endet damit schneller als erwartet. Er muss sich sofort in die Niederungen des operativen Geschäfts begeben. Bislang reichte es aus, sich durch die Republik zu lächeln, zu nicken und Verbesserungen zu versprechen. Doch nun muss er den Konzern von Grund auf neu auf Qualität und Verlässlichkeit ausrichten. Mehdorn hinterlässt ihm eine schwere Hypothek: einen Konzern, der jahrelang auf Sparflamme fuhr, um die Vorgaben für den 2009 geplanten Börsengang zu erfüllen und sich mit schönen Zahlen Großinvestoren als lukratives Anlageziel zu präsentieren.

Geheime Planzahlen - große Risiken (zur Vollansicht bitte auf die Grafik klicken)

Die Misere zeigt sich nirgendwo stärker als beim öffentlichen Personennahverkehr. Zwar war die S-Bahn Berlin wirtschaftlich zunächst ein Erfolg: Das Tochterunternehmen überwies der Konzernmutter 2008 etwa 56 Millionen Euro Gewinn vor Steuern. Doch Kritiker bemängeln schon seit Langem, dass die engen Sparvorgaben zulasten der Qualität gingen. Indizien dafür gibt es reichlich.

So hat die Bahn in Berlin schon 2005 im Rahmen eines Sparprogramms die Werkstattstunden für S-Bahnen der betroffenen Baureihe 481 um 30 Prozent verringert und die Wartungsintervalle verlängert. Außerdem hat sie seit 2005 rund 900 Stellen abgebaut. Die Auflagen des Eisenbahnbundesamtes, die Züge seit einem Radbruch im Mai dieses Jahres wöchentlich zu kontrollieren, ignorierte das Management. Das S-Bahn-Chaos begann.

Mehdorns Vorgaben erweisen sich für Grube als tote Gleise. Der Ex-Bahn-Chef drängte auf glanzvolle Ergebnisse der Tochtergesellschaften Stadtverkehr und Regio — exakt getimt auf den geplanten Börsengang. Allein DB Regio erwirtschaftete 2008 einen Gewinn in Höhe von 780 Millionen Euro. In den kommenden Jahren jedoch wird das Ergebnis wieder nach unten gehen. 2013, so die interne Prognose, fahren Regionalexpresszüge und S-Bahnen nur noch 550 Millionen Euro ein — ein Minus von fast einem Drittel.

Verbünde wenden sich an Konkurrenz

Allein die Stadt Berlin überweist der Bahn wegen der ausgefallenen Züge nun 25 Millionen Euro weniger. Bis zu 25 Millionen Euro zusätzlich kostet eine Aktion zur Besänftigung der Berliner S-Bahn-Kunden: Sie dürfen im Dezember kostenlos fahren.

Die Beziehungen der DB Regio zu den kommunalen und städtischen Verkehrsunternehmen wie den Verkehrsverbünden Berlin-Brandenburg (VBB) und Rhein-Ruhr (VRR) sind an einem Tiefpunkt angelangt. Die Verbünde bestellen bei den Bahngesellschaften ihren öffentlichen Nahverkehr und bekommen dafür pro Jahr rund sieben Milliarden Euro vom Bund überwiesen. Bisher für die Bahn ein lukratives Geschäft: Die Rendite von DB Regio war zweistellig, die Qualität dagegen mangelhaft, wie zwei separate Studien von VRR und VBB belegen. Der VRR verklagte die Bahn denn auch auf Rückzahlungen, inzwischen gab es einen Vergleich.

Nun schlagen die Verbünde zurück. Seit private Wettbewerber wie die französischen Verkehrskonzerne Veolia und Keolis, die britische Arriva oder die Tochter der Hamburger Hochbahnen Benex bei den Ausschreibungen mitbieten, geben die Besteller den Zuschlag gerne an die Konkurrenz oder drücken mit deren Angeboten zumindest die Preise für die DB-Züge.

Affront für Gewerkschaften

Die Bahn strebt zwar mit dem Programm „Zukunftsfähigkeit Regio“ an, „die Besteller durch eine noch intensivere Zusammenarbeit und spürbare Qualitätsverbesserungen zu überzeugen“, heißt es in dem internen Papier. Sie plant jedoch selbst mit einem sinkenden Marktanteil und geht dabei noch optimistisch von einer „rund 70- prozentigen durchschnittlichen Gewinnquote in Ausschreibungsverfahren und Direktvergaben“ von 2009 bis 2013 aus. Das Ziel scheint schwer erreichbar: 2008 gingen nur 30 Prozent der neu ausgeschriebenen Strecken an die DB.

Um die Chancen zu erhöhen, werde nun das Personalkostenniveau „adressiert“. Mit anderen Worten: Die Bahn wird bei den Ausschreibungen immer öfter mit eigenen Billigtöchtern antreten. So konnte sie die Regionalexpresslinie Aachen–Siegen nur verteidigen, weil sie mit der nicht tarifgebundenen Heidekrautbahn ins Rennen ging. Nun ist in der Mittelfristplanung schwarz auf weiß verbrieft, dass sie diese Praxis ausweiten will — zulasten der Lokführer und Schaffner der Deutschen Bahn.

Das ist ein Affront für die Gewerkschaften. Bislang erntete Grube Lob von den Arbeitnehmervertretern, insbesondere durch sein konsequentes Großreinemachen nach der Affäre um die Ausspähung der 173.000 Bahn-Mitarbeiter. Der Neue ließ schnell Köpfe rollen. Die Vorstände Margret Sucka-le (Personal), Norbert Bensel (Logistik) und Otto Wiesheu (Politik) mussten aufs Abstellgleis, weil sie laut Grube zu eng mit den Spitzelmethoden einiger Führungskräfte wie Jens Puls (Sicherheit) und Josef Bähr (Revision) verbunden waren, die sofort gehen mussten. Zudem schuf er ein Vorstandsressort für Regelüberwachung, neudeutsch Compliance.

DB-Zentrale Berlin: Quelle: AP

Grube punktet auch durch seine einnehmende Art. In Gesprächen wirkt er aufgeschlossen und interessiert, fast schon kumpelhaft, spricht offen über sich und seine Ideen. Bei seinen engsten Mitarbeitern gilt er als Mannschaftsspieler, der zuhört und schnell entscheidet. Nicht ohne sich auf Fakten zu stützen: Grube ist ein Zahlenfreak, der sich bis tief in die Nacht im Büro im 25. Stock des Bahn-Towers in Berlin in die Materie hineinfuchst: „Manchmal frage ich mich abends, ob ich tagsüber überhaupt aus dem Fenster geschaut habe.“

Die Sympathien der obersten Bahn--Gewerkschafter Klaus-Dieter Hommel (GDBA) und Alexander Kirchner (Transnet) eroberte Grube gleich beim ersten Treffen in Berlin, als er sich entschuldigte, um abends den letzten Flieger nach Stuttgart zu seiner Familie zu bekommen. Journalisten hatten Grubes Töchtern aufgelauert, nachdem seine Personalie als Mehdorn-Nachfolger erstmals die Runde machte. Da durfte der Papa abends nicht fehlen. Das kam gut an bei Hommel und Kirchner.

Börsengang der Bahn ist vom Tisch

Doch die Nähe zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern hat eine geringe Halbwertszeit bei der Eisenbahn, besonders wenn es um Lohnzugeständnisse geht. Da sei mit ihm nichts zu machen, sagte Hommel. Auch beim Thema Börsengang verläuft eine klare Front. Bisher hält Grube an den Privatisierungszielen fest. Angesichts der Krise ergebe der Gang an die Börse zurzeit zwar „keinen Sinn“, doch wenn es 2010 oder 2011 wieder bergauf gehe, „sieht das anders aus“, sagte Grube noch Anfang Juni. Kirchner von Transnet kontert: „Ich hoffe, er hat sich da versprochen.“

So scheint es. Bei seinem Auftritt in Berlin vergangene Woche nickte der Bahn-Chef zu Wowereits Worten, Grube habe ihm versichert, dass der gescheiterte Börsengang auf Jahre hinaus kein Thema sei. Aus der Mittelfristprognose geht klar hervor, dass die Teilprivatisierung nicht kommen wird. Die Verzinsung des eingesetzten Kapitals (ROCE) — eine interne Kennzahl, die vor allem Investoren interessiert und die Mehdorn zum Mantra des Börsengangs ausrief — wird auch in vier Jahren nicht das einst für die Privatisierung definierte Ziel von zehn Prozent erreichen. So steht es in dem geheimen Dokument. Derzeit liegt der Wert bei 6,2 Prozent. Der Börsengang ist also vom Tisch.

Dramatischer Einbruch bei den Aufträgen

Dazu wird auch die Krise beitragen, die den Logistikkonzern nicht nur kurzfristig, sondern über Jahre hinaus zurückwirft. In der internen Prognose, die im Mai dieses Jahres an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst wurde, geht die Bahn davon aus, bis 2013 pro Jahr rund zwei Milliarden Euro weniger Umsatz zu machen.

Grube stellte zwar jüngst Maßnahmen zur Ergebnissicherung vor. Das Milliarden-Sparprogramm React09 sieht vor, das Insourcing, also das Zurückholen ausgelagerter Aufgaben, zu verstärken. Statt Dienstleistungen einzukaufen, sollen eigene Mitarbeiter ran, die teilweise in Kurzarbeit stecken. Stellenabbau gibt es zunächst bei den Logistiktöchtern von DB Schenker im Ausland. Sparziel: 900 Millionen Euro pro Jahr.

Ob das reicht, ist fraglich. Die Rezession trifft die Schienengütersparte mit voller Wucht — und heftiger als die Wettbewerber. Die Bahn transportiert über die Gleise vor allem Autos und Stahl. Wegen der fallenden Nachfrage sind die Aufträge aus diesen Branchen dramatisch eingebrochen. So sank die transportierte Menge im ersten Quartal dieses Jahres bei DB Schenker Rail um fast 26 Prozent. Private Wettbewerber mussten ihre Fahrleistung um lediglich 13 Prozent kappen. Intern rechnet der Konzern daher 2009 mit einem „Rückgang des Marktanteils“, heißt es in der Mittelfristprognose.

Die Ziele der Bahn (zur Vollansicht bitte auf die Grafik klicken)

So geht der Transport von Produkten im Montanbereich — ein Schwerpunkt der Schienengüterstrategie der DB — 2009 um fast ein Fünftel auf 37 Millionen Tonnen zurück. Selbst bis 2014 werde das Volumen allenfalls an das Niveau von 2008 herankommen, es aber nicht übertreffen. Außerdem rechnet der Vorstand mit „sinkenden Preisen wegen fortschreitender Liberalisierung“. Gewinne haben die Bahn-Lenker hier bis 2011 ohnehin abgeschrieben.

Es könnte noch schlimmer kommen, denn für den gesamten Schienengütermarkt sind die „Effekte aus einer (...) Verschärfung des Wettbewerbs mit ehemaligen Staatsbahnen (...) nicht in der Planung enthalten“. Das ist erstaunlich: Zwar ist die Deutsche Bahn mit weitem Abstand Marktführer. So sei sie beim Aufbau eines europaweiten Schienentransportnetzes „zwei Schritte weiter“ als andere, lobt etwa der Chef der Schweizer Güterbahnen SBB Cargo, Nicolas Perrin. Doch insbesondere die französische Bahn SNCF hat den Güterverkehr inzwischen als Kerngeschäft definiert und greift auch in Deutschland an.

Glück für Grube: Mehdorn hat ihm nicht nur Probleme hinterlassen, sondern wirtschaftlich betriebene Schienennetze und Bahnhöfe – das wohl lukrativste Vermächtnis des Ex-Chefs. Die bröckelnden Geschäfte im Logistikbereich und im öffentlichen Personennahverkehr kann die Bahn dadurch weitgehend ausgleichen. Weil beim Schienennetz kein Wettbewerb herrscht, fährt die Bahn Monopolgewinne ein. Volkswirtschaftlich ist das schlecht, betriebswirtschaftlich eine schöne Geldquelle. So erhöht die DB Netz die Trassen- und Bahnhofspreise bis 2013 jährlich um je zwei Prozent.

Großprojekte verschlingen Geld

Die Gewinne sind allerdings kein Selbstläufer. Die Bundesnetzagentur, die die Preise der Netztochter überwachen soll, lässt die DB-Manager zittern. Es gebe im Bereich der Entgeltregulierung „erhebliche Risiken für den DB-Konzern“, heißt es in der internen Planung. Es sei möglich, dass die angestrebte Rendite der Bahnhöfe und des Fahrweges von der Netzagentur als „nicht angemessen“ bewertet werde und dadurch „insbesondere für das Trassenpreissystem (...) ein Ergebnisrisiko besteht“.

Damit könnten Erlöse schwinden, die Grube für Investitionen dringend braucht. Denn zu seinem Erbe zählen Großprojekte, die den Konzern über Jahre belasten. Soll etwa die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Nürnberg nach Erfurt wie gewünscht 2016 in Betrieb gehen, wird die Bahn selbst ohne Baukostensteigerung dafür rund 600 Millionen Euro im Jahr ausgeben müssen.

Die Tempo-Routen sind eine Fehlinvestition. Die Schnellstrecke von Köln nach Frankfurt beispielsweise verschlang 6,5 Milliarden Euro — der ICE kann hier zwar teilweise Tempo 300 fahren, muss im Stadtgebiet aber auf Bummelzugniveau drosseln. Selbst in Vorstandskreisen heißt es, diese Strecke „braucht kein Mensch“. Eine schlichtere Variante, ausgelegt auf bis zu 230 Kilometer pro Stunde, hätte fast die gleiche Fahrzeit ermöglicht. Sie wäre aber um die Hälfte billiger gewesen. 

Probleme bei Fernzügen durch Materialverschleiß

Als weiteres verhängnisvolles Megaprojekt droht Stuttgart 21. Grube muss zusehen, wie der Bau der unterirdischen Durchgangsstation, die den heutigen Kopfbahnhof ersetzt, den Konzern in die roten Zahlen treibt. Das Geld fehlt dann im alternden Schienennetz. Die Bahn zahlt nämlich einen Großteil der Verpflichtungen für Stuttgart 21 aus dem Topf von 2,5 Milliarden Euro, die der Bund jedes Jahr für Investitionen in das bestehende Netz an die Deutsche Bahn überweist.

Die Bahn habe in den vergangenen Jahren „zu wenig Geld in das bestehende Schienennetz investiert“, sagt Markus Hecht, Leiter des Instituts für Straßen- und Schienenverkehr an der Technischen Universität Berlin. So sind die Gleise, die für mehr als 159 Kilometer pro Stunde ausgelegten sind, inzwischen im Durchschnitt 18,5 Jahre alt, ein „hoher Wert“, sagt Hecht.

Kritiker halten das hohe Alter der Gleise für eine mögliche Ursache der Probleme an den Fernzügen. Ein Achsbruch hatte 2008 einen ICE 3 in Köln aus den Schienen gehoben. Später fanden Techniker einen Riss bei einem ICE-T-Neigetechnikzug. „Die Probleme mit der Materialermüdung durch den Rollkontakt haben die Bahnen noch nicht im Griff“, sagt Hecht.

Kleinste Unebenheiten auf den Gleisen schädigen die Stahlräder zusätzlich. „Die Fahrzeuge werden heute zudem viel länger und stärker beansprucht, als in den Entwicklungsphasen vorhersehbar war.“ Fragen zur Dauerfestigkeit der Räder und Achsen seien bislang unbefriedigend gelöst. Solange das so ist, werden bei der ICE-Flotte die Achsen alle 30.000 statt wie bisher alle 300.000 Kilometer unter die Lupe genommen. Das kostete bereits rund 250 Millionen Euro.

Die Nachwirkungen des ICE-Unglücks werden die Kunden noch lange spüren. Die Bahn erwägt derzeit den Austausch der Achsen der Neigetechnikzüge ICE-T. „Durch die Beschaffung und den sukzessiven Einbau neuer Radsatzwellen wird dann planerisch ab 2013 das Angebot wieder auf das Niveau vor dem Wellenbruch angehoben werden können.“ Soll heißen: Auf einigen Strecken könnten weiter verkürzte Züge oder Intercitys statt ICEs eingesetzt werden.

Wenn Grube in der Öffentlichkeit auf das leidige Thema eingeht, wird er laut. Dann trommelt er mit seinen Händen auf dem Rednerpult und wettert mit lautem Bass gegen die Industrie. Die Hersteller müssten ihrer Verantwortung nachkommen und Züge liefern, die halten. Es ist eine Mischung aus ehrlichem Groll und PR-Botschaft. Grube wird den Konflikt mit der Industrie ausfechten müssen, die bisher jede Verantwortung für das Desaster ablehnt.

Neue Ertragsquellen sollen Defizite ausgleichen

Dabei könnte Grube seinen größten Trumpf ausspielen: sein Verhandlungsgeschick. Der ehemalige Daimler-Manager gilt als hervorragender Taktierer. Er zog die Strippen, als Daimler und Chrysler die Pläne zur Welt AG schmiedeten, und war auch maßgeblich daran beteiligt, die Liaison wieder zu lösen. Als Strategievorstand bei Daimler und Verwaltungsratsmitglied beim Luftfahrtkonzern EADS sammelte er Erfahrungen bei internationalen Deals.

Um die von Mehdorn hinterlassenen Verlustbringer auszugleichen, muss der Ingenieur für Fahrzeugbau und Flugzeugtechnik jetzt neue Ertragsquellen auftun. Den nächsten Wurf gibt er möglicherweise schon diese Woche bekannt. Offenbar plant die Deutsche Bahn beim Schienengüterverkehr eine enge Kooperation mit der russischen Staatsbahn RZD. Grube will die Deutsche Bahn zum internationalen Mobilitätskonzern ausbauen.

Das gilt auch für DB Regio. So setzt der Konzern „weiterhin auf das strategische Ziel, sich zum weltweit führenden Nahverkehrsunternehmen zu entwickeln“, heißt es in der Mittelfristprognose. Derzeit bewerbe sich das Unternehmen um einen Auftrag in Stockholm und prüft „aktuell weitere Markteintrittsmöglichkeiten in verschiedenen Ländern“. So verfolge die Bahn auch „grenzüberschreitende Projekte in Polen“.

Protektionismus erschwert internationale Projekte

Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Grube bei der Internationalisierung das Tempo drosselt. „Ich halte es für fragwürdig, sich an ausländischen Ausschreibungen im Schienenpersonennahverkehr zu beteiligen“, sagt Transnet-Chef Kirchner. Die Bahn dürfe nicht auf Konkurrenz, sondern müsse vor allem auf Kooperationen auf der Schiene setzen und das Netzwerk in Deutschland stärken.

Zudem kehrt im wichtigsten Verkehrsmarkt neben Deutschland derzeit der Protektionismus ein. Frankreich macht die Grenzen dicht, obwohl die Eisenbahnmärkte europaweit von 2010 an liberalisiert sein sollen. Staatspräsident Nicolas Sarkozy verschob die Öffnung eigenmächtig nach hinten, angeblich wegen der Krise. Grube setzt nun auf seine Kontakte und erzählt, er sei schon bei Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Bundeskanzlerin Angela Merkel vorstellig geworden, um Druck auf den Nachbarn zu erbitten.

Frankreich wäre ein lukrativer Markt für die Bahn — auch im Personenverkehr. Schon heute kooperiert sie mit der französischen SNCF auf der Strecke Stuttgart–Paris und rüstet sich mit 15 neuen ICE-Zügen für den Grenzverkehr zwischen Deutschland, Frankreich und den Beneluxländern.

Doch solange die Franzosen dichtmachen, liegt der Fokus auf Deutschland. Aushängeschild bleibt der Fernverkehr. Derzeit läuft eine Ausschreibung über den Bau von 300 Intercity- und ICE-Zügen, um die derzeitige Flotte nach und nach zu ersetzen. Auch ohne die neuen Züge soll der Fernverkehr 2013 einen Gewinn in Höhe von knapp 600 Millionen Euro erreichen.

Kritiker halten diese Zahlen für utopisch. Die Bahn erwartet erstmalig 2011 Wettbewerb auf der Fernstrecke, so steht es im Bericht. Strecken wie Köln–Frankfurt oder Berlin–Hamburg bieten sich potenziellen DB-Konkurrenten als lukrative Ziele. Zudem ist die Auslastung der Intercity- und ICE-Züge mau: Mehr als jeder zweite Sitz bleibt derzeit frei.

Höhere Auslastung durch Kooperationen

Die Bahn will die Auslastung bis 2013 von 44 auf 49 Prozent nach oben schrauben, insbesondere durch Marketingkooperationen mit Firmen wie Lidl und Tchibo. Doch selbst das wird schwierig. Der Komfort im Zug verbessert sich nur langsam und oft nur gegen Gebühr wie beim mobilen Internet-Zugang. Das wird Fahrgäste nicht in Scharen in die Züge locken. Mehdorn hat es versäumt, das Aushängeschild ICE zudem stärker als geeignete Alternative zum innerdeutschen Flugverkehr zu positionieren.

Von dem Mann, der ihm all die Probleme hinterlassen hat, lässt sich Grube in Strategiefragen noch beraten. Er telefoniere zwei- bis dreimal die Woche mit Mehdorn, sagt Grube. So war es geplant – schon lange: Grube weiß bereits seit Mai 2007, dass er Mehdorn beerben sollte, erzählt er in kleinem Kreis. Der langjährige Bahn-Chef erkor ihn zum Nachfolger, erwirkte früh das Okay der Kanzlerin. Geplant war eine Doppelspitze für eine mehrmonatige Übergangszeit. Doch die Datenaffäre beschleunigte das Umsteigen – allen sonstigen Verspätungen zum Trotz kam der Wechsel früher als im Fahrplan vorgesehen.

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